Stadt unter dem Eis Thomas Greanias Während einer streng geheimen Militäroperation in der Antarktis entdecken die Amerikaner antike Ruinen unter dem Eis. Ein amerikanischer Archäologe und eine junge Wissenschaftlerin aus dem Vatikan wollen das Rätsel um die versunkene Stadt unter dem Eis lösen. Sie suchen die Ursprünge der menschlichen Zivilisation und kämpfen gegen einen unsichtbaren, lebensbedrohlichen Feind. Dr. Conrad Yeats hat nur ein Ziel: Er will das Mysterium um das sagenumwobene Atlantis enthüllen. Sein Vater, vom dem er sich seit Jahren immer mehr entfernt hatte, und Serena Serghetti, eine Frau, die er einst geliebt und dann verloren hatte, sollen ihn bei seiner Mission unterstützen. Doch unter dem Eis liegt ein weiteres Geheimnis begraben: etwas, das die gesamte Menschheit bedroht. Die Originalausgabe RAISING ATLANTIS erschien 2005 bei Pocket Books, a division of Simon & Schuster, Inc. New York Für Laura »Nichts verharrt auf lange im gleichen Zustand. Was da festestes Land vorzeiten gewesen, das hab als Meer ich gesehn, gesehn, dass Land aus Wasser entstanden. Hoch in den Bergen ward ein alter Anker gefunden.« Pythagoras von Samos griechischer Philosoph (ca. 570-500 v. Chr.) »In einer Polarregion gibt es ein kontinuierliches Eisvorkommen, das nicht gleichmäßig über den Pol verteilt ist. An diesem ungleichmäßig verteilten Eisvorkommen setzt die Erdrotation an, und es entsteht ein Drehmoment, das auf die starre äußere Kruste der Erde übertragen wird. Das so erzeugte, an Kraft ständig zunehmende Drehmoment verursacht an einem bestimmten Punkt eine Erdkrustenverschiebung. Dieser Vorgang verschiebt die Polarregionen zum Äquator.« Albert Einstein Physiker (1879-1955) Vorwort zu Charles H. Hapgood,The Path of the Pole Teil Eins. Entdeckung Entdeckung minus 6 Minuten 1 Ost-Antarktis Terrance Drake, Lieutenant Commander der in der Antarktis stationierten U. S. Naval Support Force, ging hinter einer Schneewehe auf und ab und wartete darauf, dass der eisige Sturm endlich nachließ. Er musste dringend pinkeln. Aber das zu tun hätte einen Verstoß gegen internationales Recht bedeutet. Drake zitterte vor Kälte. Der eisige Polarwind peitschte wirbelnde Schneemassen über die kahle, verlassene Eiswüste, die sich ins Unendliche hinzuziehen schien. Pittoreske Schneewehen, Sastrugi genannt, ragten in die Dunkelheit empor. Die Silhouetten wirkten wie Krater einer bizarren Mondlandschaft. Die ›letzte Wildnis‹ der Erde war ein kaltes und unwirtliches Niemandsland, dachte er, eine Welt, die nie von Menschen bewohnt werden sollte. Um sich warm zu halten, ging Drake forsch auf und ab. Er spürte, wie der Druck in der Blase stieg. Der Antarktisvertrag beinhaltete strenge Umweltschutzvorgaben, die man mit dem Satz: ›Nichts darf in die Umwelt gelangen‹ zusammenfassen konnte. Auf das Eis zu pinkeln gehörte auch dazu. Er war von den Naturfreaks der National Science Foundation daraufhingewiesen worden, dass sich eine derartige Stickstoffeinbringung für tausende von Jahren auf die Umwelt auswirken konnte. Man erwartete deshalb von ihm, dass er in die Beutel urinierte, die bei seinen Essensrationen anfielen. Leider nahm er auf seine Erkundungsgänge nie etwas zu essen mit. Drake blickte über die Schulter auf mehrere schneebedeckte Fiberglashütten zurück, die sich in einiger Entfernung befanden. Offiziell bestand die Aufgabe des amerikanischen ›Forschungsteams‹ darin, die außergewöhnliche seismische Aktivität tief unter dem Packeis zu untersuchen. Drei Wochen zuvor hatten die Schwingungen eines solchen unterirdischen Bebens draußen vor der Küste der Ost-Antarktis einen Eisberg von der Größe Rhode Islands abgespalten. Wenn er sich bei der momentanen Meeresströmung von drei Meilen pro Tag fortbewegte, würde er in zehn Jahren wärmeres Wasser erreichen und dort schmelzen. Zehn Jahre, dachte Drake. So weit fühlte er sich hier auch von allem entfernt. Alles Mögliche könnte passieren, aber niemand würde sein Rufen hören. Er verdrängte den Gedanken. Als sich Drake für die Antarktis verpflichtete, oben in Port Hueneme, Kalifornien, hatte ihm der alte, einarmige Zivilistenkoch, der im Offizierskasino jenen geheimnisvollen Fleischfraß auf die Teller klatschte, empfohlen, die Biografien von Leuten wie Ernest Shackleton, James Cook, John Franklin und Robert Falcon Scott zu lesen – allesamt Forscher, die zu Zeiten von Königin Victoria und König Edward für den Ruhm Großbritanniens zum Südpol gezogen waren. Der Koch sagte ihm, er solle seinen Job als einen Test für sein Durchhaltevermögen betrachten, als einen wahren Mannbarkeitsritus. Er sagte, eine Reise in die Antarktis sei wie eine Liebschaft – exotisch und berauschend –, und Drake werde sich dabei auf eine grundlegende, ja fast spirituelle Art verändern. Und gerade wenn ihn das feindliche Paradies verführt habe, werde er es wieder gegen seinen Willen verlassen müssen. Einen Scheiß würde er. Vom ersten Tag an konnte er es nicht erwarten, von diesem Eiswürfel wieder wegzukommen. Besonders, nachdem er bei seiner Ankunft von seinen Untergebenen erfahren hatte, dass der alte Mann in Port Hueneme seinen einen Arm ausgerechnet hier in der Antarktis verloren hatte. Er war ihm einfach abgefroren. In seiner Einheit waren alle auf den blöden Koch reingefallen. Jetzt war es zu spät umzukehren. Selbst wenn er gewollt hätte, konnte er nicht nach Port Hueneme zurück. Die Navy hatte ihr dortiges Antarktis-Trainingslager, kurz nachdem er in dieser frostigen Hölle angekommen war, aufgelöst. Was den einarmigen Koch betraf, so verprasste der jetzt wahrscheinlich seine Rente am Strand und pfiff Mädchen in Bikinis hinterher. Drake hingegen wachte inzwischen häufig mit stechenden Kopfschmerzen und trockenem Mund auf. Nacht für Nacht sog die wüstenähnliche Luft die Feuchtigkeit aus ihm heraus. Jeden Morgen wachte er wie nach einem wüsten Saufgelage mitsamt allen Nachwirkungen auf, allerdings ohne am Abend zuvor in den Genuss eines Rausches gekommen zu sein. Drake steckte die dick behandschuhte Hand in die Hosentasche und tastete nach dem inzwischen gefrorenen Hasenfuß, den seine Verlobte Loretta ihm geschenkt hatte. Bald würde er am Rückspiegel des roten Ford-Mustang-Kabrios baumeln, das er mithilfe seines Urlaubsgeldes für die Flitterwochen kaufen wollte. Wenn man hier unten war, häufte sich das Geld nur so. Es gab einfach nichts, wo man es verprassen konnte. Die Forschungsstation McMurdo, wichtigster Außenposten der USA in der Antarktis, war 1.500 Meilen entfernt und bot ihren 200 Winterbewohnern lediglich ein vollautomatisches Gerät zur Stimmenauszählung, ein Café und zwei Bars, und das alles bei einem Männer-Frauen-Verhältnis von zehn zu eins. Richtige Zivilisation gab es erst 2.500 Meilen weit entfernt in ›Cheech‹-Christchurch, Neuseeland. Das könnte genauso gut auf dem Mars sein. Mal ehrlich: Wer würde ihn schon in den Schnee pinkeln sehen? Drake blieb stehen. Der Sturm hatte sich gelegt. Im Augenblick waren die Fallwinde gänzlich zur Ruhe gekommen. Es herrschte eine Ehrfurcht gebietende Stille. Die Winde konnten allerdings ganz plötzlich wieder einsetzen, um dann mit ohrenbetäubenden 300 Stundenkilometern dahinzufegen. Die antarktischen thules oder ›Toolies‹, die inneren Schneewüsten, waren nun einmal unberechenbar. Das war jetzt die Gelegenheit. Drake konnte es nicht mehr länger zurückhalten. Er machte den Reißverschluss seines Polaranzugs auf und erleichterte sich. Die beißende Kälte schlug wie ein Elektroschock zu. Die Temperatur drohte in der Nacht auf knapp -90°C zu sinken, auf einen Punkt, an dem nacktes Fleisch in weniger als dreißig Sekunden gefror. Mit beschlagenem Atem zählte Drake leise von dreißig abwärts. Haargenau bei sieben machte er seine Hose wieder zu und schickte ein Stoßgebet gen Himmel. Die drei Gürtelsterne des Orions funkelten über die öde Eisfläche. Die ›Weisen aus dem Morgenland‹, wie er sie nannte, waren die einzigen Zeugen seiner verwerflichen Tat. Wirklich weise Männer, dachte er lächelnd. Plötzlich spürte er unter sich ein leichtes Knacken im Eis, das aber sofort wieder abebbte. Ein weiteres Beben. Höchste Zeit, die Werte abzulesen. Drake ging zu den weißen Kuppeln der Basis zurück. Die Stiefel knirschten im Schnee. Laut Vorschrift hätten die Hütten gelb, rot oder grün sein müssen, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Aber gerade das wollte Uncle Sam vermeiden. Jedenfalls solange der Antarktisvertrag sowohl Militärpersonal als auch militärische Ausrüstung vom Friedenskontinent verbannte – außer sie dienten ›Forschungszwecken‹. Drakes inoffizieller Befehl lautete, ein Team aus NASA-Wissenschaftlern tief ins Innere der Ost-Antarktis zu führen, die zwar aus der Luft, aber nie zu Boden kartografisch erfasst worden war. Sie sollten den Verlauf der Längengrade, insbesondere den des Oriongürtels, verfolgen. Nachdem sie im Epizentrum der jüngsten Beben angekommen waren und die Basis aufgebaut hatten, begann das NASA-Team sogleich mit der Echolotung und der Aufzeichnung seismischer Daten. Dann wurde gebohrt. Das ›Forschen‹ hatte irgendwie etwas mit der Topografie einer vorzeitlichen Landmasse etwa zwei Meilen unter dem Eis zu tun. Drake konnte sich nicht vorstellen, was die NASA da unten zu finden hoffte. General Yeats hatte dahingehend nichts verlauten lassen. Auch konnte er es sich nicht erklären, warum das Team Waffen benötigte und regelmäßig Patrouillen durchführte. Die einzige vorstellbare Bedrohung für die Mission war ein Team der United Nations Antarctica Commission (UNACOM) in der Wostok-Station, einem verlassenen russischen Stützpunkt, der vor ein paar Wochen plötzlich wieder in Betrieb genommen worden war. Aber die Wostok-Station war fast 400 Meilen entfernt, zehn Stunden auf dem Landweg. Warum die NASA sich so für die UNACOM interessieren sollte, war Drake genauso ein Rätsel wie all das, was unter dem Eis lag. Was sich da unten befand, musste mindestens 12.000 Jahre alt sein. Drake hatte irgendwo einmal gelesen, dass das Eis diese frostige Hölle schon seit so langer Zeit bedeckte. Jedenfalls musste es für die nationale Sicherheit der Vereinigten Staaten von großer Bedeutung sein, sonst hätte Washington dieses geheimnisvolle Vorgehen angesichts des internationalen Tamtams, das eine Entdeckung dieser illegalen Expedition nach sich zöge, niemals riskiert. Die Kommandozentrale war eine Kuppel aus vorgefertigtem Fiberglas, auf der sich mehrere Satellitenschüsseln und Antennen gen Himmel reckten. Als Drake zwischen den mehreren Dutzend Metallstangen, die um die Basis herum aufgestellt waren, darauf zuging, löste er laute Knackgeräusche aus. Die knochentrockene Luft der Antarktis machte aus einem Menschen einen mit Reibungselektrizität aufgeladenen Ball. Als Drake die Kommandozentrale betrat, hieß ihn die Wärme, die von den Hightechradiatoren produziert wurde, willkommen. Kaum hatte er die Thermotür hinter sich geschlossen, winkte ihn der Funkoffizier zu sich. Drake schüttelte den Schnee ab und stapfte zum Kontrollpult. Er entlud seine Hände an einem geerdeten Metallstreifen an den Pultkanten. Die Funken sprühten kurz auf, aber das war weniger schlimm, als wenn er versehentlich die Computer mit den ganzen Daten beeinträchtigt hätte. »Was gibt's?« »Unsere Funkwellenmessungen haben vielleicht was aufgezeichnet.« Der Funkoffizier tippte an seinen Kopfhörer. »Für ein natürliches Phänomen ist es zu gleichmäßig.« Drake runzelte die Stirn. »Schalten Sie die Lautsprecher ein.« Der Funkoffizier knipste einen Schalter an. Ein gleichmäßiges rhythmisches Grollen erfüllte daraufhin den Raum. Drake zog die Parkakapuze zurück, und buschiges, hochstehendes dunkles Haar kam zum Vorschein. Er berührte das Pult mit dem Finger und spitzte die Ohren; es war eindeutig ein mechanisches Geräusch. »Das sind die Jungs von der UNACOM«, sagte Drake. »Die sind auf dem Weg zu uns. Wahrscheinlich hören wir da ihre Hägglunds-Schneeraupen.« Drake stellte sich schon die bevorstehende Aufregung auf internationaler Ebene vor. Yeats würde völlig durchdrehen. »Wie weit weg, Lieutenant?« »Eine Meile unter uns, Sir«, antwortete der Funkoffizier verwirrt. »Unter uns?« Drake sah den Lieutenant an. Das Brummen wurde lauter. Eine der Deckenlampen fing an, hin und her zu schwingen. Das Rumpeln brachte den Boden zum Beben, als nahte ein Güterzug. »Das kommt nicht aus dem Lautsprecher«, brüllte Drake. »Lieutenant, nehmen Sie sofort Funkkontakt zu Washington auf!« »Bin schon dabei, Sir.« Der Lieutenant hantierte an den Schaltern herum. »Es antwortet niemand.« »Versuchen Sie es auf einer anderen Frequenz«, sagte Drake. »Nichts.« Von oben war ein Knacken zu hören. Drake konnte den herabfallenden Eisbrocken gerade noch ausweichen. »Und im UKW-Bereich?« Der Lieutenant schüttelte den Kopf. »Funkstille.« »Mist!« Drake eilte zum Regal mit den Waffen, nahm sich dort ein gegen die Kälte isoliertes Sturmgewehr M-16 heraus und bewegte sich damit in Richtung Tür. »Stellen Sie die Verbindung über Satellit her!« Drake öffnete die Luke und rannte nach draußen. Das Rumpeln war ohrenbetäubend. Keuchend lief er mit langen Schritten über das Eis zum Rand des Camps und blieb dort stehen. Drake hob das M-16 und suchte durch das Nachtsichtvisier den Horizont ab. Nichts, nur eine unheimliche grüne Aura, die vom wirbelnden Polarnebel erhellt wurde. Er schaute weiter und rechnete damit, gleich die Umrisse von Hägglunds-Transportern der UNACOM auszumachen. Es klang, als wären hunderte davon im Anmarsch. Verdammt noch mal. Womöglich kamen die Russen mit ihren tonnenschweren Charkowtschanka-Ungetümen. Dann bebte der Boden unter ihm. Er blickte nach unten, sah einen gezackten Schatten zwischen seinen Stiefeln hindurchschießen und machte einen Satz zurück. Der Riss im Eis wurde immer größer. Er schulterte sein M-16 und rannte los, um möglichst vor dem Riss zur Kommandozentrale zu kommen. Überall gellten Rufe. In Panik geratene Soldaten waren wegen der Erschütterung aus ihren Fiberglas-Iglus gestürzt. Plötzlich gingen die Rufe im Heulen des Windes unter. Wie in einem Windkanal raste die eisige Luft über sie hinweg. Der Fallwind warf Drake von den Beinen. Er rutschte aus und knallte aufs Eis. Mit dem Hinterkopf schlug er so heftig auf dem Boden auf, dass er sofort das Bewusstsein verlor. Als Drake wieder zu sich kam, hatte sich der Wind gelegt. Eine Weile lag er einfach nur da, dann hob er den vor Schmerz hämmernden Kopf und lugte unter der schneebedeckten Parkakapuze hervor. Die Kommandozentrale war verschwunden. Jetzt tat sich an deren Stelle ein schwarzer Abgrund auf, ein riesiger, ungefähr hundert Meter breiter, halbmondförmiger Spalt, der das gesamte Basislager verschluckt hatte. Er hoffte, dass die eisige Kälte ihn nur phantasieren ließ, jedenfalls hätte er schwören können, dass sich dieser Spalt fast eine Meile weit durch das Eis zog. Langsam schleppte er sich zu der sichelförmigen Schlucht. Er musste unbedingt herausfinden, was passiert war, wer überlebt hatte und wer medizinische Hilfe brauchte. In der unheimlichen Stille hörte er, wie sein Polaranzug über das Eis schabte. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals, als er den Rand des Abgrunds erreichte. Drake leuchtete mit der Taschenlampe in die Dunkelheit. Der Lichtkegel beschien die glasigen blauweißen Eiswände und arbeitete sich weiter nach unten vor. Mein Gott, dachte er, das Loch ist mindestens eine Meile tief. Dann sah er die Leichen und das, was von der Basis übrig geblieben war, ein paar hundert Meter tiefer auf einer Eisplatte. Wegen der weißen Thermoanzüge konnte man das Versorgungspersonal der Navy kaum von dem zerbrochenen Fiberglas und dem verbogenen Metall unterscheiden. Die Leichen der zivilen Wissenschaftler hingegen waren in ihren bunten Parkas gut auszumachen. Einer lag etwas abseits auf einer kleinen Eiskante. Sein Kopf, von einem Heiligenschein aus Blut umgeben, stand in einem unnatürlichen Winkel vom Rumpf ab. In Drake begann sich alles zu drehen, während er in Augenschein nahm, was von seinem ersten Kommando übrig geblieben war. Er musste herausfinden, ob noch jemand atmete. Er musste nach irgendwelchen Geräten suchen und Hilfe holen. Er musste etwas unternehmen. »Kann mich jemand hören?«, rief Drake. In der trockenen Luft überschlug sich seine Stimme. Er lauschte und glaubte ein Schlagen zu hören. Schließlich stellte es sich heraus, dass das Geräusch von seinem Funkoffizier herrührte, dessen erfrorene Glieder über der zerstörten Ausrüstung hingen und wie Glas klirrten. Er rief in den Wind. »Hört mich jemand?« Keine Antwort, nur ein leises Pfeifen über dem Abgrund. Drake sah näher hin und bemerkte irgendein Gebilde, das aus dem Eis hervorragte. Kein Fiberglas oder Metall oder sonst was aus dem Basiscamp. Es war etwas Festes, etwas, was zu leuchten schien. Was ist denn das?, dachte er. Eine entsetzliche Stille fiel über das Ödland. Schaudernd wurde ihm klar, dass er mutterseelenallein war. Verzweifelt suchte er in den Trümmern nach einem Funktelefon. Wenn er wenigstens eine Nachricht senden konnte, wenn er nur Washington in Kenntnis setzen könnte. Die Versicherung, von den Stationen McMurdo oder Amundsen-Scott würde Hilfe herbeieilen, würde ihm die Kraft geben, einen Unterschlupf zu errichten, um die Nacht zu überleben. Eine plötzliche Windbö heulte los. Drake spürte, wie der Boden unter ihm nachgab. Er schnappte nach Luft und tauchte mit dem Kopf voran in die Dunkelheit ein. Mit einem dumpfen Geräusch landete er auf dem Rücken und hörte etwas abscheulich knacken. Er konnte die Beine nicht mehr bewegen. Beim Versuch, um Hilfe zu rufen, hörte er nur seinen pfeifenden Atem. Über ihm standen in gleichgültiger Stille die drei Sterne des Orion am Himmel. Er bemerkte einen eigenartigen Geruch, beziehungsweise wie sich die Beschaffenheit der Luft verändert hatte. Drake spürte, wie sein Herz auf ungewohnte Art schlug, so als verlöre er die Gewalt über seinen Körper. Immerhin konnte er noch die Hände bewegen. Mit den Fingern tastete er über das Eis und griff nach der Taschenlampe. Sie war noch nicht verloschen. Er suchte die Dunkelheit ab und hielt den Strahl auf die durchsichtige Wand. Es dauerte einen Augenblick, bis er sich mit den Augen an das Licht gewöhnt hatte. Er konnte nicht genau erkennen, was es war. Es sah aus wie im Eis eingeschlossene Kohlestücke. Dann merkte er, dass es Augen waren: die Augen eines kleinen Mädchens, das ihn aus der Eiswand anstarrte. Einen Augenblick lang starrte er zurück. Hinten in seiner Kehle bildete sich ein leises Stöhnen, als er schließlich den Kopf abwandte. Er war von hunderten tadellos erhaltenen Menschen umgeben, Menschen, die in die Zeit eingefroren waren und die Arme nun verzweifelt in die Ewigkeit streckten. Drake öffnete den Mund, um zu schreien, aber da fing das Poltern wieder an, und eine glitzernde Lawine aus Eissplittern prasselte auf ihn herab. Entdeckung plus 21 Tage 2 Nazca, Peru Unter der glühenden peruanischen Sonne kletterte Conrad Yeats den Hang zum Gipfelplateau hoch, von wo aus er die Ebene von Nazca überschaute. Hunderte von Metern unter ihm erstreckte sich die endlose, leere Wüste. Er konnte den Kondor, den Affen und die Spinne erkennen, riesige Figuren, die in die ausgedörrte Ebene, die der Marsoberfläche ähnelte, gescharrt waren. Die berühmten Erdzeichnungen von Nazca, kilometerlang und tausende Jahre alt, waren so groß, dass man sie nur aus der Luft richtig erkennen konnte. Genauso wie jetzt die winzige Staubwolke, die in der Ferne den Panamerican Highway entlangwirbelte. Sie kam neben dem Kombi, den Conrad unten an der Straße abgestellt hatte, zum Stillstand. Conrad zog sein Fernglas heraus und richtete es nach unten. Bei seinem Wagen hatten zwei Militärjeeps gehalten, aus denen jetzt acht bewaffnete peruanische Soldaten sprangen, um sich das Fahrzeug genauer anzusehen. Mist, dachte er, woher wissen die, dass ich hier bin? Die Frau ihm gegenüber rückte ihren Rucksack zurecht und fragte mit breitem französischem Akzent: »Probleme, Conrad?« Conrad blickte in ihre stechend blauen Augen, die von einem 24 Jahre alten Babygesicht umgeben waren. Mercedes, Tochter eines französischen Fernsehmoguls, produzierte für ihren Vater die Reihe ›Rätsel des Altertums‹ und half dabei, entsprechende Drehorte zu erkunden. »Noch nicht.« Er steckte sein Fernglas weg. »Und für Sie immer noch Doktor Yeats.« Die Frau schmollte. Ihr Pferdeschwanz wippte hinten aus der Diamondbacks-Baseballmütze wie der Schwanz eines gereizten Vollblüters, der Fliegen weg wedelte. »Doktor Conrad Yeats, der Welt größter Experte in Sachen megalithischer Architektur!« Sie sprach im gleichen Tonfall wie der zweitklassige Ansager ihrer Sendung. »Wegen seiner unorthodoxen, wenn auch brillanten Theorien über die Ursprünge der menschlichen Zivilisation von der Wissenschaft verstoßen.« Sie machte eine Pause. »Von allen Frauen dieser Welt angebetet.« »Nur von den Verrückten«, sagte Yeats trocken. Er stand mit nacktem Oberkörper da – stark und muskulös, der Körper gestählt und braun gebrannt von seinen Expeditionen zu den geografischen und politischen Krisenherden der Welt – und musterte den letzten Vorsprung unterhalb des Plateaus. Das dunkle Haar war um einiges zu lang, weshalb er es mit einem Lederband zurückgebunden hatte. Der 39 Jahre alte, schlanke Mann mit den markanten Zügen sah müde und hungrig aus, und das war er auch. Müde von der Reise durchs Leben, hungrig nach Antworten. Es war seine Suche nach den Ursprüngen der menschlichen Zivilisation – nach jener ›Urkultur‹, aus der die ersten bekannten Kulturen hervorgegangen sein mussten –, die ihn in die entlegensten Winkel der Erde verschlug. Seine fixe Idee, das hatte ihm einmal eine Nonne gesagt, sei eigentlich die Suche nach seinen leiblichen Eltern, die nach seiner Geburt verschwunden waren. Kann schon sein, dachte er, allerdings haben die alten Nazcaner mehr Spuren hinterlassen. Elegant zog sich Yeats über den Felsvorsprung auf das flache Plateau hinauf. Er streckte die Hand nach unten, packte die staubige Hand von Mercedes und zog sie zu sich auf das Plateau. Sie ließ sich auf ihn plumpsen, bestimmt mit Absicht, und er fiel auf den Rücken. Ihr neckischer Blick verweilte kurz auf ihm, bevor sie über seine Schulter sah und die Luft anhielt. Das Plateau war wie mit der Präzision eines Lasers gestaltet worden und wirkte wie eine riesige Piste im Himmel über der Wüste von Nazca. Der Blick von hier aus auf die bekannten Scharrbilder war atemberaubend. Yeats stand auf und klopfte sich den Staub ab, während Mercedes die Aussicht genoss. Er hoffte, dass sie sich alles gut einprägte. Wenn er nämlich keine Möglichkeit fand, den Peruanern da unten zu entkommen, würde sie die Welt in Kürze nur noch zwischen Gitterstäben hindurch sehen. »Sie müssen zugeben, Conrad, dieser Gipfel hier hätte gut eine Landebahn sein können.« Yeats lächelte. Sie schien ihm irgendeine Reaktion entlocken zu wollen. Da die Erdzeichnungen nur aus großer Höhe zu erkennen waren, hatten ein paar seiner verrückten Archäologenkollegen die These aufgestellt, dass die alten Nazcaner Flugkörper besaßen und dass der Berg, auf dem Mercedes und er gerade standen, einstmals eine Landebahn für die Raumschiffe Außerirdischer gewesen sei. Er hätte nichts dagegen gehabt, wenn jetzt ein solches auftauchen würde, um ihn vor Mercedes und den Peruanern in Sicherheit zu bringen. Na ja, auf Mercedes war er momentan angewiesen. Die Fernsehsendung war seine letzte Möglichkeit, seine Forschungen zu finanzieren. Und Mercedes war nun einmal die einzige Verbindung zu dem Geld. »Es wird Sie wohl nicht zufrieden stellen, wenn ich darauf hinweise, dass Außerirdische, die durch die Weiten des Alls reisen können, keine Start- und Landebahn brauchen dürften«, sagte Yeats. »Nein.« Yeats seufzte. Auch ohne vorgeschichtliche Astronauten, die auch noch seinen letzten Respekt vor der etablierten Wissenschaftsszene untergruben, war es schon schwer genug, bei seiner Suche nach den Ursprüngen der menschlichen Zivilisation mit der verschütteten Zeit, mit fremden Regierungen und dusseligen Theorien fertig zu werden. Früher war er einmal ein bahnbrechender, postmoderner Archäologe gewesen. Seine dekonstruktivistische Theorie besagte, dass die historischen Stätten nicht annähernd so wichtig waren wie das, was sie über deren Erbauer aussagten. Dieser Standpunkt stand in krassem Gegensatz zu den selbstgerechten ›Erhaltungs-Tendenzen‹ in der Archäologie, die in Conrads Augen nur eine Umschreibung für ›Tourismus‹ und die Dollars waren, die jener einbrachte. In der Presse wurde er als Einzelgänger abgestempelt, eine Quelle erbitterter Eifersucht unter seinesgleichen und den Ländern in Nahost und Südamerika, die die größten archäologischen Schätze der Welt besaßen, ein Dorn im Auge. Eines Tages hatte er dann in der Nähe von Luxor in Ägypten Dutzende israelitische Häuser aus dem 12. Jahrhundert vor Christus freigelegt, die den ersten konkreten Beweis für den in der Bibel beschriebenen Exodus lieferten. Die offizielle Haltung der ägyptischen Regierung besagte aber nun einmal, dass ihre historischen Vorfahren zur Erbauung der Pyramiden niemals hebräische Sklaven eingesetzt hatten. Darüber hinaus habe allein die ägyptische Regierung das Recht, neue Entdeckungen an die Presse weiterzuleiten. Yeats hingegen habe sie nicht über seine Funde informiert, bevor er mit der Presse redete, womit er gegen den Vertrag verstieß, den jeder Archäologe, der in Ägypten arbeiten wollte, zu unterschreiben hatte, bevor er mit Ausgrabungsarbeiten beginnen konnte. Der Leiter der obersten Behörde für Altertümer hatte ihn ›einen faulen, beschränkten Trottel‹ genannt und für immer aus Ägypten verbannt. Plötzlich hatte sich das Blatt gewendet, und aus Conrad dem Bilderstürmer war Conrad der Erhalter geworden, der nun internationalen Schutz für seine ›Sklavenstadt‹ einforderte. Bis Ägypten schließlich Kamerateams an die Stätte vorließ, waren die bröckelnden Grundmauern der israelitischen Siedlung jedoch bereits von Bulldozern niedergewalzt worden, um Platz für eine Militäranlage zu schaffen. Es blieb nichts, was sich noch hätte erhalten lassen, übrig – nur eine Geschichte, der niemand glaubte, und ein angeschlagener Ruf. Jetzt war er schlechter dran denn je. Seiner Reputation verlustig. Völlig blank. In den Klauen von Mercedes und ihrer verrückten Realityshow, die der Masse, statt ihr die neuesten archäologischen Erkenntnisse näher zu bringen, bloße Unterhaltung andrehte. Er konnte nicht mehr nach Ägypten zurück, und bald würde das auch für Peru und Bolivien und eine wachsende Zahl anderer Länder gelten. Nur die endliche Entdeckung der menschlichen Urkultur, so schwierig sich das auch gestalten mochte, konnte ihn vor den vorzeitlichen Astronauten und dem Fegefeuer billiger Dokumentarfilme und noch billigerer Nummern retten. Mercedes sah besorgt drein. »Wir werden einen ganzen Tag damit vertun, die Crew für Ihren Auftritt hier hochzubringen«, sagte sie. Sie grübelte kurz, aber dann erhellte sich ihre Miene. »Viel besser wäre da doch eine Luftaufnahme aus der Cessna mit einem Kommentar aus dem Off.« »Das ginge wohl etwas am Sinn der Sache vorbei, Mercedes«, sagte Yeats. Sie sah ihn fragend an. »Wie meinen Sie das?« »Ich glaube, es wird langsam Zeit, dass wir ein heiliges Ritual vollziehen.« Er nahm ihre Hand. »Mit dem eine Offenbarung eintreten wird.« Yeats ließ sich auf die Knie nieder und zog sie neben sich nach unten. Mercedes bekam vor Erwartung große Augen. »Machen Sie mir alles nach, und seien Sie für ein großes Geheimnis bereit!« Mercedes lehnte sich an ihn. »Stecken Sie Ihre Finger in den Boden.« Langsam bohrten sie die Finger durch das heiße schwarze Vulkangeröll in den kühlen, feuchten gelben Lehm darunter. »Steht das in Ihrem Drehbuch?«, sagte sie. »Fühlt sich gut an.« »Reiben Sie einfach den Lehm zwischen den Fingern.« Sie tat wie geheißen. Dann hielt sie sich einen kleinen Klumpen an die Nase und roch daran, als ob sie jederzeit mit einer kosmischen Erscheinung rechnete. »Das wär's.« Sie sah ihn verdutzt an. »Begreifen Sie denn nicht?«, sagte er zu ihr. »Dieser Boden ist zu weich, als dass hier irgendwelche Flugzeuge landen könnten.« Er lächelte sie triumphierend an. »So viel zu Ihren Fantasievorstellungen von vorzeitlichen Astronauten.« Er hätte sich denken können, dass sein einfacher wissenschaftlicher Test bei ihr nicht so gut ankommen würde. Vor Wut kniff sie die Augen zu stahlblauen Schlitzen zusammen. Eine solche Verwandlung hatte er schon einmal an ihr gesehen. Auf diese Weise hatte sie es auch beim Fernsehen so weit geschafft. Das Geld ihres Vaters war natürlich auch hilfreich gewesen. »Sie sind wichtig für die Reihe, Conrad«, sagte sie. »Sie denken anders als andere. Und Sie haben ein wissenschaftliches Renommee. Zumindest hatten Sie das früher mal. Sie sind ein Astro-Archäologe des 21. Jahrhunderts oder was auch immer. Schmeißen Sie das nicht einfach hin. Ich will Sie weiter dabeihaben. Aber ich muss auch an die Einschaltquoten denken. Wenn Sie also nicht mitspielen, hole ich mir irgendeine dauergrinsende Berühmtheit, die ihren Part als Fernseh-Archäologe übernimmt.« »Und das heißt?« »Geben Sie den Irren, die unsere Sendung anschauen, das, was sie wollen.« »Astronauten aus der Vorzeit?« Ein heiteres Lächeln legte sich über ihr Babygesicht, und sie setzte eine einschmeichelnde, bewundernde Miene auf. Er stöhnte innerlich. »Professor Yeats.« Sie strahlte ihn an, umarmte ihn und küsste ihn auf den Mund. Unfähig, sich aus ihren Armen zu befreien oder Luft zu holen, ließ er sich widerwillig auf den Kuss ein und spürte, wie ihr Körper auf seinen Selbsthass reagierte. Offensichtlich traf das, was der französische Dramatiker Molière über Schriftsteller gesagt hatte, auch auf Archäologen zu. Er war hier die Prostituierte. Ursprünglich hatte er es für sich selbst getan, dann für ein paar Freunde und die Universitäten. Verflucht noch mal, warum nicht auch Geld dafür nehmen? Plötzlich kam Wind auf, und Mercedes' Pferdeschwanz schlug ihm ins Gesicht. Ein leuchtendes Objekt aus Metall kreiste in der Luft. Er hielt die Hand vor die Augen und erkannte die Umrisse eines Black-Hawk-Militärhubschraubers, an dessen Seiten Maschinengewehre angebracht waren. Mercedes folgte seinem Blick und runzelte die Stirn. »Was bedeutet das?« »Ärger.« Yeats griff hinter Mercedes und zog eine 9 mm Glock Automatik aus ihrem Rucksack. Sie machte große Augen. »Damit haben Sie mich durch den Zoll geschickt?« »Nein, die hab ich erst neulich in Lima gekauft.« Er zog ein geladenes Magazin aus seiner Gürteltasche und schob es in den Griff. Dann steckte er die Pistole in den Gürtel. »Überlassen Sie das Reden mir.« Mercedes nickte sprachlos. Der Hubschrauber setzte zur Landung an. Der Wind, den die Rotoren erzeugten, wirbelte roten Staub auf. Nach der Landung ging die Tür auf, und sechs Soldaten der U. S. Special Forces in grünen Kampfanzügen sprangen heraus und sicherten das Gebiet. Gleich darauf stieg ein schlaksiger junger Offizier in einer blauen USAF-Fliegermontur die Metalltreppe herunter und ging auf Conrad zu. »Doktor Yeats?«, sagte der Offizier. Yeats musterte den Offizier, der ungefähr in seinem Alter zu sein schien. Irgendwo hatte er den schlanken, lässigen Mann schon einmal gesehen. Über die linke Hand hatte dieser einen schwarzen Lederhandschuh gestreift. »Wen interessiert das?« »Die NASA, Sir. Ich bin Lieutenant Colonel Lundstrom. Ich arbeite für General Yeats, Ihren Vater.« Yeats erstarrte. »Was will er von mir?« »Der General möchte Ihre Meinung zu einer Angelegenheit hören, die für die nationale Sicherheit von höchstem Interesse ist.« »Glaube ich Ihnen sofort, Colonel, aber die Interessen des Landes und meine eigenen sind nicht ein und dasselbe.« »Diesmal schon, Doktor Yeats. Meines Wissens sind Sie an der University of Arizona Persona non grata. Und falls Sie es noch nicht bemerkt haben: Es klettert gerade ein schwer bewaffneter Schlägertrupp den Abhang hoch. Sie können also entweder mit mir kommen, oder aber ein paar Wochen in einer peruanischen Gefängniszelle verbringen.« »Wollen Sie damit sagen, dass die Alternative zu meinem Vater der Knast ist? Das muss ich mir wirklich erst noch überlegen.« »Tun Sie das«, sagte Lundstrom. »Aber es könnte sein, dass Ihre kleine Freundin hier die Kaution für Sie möglicherweise nicht stellen kann, wenn sie herausfindet, dass Sie sie benutzt haben, einen gestohlenen ägyptischen Kunstgegenstand durch den Zoll zu schmuggeln. Damit Sie den dann an einen südamerikanischen Drogenbaron verscherbeln können.« »Noch so eine Lüge aus Luxor. Wo soll ich denn angeblich besagtes Artefakt herhaben?« »Die Ägypter behaupten, Sie hätten es während des Irakkriegs aus dem Nationalmuseum in Bagdad entwendet, nachdem die amerikanischen Truppen die Stadt erobert hatten. Die Ägypter haben die Iraker dazu gekriegt, das zu bestätigen. Zumindest wird diese Version den Peruanern, Bolivianern und allen anderen, die es interessiert, so erzählt.« Yeats bemühte sich, seine Wut auf die Ägypter zu unterdrücken, während er sich überlegte, ob Mercedes ihn im Gefängnis womöglich tatsächlich vor die Hunde gehen lassen würde. Er kam zu dem Schluss, dass sie wahrscheinlich, bevor sie die Kaution stellte, die Wächter dazu brächte, ihm ein paar ordentliche Schläge zu verpassen. »Hört sich alles nett an«, sagte Yeats zu Lundstrom. »Aber ich werde dennoch auf dieses tolle Angebot verzichten.« Er streckte Lundstrom die Hand hin, um sich von ihm zu verabschieden. Der Lieutenant Colonel rührte sich nicht. »Übrigens noch was, Doktor Yeats«, sagte er. »Wir haben das, wonach Sie schon Ihr ganzes Leben lang suchen, gefunden.« Yeats sah ihm in die Augen. »Meine leiblichen Eltern?« »Nein, das Zweitbeste. Man wird Sie einweihen, sobald wir dort sind.« »Letztes Mal bin ich fast draufgegangen, Colonel. Also, warum suchen Sie sich nicht einfach jemand anderes?« »Haben wir längst versucht.« Lundstrom hielt inne, wie um Yeats spüren lassen zu wollen, dass er derzeit nirgendwo sonderlich gut angeschrieben war. »Aber Dr. Serghetti ist offensichtlich schon von anderer Stelle beauftragt worden, den Fall zu untersuchen.« »Serena?« Lundstrom nickte. Mehrere Szenen rasten Conrad Yeats nun gleichzeitig durch den Kopf. Allesamt waren sie nicht sonderlich angenehm, aber doch überaus erregend. Allein schon ihr Name erweckte ihn zu neuem Leben. Der Gedanke, dass er und Serena und sein Vater und die verschiedenen Welten, in denen sie sich bewegten, erstmals zusammenfinden würden, warf für ihn die Frage auf, ob das Raum-Zeit-Kontinuum damit überhaupt fertig würde oder ob das Universum daran zerbräche. »Sie lassen mir wahrscheinlich keine große Wahl, Colonel, stimmt's?« »Wohl kaum. General Yeats erwartet Sie.« »Geben Sie mir noch eine Minute.« Yeats drehte sich um und ging zu Mercedes hinüber, die das Gespräch aus der Ferne misstrauisch beobachtet hatte, und gab ihr einen Kuss. »Tut mir Leid, meine Liebe. Ich muss leider gehen.« »Gehen? Wohin denn?« »Einen echt alten Astronauten besuchen.« Wieder griff Yeats in ihren Rucksack und zog eine aus der 19. ägyptischen Dynastie stammende goldene Statuette von Ramses II. heraus, der während des vermeintlichen Exodus Pharao gewesen war. Er hatte sie in der Sklavenstadt gefunden, und sie war der einzige ihm verbliebene Beweis, dass er nicht verrückt war. Er reichte sie Mercedes. »Also, Sie haben keine Ahnung, wo das Ding herkommt, falls die netten Herren, die gerade hier hochklettern, Sie auf dem Weg zurück nach Lima fragen sollten.« Mercedes fiel die Kinnlade herunter, als Conrad und der amerikanische Offizier daraufhin ohne ein weiteres Wort in den Black Hawk kletterten. Die Tür ging zu, und der Militärhubschrauber flog auf und davon. *** Conrad Yeats blickte auf das schwindende Plateau hinunter. Als er schließlich daran dachte, Mercedes noch einmal Lebewohl zu winken, war das peruanische Militär schon auf dem Plateau. Der Hubschrauber überflog den Berg. Er wandte sich Lundstrom zu. »Also, was um alles in der Welt will mein Vater von mir?« »Fragen Sie lieber, wo auf der Welt er etwas von Ihnen will«, sagte Lundstrom und warf ihm einen weißen Polaranzug zu. »Bitte schön.« Entdeckung plus 22 Tage Aceh, Indonesien 3 Rom Dr. Serena Serghetti flog in 60 Meter Höhe über die smaragdgrünen Reisfelder und hielt den Hubschrauber sorgsam im Gleichgewicht. Die Sonne brach durch die dunklen Wolken, aber Donner rumpelte noch über den üppig bewachsenen Berghang. Es sah nach Regen aus. Sie näherte sich der Stadt Lhokseumawe in der krisengeschüttelten Region Indonesiens, die früher einmal Niederländisch-Ostindien geheißen hatte. In dieser Provinz gab es 20.000 Waisen, Opfer der Jahrzehnte währenden Kämpfe zwischen den Aceh-Separatisten und dem indonesischen Militär. Inzwischen hatten sich dort auch noch El-Kaida-Terroristen auf die Seite der Moslems geschlagen und damit eine Situation geschaffen, wie sie brenzliger nicht sein könnte. Serena musste etwas tun, um diesen vom Rest der Welt vergessenen Kindern zu helfen. Sie blickte auf die Sumpfgebiete unter sich hinab und sah die Sonne auf dem Ölteppich glitzern. Die Ölquelle der Exxon-Mobil-Gruppe war ausgelaufen und hatte großflächig die Reisfelder, Obstplantagen und Garnelenzuchtanlagen verunreinigt. Dergleichen passierte öfter, aber diesmal sah es deutlich schlimmer aus als sonst. Die Katastrophe bedrohte die Existenz der Waisen und Witwen in den umliegenden Dörfern Blang Pu'uk, Nibong Baroh und Tanjung Krueng Pase. Sie würden mindestens sechs Monate, vielleicht sogar ein Jahr lang in eine andere Gegend umgesiedelt werden müssen. Ihre ganze Lebensgrundlage war zunichte gemacht worden. Serena wollte gerade per Fernbedienung die Bordkamera auslösen, als sie im Kopfhörer eine Stimme mit starkem englischem Akzent hörte. »Willkommen auf Posten dreizehn, Schwester Serghetti.« Sie blickte nach Steuerbord und sah dort auf gleicher Höhe einen mit Maschinengewehren bestückten indonesischen Militärhubschrauber. Die Stimme war wieder zu hören: »Sie werden jetzt auf dem Hubschrauberlandeplatz in der Anlage landen.« Serena neigte den Helikopter nach rechts und ließ ihn Höhe gewinnen, aber sofort streiften sie vier Kugeln eines Warnschusses an der Seite. »Sofort landen«, befahl der Indonesier. »Sonst holen wir Sie runter.« Den Steuerknüppel fest umklammernd, sank Serena auf den Landeplatz hinab. Kaum hatte sie die Maschine sanft aufgesetzt, wurde sie auch schon von Soldaten in Kampfanzügen umringt, die ihre M-16 im Anschlag hatten. Sie stieg mit erhobenen Händen aus dem Helikopter und sah, dass es sich um Kopassus-Einheiten handelte, Spezialeinheiten der indonesischen Armee, die im nahe gelegenen Camp Rancong stationiert waren. Schauplatz vieler berüchtigter Folterungen, gehörte Camp Rancong einst PT Arun, einem indonesischen Ölriesen, der teilweise von Exxon Mobil, das den Posten 13 betrieb, gekauft worden war. Die Reihe der Kopassus-Soldaten teilte sich, als ein Jeep angefahren kam. Er hielt an, und ein Offizier, den Schulterklappen nach zu schließen ein Oberst, stieg aus und kam gemächlich auf sie zu. Es war ein dünner, junger Mann in den Zwanzigern. Hinter ihm schlurfte ein aufgedunsener älterer Weißer in Zivil einher, von dem Serena wegen seiner zur Schau getragenen Lustlosigkeit annahm, dass es sich um den amerikanischen Marionetten-Geschäftsführer der Ölfirma handelte. »Was soll das alles?«, fragte Serena. »Die berühmt-berüchtigte Schwester Serghetti«, sagte der Oberst auf Englisch. »Sie sprechen die acehnesische Sprache wie eine Eingeborene, obwohl sie natürlich nicht so aussehen. Die Bilder in den Medien werden Ihrer Schönheit jedenfalls bei weitem nicht gerecht. Und Ihre fliegerischen Fähigkeiten werden darin überhaupt nicht erwähnt.« »Man tut, was man kann, Oberst«, erwiderte sie trocken mit ihrem australischen Akzent. »Das scheint ja eine ganze Menge zu sein. Und was können Sie am besten?« »Ich werfe in Afrika und Asien für die Ärmsten der Armen Lebensmittel und Medikamente ab, weil die Regierungen meist so korrupt sind, dass die Hilfslieferungen der UN selten in den vorgesehenen Dörfern ankommen«, sagte sie. »Entweder verschwinden sie einfach, oder sie vergammeln auf dem Transport, weil die Straßen unbefahrbar sind.« »Dann sind Sie hier falsch, Ma'am«, sagte der Amerikaner mit schleppendem texanischem Akzent. »Ich bin Lou Hackett, der Generaldirektor des Unternehmens. Sie sollten eigentlich den Katholiken in Osttimor gegen die Moslems helfen. In einer rein muslimischen Provinz wie Aceh haben Sie eigentlich nichts zu suchen.« »Ich dokumentiere die Verletzung der Menschenrechte, Mr. Hackett«, sagte sie. »Gott liebt auch die Muslime und die Aceh-Separatisten. Und nicht weniger als amerikanische Geschäftsleute.« »Verletzung der Menschenrechte? Nicht bei uns«, sagte Mr. Hackett. Er musterte interessiert ihren Hubschrauber, der gerade von einer Crew Kopassus-Techniker auseinander genommen wurde. Serena sah ihm in die Augen. »Soll das heißen, Mr. Hackett, dass der Ölteppich da draußen, der in die Garnelenzucht sickert, nicht von Ihnen verursacht wurde?« »Einen harmlosen kleinen Unfall kann man wohl kaum als eine Verletzung der Menschenrechte bezeichnen.« Mit einem zerschlissenen alten Taschentuch wischte sich Mr. Hackett den Schweiß von der Stirn. Serena bemerkte das Logo darauf: das Siegel des Präsidenten der USA. Zweifelsohne eine Aufmerksamkeit für den willigen Wahlkämpfer. »Dann hat Ihre Firma also auch die Militärbaracken hier auf Posten 13 gar nicht gebaut. Es heißt, hier wurden Opfer der Menschenrechtsverletzungen verhört«, fuhr sie fort und sah dabei den indonesischen Oberst an. »Haben Sie etwa nicht die Maschinen geliefert, mit denen das Militär am Sentang-Berg und am Tengkorak-Berg die Massengräber für die Opfer ausgehoben hat?« Mr. Hackett sah sie an, als wäre ihre Anwesenheit das Problem und nicht etwa das ausgelaufene Öl. »Was wollen Sie eigentlich, Schwester Serghetti?« Der indonesische Oberst antwortete an ihrer Stelle. »Sie will gegen Exxon Mobil und PT Arun dasselbe durchsetzen wie gegen das Denok-Kaffeekartell in Osttimor.« »Sie meinen, die Macht des Kartells brechen, das vom indonesischen Militär kontrolliert wird, um die Leute ihre Waren zu Marktpreisen verkaufen zu lassen?«, sagte Serena. »Eigentlich keine schlechte Idee.« Hackett schien jetzt endgültig der Kragen zu platzen. »Wenn die Leute in Osttimor Sklaven für Starbucks sein wollen, dann ist das deren Problem, Schwester. Sie haben das Militär aus dem Kaffeegeschäft gedrängt, dann erst hat es sich für meine Firma interessiert.« »Ganz was anderes, Schwester Serghetti«, sagte der Oberst und gab ihr ein Blatt Papier. Es war ein Fax. »Reisen Sie ab!« Sie sah sich das Fax zweimal an. Es war von Bischof Carlos in Jakarta, dem Träger des Friedensnobelpreises von 1996. Er teilte ihr darin mit, dass sie dringend in Rom gebraucht werde. »Der Papst will mich sehen?« »Der Papst, der Pontifex, der Heilige Stuhl, wie auch immer Sie ihn nennen wollen«, sagte Mr. Hackett. »Ich persönlich bin Baptist. Seien Sie froh, dass Sie hier ungeschoren wegkommen.« Sie wandte sich gerade rechtzeitig ihrem Hubschrauber zu, um zu sehen, wie mehrere Soldaten die abmontierten Kameras wegtrugen. »Und die Leute aus Aceh?«, hielt sie Mr. Hackett vor, während der Oberst sie zu seinem Jeep schob. Offensichtlich sollte ihr Hubschrauber doch gänzlich beschlagnahmt werden. »Sie können nicht einfach so tun, als wäre nichts passiert.« »Mal sehen, was ich kann oder nicht kann, Schwester«, sagte Mr. Hackett und winkte ihr mit einem süffisanten Lächeln zu. »Was nicht in den Zeitungen steht, passiert nun einmal auch nicht.« *** Vierundzwanzig Stunden später lehnte sich Serena im Fond einer schwarzen Limousine ohne Kennzeichen zurück. Der gute alte Benito lenkte den Wagen durch die aufgebrachten Demonstranten und die Kamera-Teams auf dem Petersplatz. Kaum zu glauben, dass wegen ihrer derart viel Aufhebens gemacht wurde. Aber die Demonstration wurde tatsächlich ihrethalben veranstaltet. Obwohl sie erst 27 Jahre alt war, hatte sie sich bereits jede Menge Feinde in der Petroleum-, der Holz- und der Pharmaindustrie gemacht, bei all jenen, die Profit über Menschen, Tiere oder Umwelt stellten. Allerdings hatte ihr Engagement auch ein paar Leute, denen sie zu helfen gehofft hatte, arbeitslos gemacht. Na ja, der wütenden Menge dort nach zu urteilen, waren es vielleicht sogar mehr als nur ein paar. In ihrem Stadtoutfit, einem Armani-Anzug – ihre Lieblingsmarke – und dazu lässige Chucks, sah sie nicht unbedingt wie eine einstige Karmeliterin aus. Aber genau das war auch beabsichtigt. Als ›Mutter Erde‹ machte sie Schlagzeilen, und mit dem Medieninteresse kam der Einfluss. Wie sonst sollten die Medien, die sich mehr für Äußerlichkeiten als für Inhalte interessierten, die Weltöffentlichkeit und schließlich Rom sie überhaupt ernst nehmen? Mit Gott verhielt es sich da anders. Sie war sich nicht sicher, was Er von ihr hielt, und eigentlich wollte sie das auch nicht so genau wissen. Serena blickte durch das regenverschmierte Fenster. Die Sicherheitskräfte des Vatikans drängten die Menge und die Paparazzi zurück. Dann, wie aus dem Nichts ein lautes Krachen, das sie zusammenzucken ließ. Einem der Demonstranten war es gelungen, sein Transparent auf die Scheibe zu schlagen: Mutter Erde, suchen Sie sich einen anderen Planeten! »Die haben Sie vermisst, Signorina«, sagte der Fahrer in seinem besten Englisch. »Die meinen es doch nur gut, Benito.« Sie blickte voller Mitgefühl auf die Menschenmenge hinaus. Sie hätte Benito auf Italienisch, Französisch, Deutsch oder in einem Dutzend anderer Sprachen ansprechen können, aber sie wusste, dass Benito sein Englisch verbessern wollte. »Sie haben Angst. Sie müssen ihre Familien ernähren. Sie brauchen einen Sündenbock für ihre Arbeitslosigkeit. Da komme ich ihnen gerade recht.« »Typisch, Signorina, Sie segnen auch noch Ihre Feinde.« »Feinde gibt es nicht, Benito. Nur Missverständnisse.« »Sie sprechen wie eine wahre Heilige«, sagte er. Sie hatten die Menge am Tor hinter sich zurückgelassen und fuhren nun die gewundene Auffahrt hinauf. »Benito, wissen Sie eigentlich, warum mich der Heilige Vater zu einer Privataudienz in die Ewige Stadt zitiert hat?« Wie beiläufig strich sie ihre Hose glatt und versuchte, ihre steigende Nervosität zu verbergen. »Bei Ihnen kann alles Mögliche dahinterstecken.« Benito lächelte in den Rückspiegel, wobei ein Goldzahn zum Vorschein kam. »Bei dem Ärger, den Sie machen.« Leider ist das nur allzu wahr, dachte Serena. Als sie noch Nonne war, lag sie gewöhnlich mit ihren Vorgesetzten im Clinch. Sie war eine Außenseiterin innerhalb der eigenen Kirche gewesen. Immerhin stand der Papst üblicherweise auf ihrer Seite. Der Newsweek gegenüber hatte er einmal geäußert: »Schwester Serghetti tut genau das, was Gott auch täte, wenn Er die Fakten kennen würde.« Das war gute Werbung gewesen, aber ihr war auch bewusst, dass keine Instanz der öffentlichen Meinung sie innerhalb dieser Mauern beschützen konnte. Serena Serghetti war einer illegalen Verbindung zwischen einem katholischen Priester und einer Haushälterin entsprungen. Ihre Kindheit in der Nähe von Sydney war von tiefer Scham überschattet gewesen. Sie wuchs mit gemeinem Getuschel auf und hasste ihren Vater, der seine Vaterschaft bis zum Schluss leugnete. Er endete als versoffener Betrüger. Sie brachte die Gerüchte zum Schweigen, indem sie mit zwölf Jahren Keuschheit gelobte, sich beim Erlernen von Sprachen auszeichnete und, was am schockierendsten von allem war, mit 16 Jahren in ein Kloster eintrat. Innerhalb weniger Jahre wurde sie eine Ikone gelebten Glaubens und ein wandelndes Mahnmal für die ökologischen Sünden der Menschheit. Solange das andauerte, fast sieben Jahre lang, konnte sie sich nicht beklagen. Doch dann kehrte sie einige Monate nach einer persönlichen Krise in Südamerika nach Rom zurück, um geistlichen Rat zu suchen, und stellte fest, dass der Vatikan seine Wasserrechnungen nicht zahlen wollte und sich dabei auf seinen Status als unabhängiger Staat und auf die dubiosen Lateranverträge aus dem Jahre 1929 berief, denen zufolge Italien das Wasser für die 0,44 km² große Enklave kostenlos liefern musste, ohne dass darin die Frage der Abwassergebühren geklärt worden wäre. »Weder zahlen wir dem Kaiser, was des Kaisers ist, noch erweisen wir Gott die Ehre, die wir Ihm als Schöpfer dieser Welt schulden«, erklärte sie, als sie ihrem Gelübde öffentlich abschwor, um sich fortan in den Dienst der Umwelt zu stellen. Schon damals tauften die Medien sie ›Mutter Erde‹. Seitdem nannten die Leute sie so oder eben Schwester Serghetti. Wahrscheinlich war sie die berühmteste Exnonne der Welt. Ähnlich wie Prinzessin Diana in den Jahren vor ihrem Tod, so gehörte auch Serena nicht mehr der ›königlichen‹ Familie der Kirche an, war aber irgendwie zur ›Königin der Herzen‹ geworden. Die Schweizergardisten in ihren blau-rot-gelben Uniformen standen stramm, als die Limousine vor dem Amtspalast des Heiligen Vaters hielt. Noch bevor Benito Serena die Tür öffnen und ihr einen Schirm reichen konnte, eilte sie im Regen bereits leichtfüßig die Treppe hinauf. Ihre Turnschuhe platschten in den Pfützen, während sie das Gesicht gen Himmel reckte, um die Regentropfen zu genießen. Angesichts ihrer bisherigen Erfahrung mit dem Vatikan würde es wahrscheinlich eine Weile dauern, bis sie wieder frische Luft schnappen konnte. Als sie durch die offene Tür schritt, lächelte ihr eine der Wachen zu. Innen war es warm und trocken. Der junge Jesuit, der sie erwartete, erkannte sie sofort. »Schwester Serghetti«, begrüßte er sie herzlich. »Bitte hier entlang.« In den zahlreichen Büros, an denen sie vorbeikam, während sie dem Jesuiten durch ein Labyrinth von Amtskorridoren zu einem alten Aufzug folgte, herrschte rege Betriebsamkeit. Und das alles hat einmal mit einem armen jüdischen Zimmermann angefangen, dachte sie. Sie betraten den Aufzug, und die Tür schloss sich. Ob sich Jesus in dieser Kirche genauso fremd gefühlt hätte wie sie? Beim Anblick ihres Spiegelbilds in der Metalltür des Aufzugs runzelte sie die Stirn und strich sich die Jacke glatt. Welch eine Ironie, dass ihre Klamotten ihr so wichtig waren, wo sie doch wusste, dass die Wolle und die Seide mit dem Schweiß eines armen Kindes in einer Fabrik in Fernost gesponnen worden waren, um das weltweite Konsumbedürfnis zu befriedigen! Die Kleidung und das damit verbundene Image stand für alles, was sie hasste, aber sie benutzte es, um im Medienzeitalter, das sich stärker für das Aussehen als die guten Taten einer ehemaligen Nonne interessierte, Spenden zu sammeln und Bewusstsein zu schaffen. Das war nun einmal der Lauf der Welt. Ob Jesus zu diesem Zweck wohl auch Armani getragen hätte? Die Welt war schon ziemlich verrückt, und sie fragte sich nicht selten, ob Gott sie so geschaffen hatte oder einfach nur zugelassen hatte, dass sie sich auf derart abscheuliche Weise veränderte. Sie hätte es jedenfalls anders gemacht. Das Büro, das sie aufsuchen sollte, befand sich im 4. Stock und gehörte dem Geheimdienstchef des Vatikans, einem gewissen Kardinal Tucci. Er sollte sie instruieren und dann zur Privataudienz mit dem Papst in die päpstliche Residenz begleiten. Der Kardinal war nirgends zu sehen, aber der Jesuit führte sie dennoch in das Büro hinein. Das Arbeitszimmer war älter und eleganter eingerichtet, als man angesichts Tuccis Ruf erwartet hätte. Bilder aus dem Mittelalter und alte Landkarten zierten die Wände und nicht etwa moderne, zeitgenössische Kunst, die Tucci angeblich bevorzugte. Der Mann, der in einem schwarzen Lederstuhl zwischen zwei Blaeu-Globen aus dem 17. Jahrhundert saß, sah auch irgendwie älter und eleganter aus. Die weißen Insignien mit dem goldenen Spitzenbesatz am Hals harmonierten perfekt mit dem weißen Haar. Er sah gut aus, ein durch und durch weltmännischer Mann des Glaubens. Seine Augen wirkten klar und intelligent, als er von den Akten, die er studierte, aufblickte. »Schwester Serghetti«, stellte ihr jesuitischer Begleiter sie vor. »Seine Heiligkeit, der Papst.« Der Papst musste ihr nicht erst vorgestellt werden. »Heiliger Vater«, sagte sie, nachdem der Jesuit die Tür hinter ihr geschlossen hatte. Der mächtige Mann kam ihr weder streng noch fromm vor. Vielmehr strahlte er die geschäftstüchtige Aura eines Top-Managers aus. Mit dem Unterschied allerdings, dass sein Unternehmen nicht an den Börsen von New York, London oder Tokio notiert wurde. Ebenso wenig wurde sein künftiges Wachstum in Einheiten wie Quartalen, Jahren oder gar Jahrzehnten prognostiziert. Das Unternehmen bestand bereits seit über 2.000 Jahren und maß den Erfolg mit dem Maßstab der Ewigkeit. »Schwester Serghetti.« Die Stimme des Papstes vermittelte echte Zuneigung, als er sie bat, doch bitte Platz zu nehmen. »Es ist schon so lange her.« Überrascht und misstrauisch ließ sie sich auf einen Lederstuhl sinken, während er ihre Akte überflog. »Proteste in Sachen Ozon vor dem Hauptquartier der Vereinten Nationen in New York«, las er mit ruhiger, aber klangvoller Stimme vor. »Weltweiter Boykott von Pharma-Unternehmen. Ihre Homepage hat mehr Besucher als meine.« Mit regen, leuchtenden Augen blickte er von der Akte auf. »Manchmal frage ich mich, ob die Besessenheit, mit der Sie die Erde vor den Menschen retten wollen, nicht dem tiefen inneren Bedürfnis entspringt, sich selbst zu erlösen.« Sie rutschte auf dem Lederstuhl hin und her. Er war hart und unbequem. »Erlösung wovon, Heiliger Vater?« »Sie wissen, dass ich Ihren Vater kannte.« Das wusste sie. »Ich war jener Bischof, den er damals um Rat fragte, als er von der Schwangerschaft Ihrer Mutter erfuhr«, sagte der Papst. Das war Serena neu. »Er wollte, dass Ihre Mutter eine Abtreibung vornahm.« »Das wundert mich ganz und gar nicht.« Es fiel ihr schwer, die Bitterkeit in ihrer Stimme zu unterdrücken. »Ich gehe mal davon aus, Sie haben ihm davon abgeraten?« »Ich sagte ihm, Gott könne selbst aus den widrigsten Umständen etwas Schönes machen.« »Verstehe.« Serena wusste nicht, ob der Papst nun von ihr erwartete, dass sie ihm als ihrem Lebensretter dankte, oder ob er nur einfach das Geschehene erzählte. Er beobachtete sie genau, soviel war ihr klar. Nicht wertend oder mitleidig. Er schien einfach nur neugierig zu sein. »Ich wollte Sie schon immer etwas fragen, Serena«, fuhr der Papst fort, und Serena lehnte sich vor. »Wie können Sie Jesus in Anbetracht der Umstände Ihrer Geburt überhaupt lieben?« »Wegen der Umstände seiner Geburt«, antwortete sie. »Wäre Jesus nicht der einzige und wahre Sohn Gottes, wäre er ein Bastard und seine Mutter eine Hure. Er hätte dem Hass sein Herz öffnen können. Stattdessen entschied er sich für die Liebe, und heute nennt ihn die Kirche Erlöser.« Der Papst nickte. »Zumindest scheinen Sie einzusehen, dass dieser Job inzwischen vergeben ist.« »Ja, Heiliger Vater«, antwortete sie. »Und Ihnen hat er auch einen ziemlich guten Job gegeben.« Er lächelte. »Einen Job, so wurde mir gesagt, den Sie eines Tages auch gern hätten.« Serena zuckte die Achseln. »Das wird überbewertet.« »Das stimmt«, sagte der Papst und sah sie gespannt an. »Und für ehemalige Nonnen, die die Sünden ihrer Väter wiederholt haben, auch ziemlich unerreichbar.« Plötzlich geriet ihre filmreife Fassade ins Bröckeln und sie fühlte sich wie nackt. Bei diesem Papst war eine Privataudienz eher eine Therapiesitzung als eine Inquisition. Von der gerechten Entrüstung, auf die sie sich stützen wollte, war nichts mehr übrig. »Ich verstehe nicht so recht, was der Heilige Vater damit sagen will«, stotterte sie und fragte sich, was der Papst wohl alles wusste. In Beherzigung des Schicksals all derer, die ihn so oft unterschätzt hatten, hielt sie es für das Beste, gleich mit der Sprache rauszurücken, statt sich weiter zu blamieren. »Ja, diese Verlockung war einmal sehr groß, Heiliger Vater«, sagte sie. »Aber vergessen Sie nicht, dass ich keine Nonne mehr bin und damit auch nicht mehr durch meine Gelübde gebunden. Ich kann Ihnen jedoch versichern, dass ich bis zu meiner Hochzeit, die wohl nie stattfinden wird, keusch bleibe.« »Aber warum haben Sie dann …«, begann der Papst. »Nur weil wir unsere Liebe nicht körperlich ausgelebt haben, heißt das noch lange nicht, dass wir emotional nicht verbunden waren«, sagte Serena. »Jedenfalls haben mir meine Gefühle keinerlei Zweifel gelassen, dass ich in diesem Leben nicht eine Braut Christi sein kann, während es mich gleichzeitig mit Leidenschaft nach einem Mann verzehrt. Jedenfalls nicht, ohne solch ein Heuchler zu sein wie mein Vater. Wenn Sie also mit dieser Sache meine Glaubwürdigkeit untergraben wollen …« »Unsinn«, sagte der Pontifex. »Doktor Yeats wurde lediglich in dem Geheimdienstbericht erwähnt. Mehr nicht.« »Conrad?«, entfuhr es ihr erstaunt. Ausspioniert vom Vatikan? »Ja«, sagte der Papst. »Wenn ich richtig informiert bin, haben Sie ihn in Ihrem früheren Leben als unsere vielversprechendste Sprachwissenschaftlerin in Bolivien kennen gelernt.« Serena lehnte sich zurück. Vielleicht war ja nur ein Manuskript aufgetaucht, das es zu übersetzen galt. Vielleicht hatte der Heilige Vater bloß einen Job für sie. Sie atmete jetzt wieder ruhiger, erleichtert, dem Thema Keuschheit entronnen zu sein. Die Anspielung auf Conrad hatte sie allerdings neugierig gemacht. »Ja, das stimmt. Ich habe damals in den Anden mit den Aimara-Indianern gearbeitet.« »Keine falsche Bescheidenheit«, sagte der Papst. »Sie haben mithilfe der Aimara-Sprache eine Übersetzungssoftware für den Weltgipfel der Vereinten Nationen entwickelt. Und Sie haben das mit nichts weiter als Ihrem Laptop geschafft, obwohl Experten an einem Dutzend europäischer Universitäten trotz riesiger Computer daran gescheitert sind.« »Ich war nicht die Erste«, sagte Serena. »Dem bolivianischen Mathematiker Ivan Buzman de Rojas war das schon in den Achtzigerjahren gelungen. Man kann die Sprache der Aimara als Zwischensprache benutzen, um Englisch simultan in mehrere andere Sprachen zu übersetzen.« »In sechs andere Sprachen, wie bisher bekannt war«, sagte der Papst. »Sie haben offensichtlich eine noch breitere Anwendung erschlossen.« »Die streng logische Struktur dieser Sprache ist das ganze Geheimnis meines Systems.« Ihr Selbstbewusstsein nahm wieder zu. »Aimara ist eine ideale Sprache für die Umwandlung in Computeralgorithmen. Die Satzstruktur kann mit einer Art algebraischer Kurzschrift, die von Computern verstanden wird, entschlüsselt werden.« »Das ist alles sehr faszinierend«, sagte der Papst. »Im irdischen Leben kommt man wohl den leisen Worten Gottes sonst kaum näher. Warum haben Sie das aufgegeben?« »Hin und wieder leiste ich noch einen Beitrag, Heiliger Vater.« »Nun ja, Sie sind wirklich eine unabhängige Frau. Nicht nur, dass Sie Mutter Erde und eine offizielle Botschafterin des Guten Willens der Vereinten Nationen sind, nein, wie ich sehe, arbeiteten Sie auch an der Lexicon recentis Latinitatis.« Damit bezog er sich auf die moderne Aufmachung des vom Vatikan herausgegebenen Lateinwörterbuches, das von Traditionalisten konzipiert wurde, um die alte Sprache Virgils in das neue Millennium zu katapultieren. »Ja, das stimmt, Heiliger Vater.« »Wir müssen Ihnen also danken, dass Sie die lateinischen Begriffe für Disco und Covergirl geprägt haben – orbiumpho-nographicorum theca und exterioris paginae puella.« »Nicht zu vergessen pilamalleus super glaciem.« Der Papst hielt kurz inne, um im Kopf zu übersetzen. »Eishockey?« »Sehr gut, Heiliger Vater.« Der Papst konnte nicht umhin zu lächeln, bevor er sehr ernst wurde. »Und wie würden Sie jemanden wie Doktor Yeats nennen?« »Sentina«, sagte sie schlagfertig. »Abschaum.« Der Papst nickte traurig. »Ist dieser Mann der Grund dafür, dass Sie sich entschlossen haben, Ihre Begabung nicht weiter zu nutzen und stattdessen aus der Kirche auszutreten und davonzulaufen, um Mutter Erde zu werden?« »Conrad hat mit meinem Entschluss, mich ganz dem Umweltschutz zu widmen, nichts zu tun.« Es klang nicht so überzeugend, wie sie es gern gewollt hätte. Der Papst nickte. »Aber Sie haben ihn kennen gelernt, als Sie in Bolivien mit den Aimara-Indianern arbeiteten, kurz bevor Sie aus der Kirche austraten. Was wissen Sie über ihn?« Sie überlegte. Sie könnte so viel über ihn erzählen. Aber sie würde sich auf das Wichtigste beschränken. »Er ist ein Dieb und ein Lügner und der großartigste und gleichzeitig gefährlichste Archäologe, den ich kenne.« »Gefährlich?« »Er hat keinen Respekt vor der Vergangenheit«, sagte sie. »Er glaubt, dass das Wissen, das man aus einer Entdeckung gewinnt, wichtiger ist als die Entdeckung selbst. In seiner Ungeduld, einen spektakulären neuen Fund zu machen, zerstört er oft ohne Rücksicht auf spätere Generationen scheinbar unwichtigere Teile einer Stätte.« Der Papst nickte. »Das würde erklären, warum ihm die ägyptische oberste Behörde für Altertümer verboten hat, Luxor jemals wieder zu betreten.« »Übrigens, der Leiter der Altertumsbehörde hat beim Kartenspiel einiges Geld an Conrad verloren, als sie beim Bau des Luxor-Casinos als Berater nach Las Vegas eingeladen wurden«, sagte Serena. »Wie mir gesagt wurde, hat er Conrad mit einer Statuette aus der 19. Dynastie ausgezahlt, und seitdem versucht Conrad, sie auf dem Schwarzmarkt abzustoßen. Soweit ich weiß, braucht er dringend Geld. Die Statuette würde die hiesige Sammlung ganz vorzüglich ergänzen, falls Sie Interesse daran haben.« Zum Zeichen, dass er ihren trockenen Humor nicht sonderlich schätzte, runzelte der Papst die Stirn. »Und was war das für eine Sache in Bolivien, wo Doktor Yeats ein Jahr, nachdem Sie ihn kennen gelernt haben, hinter Gitter kam?« Serena zuckte die Achseln. »Sagen wir mal, die Tochter eines Generalissimo erwies sich als noch interessanter als die Ruinen.« »Höre ich da etwa Eifersucht heraus?« Serena musste lachen. »Für einen solchen Frauenheld wird es immer andere Frauen geben. Die Schätze des Altertums hingegen gehören allen.« »Ich habe jetzt ein ziemlich klares Bild von ihm. Aber darf ich Sie fragen, Schwester Serghetti, was Sie eigentlich an ihm gefunden haben?« »Er ist der ehrlichste Mensch, den ich kenne.« »Sagten Sie nicht, er sei ein Lügner?« »Das gehört zu seiner Ehrlichkeit dazu. Was hat er überhaupt mit dem Grund meines Hierseins zu tun?« »Eigentlich nichts, außer der Wirkung, die er auf Sie hatte«, sagte der Papst, aber Serena hatte das Gefühl, es könnte mehr dahinterstecken. »Verzeihen Sie die Frage, Heiliger Vater. Inwiefern bin ich Euch wichtig? Ich bin keine katholische Nonne mehr, auch keine Sprachwissenschaftlerin des Vatikans oder sonst irgendein offizielles Mitglied der Kirche.« »Ob wir Sie nun als Nonne oder als Laienspezialistin verpflichten, Serena, Sie werden immer Teil der Kirche sein und die Kirche immer Teil von Ihnen. Ob es Ihnen gefällt oder nicht. Im Augenblick gilt unser Hauptinteresse der Frage, wie die Aimara zu ihrer Sprache gekommen sind. Sie ist so rein, dass einige Ihrer Kollegen vermuten, dass sie sich nicht wie andere Sprachen über einen langen Zeitraum entwickelt hat, sondern vielmehr von Grund auf neu konzipiert wurde.« Sie nickte. »Eine geistige Leistung, die man von einfachen Bauern nicht unbedingt erwartet.« »Genau«, sagte der Papst. »Sagen Sie, Schwester Serghetti, woher kommen die Aimara?« »Der älteste Aimara-Mythos berichtet von merkwürdigen Ereignissen am Titicacasee nach der großen Flut«, erklärte sie. »Fremde Völker sollen auf dem See eine Stadt zu bauen versucht haben.« »Tiahuanaco«, sagte der Papst, »mit dem großartigen Sonnentor.« »Der Heilige Vater weiß gut Bescheid. Die verlassene Stadt soll ursprünglich von den Leuten aus Aztlán, dem untergegangenen Inselparadies der Azteken, bewohnt gewesen sein.« »Ein verlorenes Paradies. Interessant.« »Ein weit verbreiteter Mythos aus der Zeit vor der großen Flut, Heiliger Vater. Viele Mythen erzählen im Zusammenhang mit einer Sintflut von einem verlorenen Paradies. Da gibt es natürlich den Bericht des griechischen Philosophen Platon über Atlantis. Auch die Haida-Indianer und die Sumerer haben eine ähnliche Geschichte über ihre Anfänge.« Der Papst nickte. »Man kann sich das kaum vorstellen. Zwei so unterschiedliche Kulturen wie die der Haida und die der Sumerer. Die einen am Pazifik, im regnerischen Nordwesten Amerikas, und die anderen in den öden Wüsten des Iraks.« »Selbst die Tatsache, dass es bei zwei verschiedenen Kulturen einen gemeinsamen Mythos über ein und dasselbe Ereignis gibt, ist noch lange kein Beweis dafür, dass dieses Ereignis auch wirklich stattgefunden hat«, entgegnete sie, ganz trockene Wissenschaftlerin. »Fossilienfunde und geologische Erkenntnisse zeigen zwar, dass es eine große Flut, eine Eiszeit und so weiter gegeben hat; aber ob es nun auch einen Noah gegeben hat, der eine Arche baute, und ob er Asiat, Afrikaner oder quasi Europäer war, das ist alles reine Spekulation. Und es gibt sicherlich keinen Beweis für die Existenz eines verlorenen Paradieses.« »Was schließen Sie dann aus diesen sich ähnelnden Geschichten?« »Ich habe sie immer schon als Zeichen für die Universalität des menschlichen Geistes angesehen.« »Für Sie ist die Schöpfungsgeschichte also nichts anderes als eine Metapher?« Serena hatte beinahe schon vergessen, dass der Papst die Angewohnheit hatte, jedes Thema auf den Glauben zurückzuführen. Sie nickte bedächtig. »Vermutlich ja.« »Sie sind sich da wohl nicht ganz sicher.« »Doch. Ganz sicher.« Jetzt hatte sie es ausgesprochen. Er hatte sie dazu gebracht. »Und die Kirche? Eine gute Idee, die nicht gut ausgegangen ist?« »Die Kirche auf Erden ist wie alle menschlichen Einrichtungen korrupt«, sagte sie. »Aber sie hat uns auch Krankenhäuser, Waisenhäuser und Hoffnung für die Menschheit gebracht. Ohne sie versänke die Zivilisation im moralischen Abgrund.« »Es freut mich, dass Sie das sagen.« In den Augen des Papstes lag Güte und in seiner Stimme ein Anflug von Unsicherheit, als er nun eine Bitte an sie richtete. »Schwester Serghetti, gehen Sie in sich und überlegen Sie sich, ob der Heilige Geist Ihr Herz nicht dazu bewegen könnte, eine heilige Mission zu übernehmen, die Ihrer Berufung als Mutter Erde wahrlich gerecht wird.« Das Einzige, was der Heilige Geist ihr einflüsterte, war, dass hier etwas nicht stimmte. Sie hatte den Vatikan kritisiert und die Kirchengemeinde verlassen. Und jetzt bat sie der Papst, seine offizielle Gesandte zu werden. »Um was für eine Mission handelt es sich denn?« »Wenn ich richtig informiert bin, sind Sie in beobachtender und beratender Funktion offiziell für die Einhaltung des internationalen Antarktisvertrages zuständig.« »Ich berate das Komitee für den Umweltschutz«, sagte Serena. »Aber ich vertrete darin Australien, Heiliger Vater, nicht die Kirche.« Der Papst nickte und klopfte mit den Fingern auf die Armlehne. »Kennen Sie die jüngsten Berichte über seismische Aktivitäten in der Antarktis?« »Selbstverständlich, Heiliger Vater. Ein Gletscher von der Größe Delawares wurde nach dem jüngsten Beben vergangenen Monat abgespalten. Und davor war schon einer von der Größe Rhode Islands abgebrochen. Das könnte sich bald zu einer Fläche von der Ausdehnung der gesamten amerikanischen Ostküste summieren.« »Was würden Sie dazu sagen, wenn ich Ihnen jetzt verrate, dass unser Nachrichtendienst eine geheime und illegale amerikanische Militärexpedition in der Antarktis entdeckt hat? In einem Gebiet, das von Ihrem Land, Australien, beansprucht wird.« »Ich würde sagen, dass die Amerikaner das Madrid-Protokoll von 1991 verletzen, in dem die Antarktis zu einer Friedenszone erklärt wurde, die ausschließlich wissenschaftlichen Forschungszwecken vorbehalten ist. Militäraktionen jeglicher Art sind auf diesem Kontinent verboten.« Serena beugte sich vor. »Woher wissen Sie das alles?« »Vor kurzem sind drei amerikanische Spionagesatelliten aus ihrer ursprünglichen Umlaufbahn verschwunden«, erklärte er ihr. Sie kniff die Augen zusammen. Wie lange war der Vatikan wohl schon dabei, fremde Spionagesatelliten aufzuspüren? »Vielleicht wurden sie ausrangiert oder absichtlich zerstört«, sagte sie. »Ausrangierte US-Satelliten bleiben normalerweise in der Umlaufbahn«, sagte der Papst genauso selbstverständlich, als sprächen sie über die Auslegung des Neuen Testaments. »Außerdem hätte die Sache mehr Wellen geschlagen als das zweite Vatikanische Konzil, wenn bekannt geworden wäre, dass ein Satellit, geschweige denn drei, ausgefallen ist. Aber selbst von amerikanischen Kongressbeobachtern war nichts zu hören.« »Leider übersteigt das meine Sachkenntnis, Heiliger Vater«, sagte Serena. »Was ist da Ihrer Meinung nach passiert?« »Die Satelliten wurden auf Umlaufbahnen gebracht, in denen sie sich langsamer als andere Spionagekameras im All bewegten. Auf diese Weise steht ihnen mehr Zeit zur Verfügung, ihre Ziele zu fotografieren.« »Ziele?« »Normalerweise werden militärische Angriffe kurz vor dem Überflug des Spionagesatelliten durchgeführt, sodass der Schaden aufgezeichnet werden kann, bevor der Feind Zeit findet, alles zu vertuschen. Aber nach den jüngsten seismischen Aktivitäten in der Antarktis hat kein uns bekannter Satellit die ursprünglichen Gebiete überflogen. Das bedeutet, dass einer oder mehrere der vermissten Satelliten offenbar Beobachtungsaufgaben übernommen haben.« »Wollen Sie damit sagen, dass das US-Militär womöglich selbst diese seismischen Druckwellen verursacht?«, sagte sie. »Genau das sollen Sie herausfinden.« Serena lehnte sich zurück. Der Papst hatte keine Veranlassung, sie zu belügen. Aber da steckte mit Sicherheit noch mehr dahinter. Warum sonst sollte der Heilige Stuhl ein solches Interesse an einem verlassenen Kontinent haben, auf dem mehr Pinguine als Katholiken wohnten? »Wollt Ihr mir vielleicht noch etwas sagen?«, fragte sie. »Hat das alles etwas mit Doktor Yeats zu tun?« Der Papst nickte. »Es sieht so aus, als ob er an der amerikanischen Expedition in der Antarktis teilnimmt.« Also hatte es doch etwas mit Conrad zu tun! Allerdings in einem völlig unerwarteten Zusammenhang. »Was könnte der amerikanischen Armee ein Archäologe nützen?« Der Papst schwieg, und Serena begriff augenblicklich, dass der Vatikan sie als Sprachwissenschaftlerin, nicht als Umweltbeauftragte benötigte. Das alles bedeutete, dass die Amerikaner in der Antarktis etwas gefunden hatten. Etwas, was die Sachkenntnis von Archäologen und Sprachwissenschaftlern erforderte. Etwas, was den Vatikan eindeutig erschüttert hatte. Der Papst hatte sich nur deshalb an sie gewandt, weil er keine andere Wahl hatte. Offensichtlich standen die Amerikaner wegen dieser Angelegenheit nicht mit ihm in Kontakt. Was vielleicht nicht geschadet hätte, dachte sie. »Sie möchten mir etwas zeigen, stimmt's, Heiliger Vater?« »Ja.« Mit knotigen Händen rollte der Papst die Kopie einer mittelalterlichen Karte auf seinem Schreibtisch aus. Sie stammte aus dem Jahr 1513. »Diese Karte wurde 1929 im Herrscherpalast des ehemaligen Konstantinopel entdeckt. Sie gehörte einem türkischen Admiral.« »Admiral Piri Reis«, sagte sie. »Es ist die Piri-Reis-Karte.« »Ach, Sie kennen sie?« Der Papst wiegte den Kopf. »Dann kennen Sie das hier sicherlich auch.« Er reichte ihr einen alten Bericht der U.S. Air Force vom 6. Juli 1960, Deckname PROJECT BLUE BOOK. »Das ist mir nicht bekannt«, sagte sie und griff interessiert nach dem dünnen Ordner. »Seit wann hat der Vatikan Zugang zu geheimen Dokumenten des amerikanischen Militärs?« »Zu diesem Bericht hier? Das ist wohl kaum eine Verschlusssache. Der Nachtrag hier schon eher.« Sie blätterte die Seiten durch, die vom Chef der kartografischen Abteilung der Air Force Base in Westover, Massachusetts, verfasst worden waren. Die Luftwaffenoffiziere schlussfolgerten, dass die auf der Piri-Reis-Karte eingezeichneten Teile der Antarktis genau die Kronprinzessin-Martha-Küste und die Palmer-Halbinsel darstellten. Ihr Blick blieb auf der letzten Seite ruhen, wo ein gewisser Lieutenant Colonel Harold Z. Ohlmeyer vom 8. Aufklärungsgeschwader Folgendes geschrieben hatte: Die geografischen Details auf dem unteren Teil der Karte stimmen außergewöhnlich genau mit dem seismischen Profil der Eisschicht überein, das die schwedisch-britisch-norwegische Antarktisexpedition im Jahr 1949 erstellt hat. Das weist darauf hin, dass die Küstenlinie kartografisch erfasst worden war, bevor sie von einer Eisschicht bedeckt wurde. Das Eis in dieser Region ist jetzt etwa eine Meile dick. Es ist uns nicht bekannt, wie sich die Daten dieser Karte mit dem vermutlichen Stand des geografischen Wissens im Jahre 1513 vereinbaren lassen. Es folgte ein von Colonel Griffin Yeats in kraftvoller Handschrift verfasster Nachtrag des Pentagons aus dem Jahr 1970. Serena wusste, dass es sich dabei um Conrads Vater handelte. Ihr stellten sich die Nackenhaare auf. In der Notiz stand: Alle zukünftigen die Piri-Reis-Karte und das SONCHIS-PROJEKT betreffende Berichte müssen der hiesigen Stelle vorgelegt und dementsprechend unter Verschluss gehalten werden. »Sonchis«, sagte sie und klappte den Ordner wieder zu. »Hat das irgendeine Bedeutung?« »Es gab einmal einen ägyptischen Priester namens Sonchis, der Solon, wie von Platon überliefert, einen ausführlichen Bericht über Atlantis gegeben haben soll.« »Auf der Karte von Admiral Reis steht, dass sie auf Karten noch früheren Ursprungs zurückgeht, nämlich aus der Zeit Alexanders des Großen.« »Was genau meinen Sie damit, Heiliger Vater?« »Nur eine hochentwickelte, weltweit agierende Seefahrerkultur, die vor mehr als zehntausend Jahren existiert haben müsste, hätte diese ursprünglichen Karten herstellen können.« Serena kniff die Augen zusammen. »Ihr glaubt, dass die Antarktis nichts anderes als Atlantis ist?« »Und ihr Geheimnis ist zwei Meilen unter dem Eis begraben«, sagte er. »Hier haben wir es nicht einfach nur mit einer erloschenen Zivilisation aus der Vorzeit zu tun, sondern mit der verlorenen Urkultur, die Ihr Freund, Doktor Yeats, sucht. Eine Kultur, die über wissenschaftliche Kenntnisse verfügt, die wir erst noch begreifen müssen.« »Sollte sich das alles bewahrheiten, wird das vieles infrage stellen«, sagte Serena. »Unter anderem auch die kirchliche Auslegung der Schöpfungsgeschichte.« »Oder aber es wird sie bestätigen«, sagte der Papst, der dabei aber nicht sehr hoffnungsvoll klang. »Sollte das der Fall sein, wird es für uns alle unangenehme Folgen haben.« »Ich kann Ihnen nicht ganz folgen, Heiliger Vater.« »Gott hat mir über das Ende der Welt eine Prophezeiung gemacht«, sagte er. »Aber ich habe sie der Kirche noch nicht enthüllt, weil sie zu entsetzlich ist.« Serena saß auf der Stuhlkante. Von ihren grundsätzlichen Bedenken einmal abgesehen, schien der Papst eindeutig im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte und bei klarem Verstand zu sein. »Was haben Sie gesehen, Heiliger Vater?« »Eine wunderschöne, ins Eis gefrorene Rose«, sagte der Papst. »Dann bekam das Eis Risse, und aus den Rissen loderte Feuer, und die Söhne Gottes führten einen Krieg gegen die Kirche und die ganze Menschheit. Zu guter Letzt schmolz das Eis, und Tränen liefen über die Blütenblätter der Rose.« Serena musste an das sechste Kapitel der Genesis denken, in dem es heißt, dass in grauer Vorzeit die ›Söhne Gottes‹ die Menschenfrauen schwängerten. Ihre Abkömmlinge richteten so viel Unheil an, dass Gott sie und die ganze Menschheit in der Sintflut vernichtete, außer Noah und dessen Familie. Aber Serena wusste auch, dass apokalyptische Visionen, ob sie nun aus der Bibel oder aus dem Mund portugiesischer Hirtenmädchen stammten, die Zukunft nicht in äußerster Klarheit und Schärfe beschrieben. Vielmehr fassten sie allgemeine Zukunftsvisionen zusammen und stellten sie vor einen zeitlosen Standardhintergrund von Symbolen, die der Deutung bedurften. »Der Heilige Vater glaubt also, dass diese Vision, der Mythos von Atlantis und die gegenwärtige amerikanische Operation in der Antarktis in engstem Zusammenhang stehen?« »Ja.« Sie versuchte ihre Zweifel zu kaschieren, aber jedes Element für sich genommen spottete jeder Wahrscheinlichkeit. »Verstehe.« »Nein, Sie verstehen gar nichts«, sagte der Papst. »Schauen Sie sich das hier genauer an.« Er hielt eine Pergamentrolle in der Hand. »Das hier ist eine der ursprünglichen Karten, die Admiral Reis vermutlich benutzte. Die Karte schlechthin.« Serena nahm sie dem Papst vorsichtig ab. Kaum hielt sie die Karte selbst in der Hand, spürte sie, wie eine erwartungsvolle Spannung von ihr Besitz ergriff. »Hier steht zwar Sonchis' Name drauf«, sagte der Papst. »Aber der Rest des Schriftstücks ist aus der vorminoischen Zeit.« »Geben Sie mir ein paar Wochen Zeit …« »Ich hatte gehofft, Sie könnten es auf dem Weg in die Antarktis entschlüsseln«, sagte der Papst. »Ich lasse gerade einen Privatjet auftanken.« »Für mich? Aber Sie haben es doch selbst gesagt, Heiliger Vater. Die Stadt liegt, wenn sie denn wirklich existiert, zwei Meilen unter dem Eis. Genauso gut könnte sie auf dem Mars sein.« »Die Amerikaner haben sie entdeckt«, sagte der Papst fest. »Jetzt müssen Sie nur noch die Amerikaner finden. Bevor es zu spät ist.« Der Papst legte eine Hand auf den Globus und die andere auf die Himmelskugel zu seiner Linken. »Derartige Globen wurden 1648 von Joan Blaen, dem Sohn des großen holländischen Kartografen Willem Blaeu, gemalt. Sie bildeten damals die ›moderne Welt‹ ab. Leider wurden Himmel und Erde völlig falsch dargestellt. Schauen Sie, Kalifornien ist eine Insel.« Sie blickte auf die Erdkugel mit ihren Ungeheuern im Meer. »Die Arbeit Blaeus ist mir wohl bekannt, Heiliger Vater.« »Alles, was man damals für wahr und richtig hielt, hat sich als falsch erwiesen«, antwortete er. »Eine Warnung, dass die Welt, so wie wir sie heute sehen, in ein paar Jahrhunderten wahrscheinlich genauso falsch aussehen wird. Oder schon in ein paar Tagen.« »In ein paar Tagen?«, sagte Serena. »Ihre Prophezeiung könnte in ein paar Tagen in Erfüllung gehen, aber Sie haben die Kirche nicht darüber in Kenntnis gesetzt?« »Die geistlichen, politischen und militärischen Konsequenzen wären beängstigend, Schwester Serghetti«, sagte der Papst. Er sprach sie weiter wie eine Nonne an, wie ein Mitglied der Gemeinschaft, nicht wie eine Außenstehende. »Überlegen Sie doch nur, was geschähe, wenn auf der Welt moralische Anarchie herrschte, weil die Menschheit die jüdisch-christliche Tradition fallen gelassen hätte.« »Darüber habe ich sehr wohl nachgedacht, Heiliger Vater. Dieser Tag ist für den Rest der Menschheit außerhalb Roms schon lange gekommen.« Der Papst blieb einen beklemmenden Augenblick lang stumm. Schließlich räusperte er sich und sagte: »Haben Sie sich nie gefragt, warum Sie ursprünglich einer so sicheren und verlässlichen Ersatzfamilie wie der Kirche beigetreten sind?« Serena schwieg. Dieser Frage war sie bisher immer ausgewichen. Um die Wahrheit zu sagen, sie glaubte trotz ihrer offenen Meinungsverschiedenheit mit der Kirche, dass diese eine Hoffnung für die Menschheit darstellte, die einzige Institution, die verhindern konnte, dass die Welt moralisch aus den Fugen geriet. »Vielleicht fiel es Ihnen als Nonne leichter, mit Gott in Einklang zu sein. Vielleicht suchten Sie nach der unbedingten, über jeden Zweifel erhabenen Gewissheit, dass Er sie annimmt.« Der Papst kam der Wahrheit so nahe, dass es Serena fast nicht mehr im Zimmer aushielt. Sie wollte weglaufen und sich verstecken. »Nicht durch meine guten Taten, Heiliger Vater, sondern einzig durch Gottes Gnade und Christi Sühnetod am Kreuz wird meine Seele gerettet.« »Genau das meine ich doch«, sagte der Papst. »Was wollen Sie dem noch hinzufügen?« Die Leere in Serenas Innerem war wie ein dumpfer Schmerz. Sie konnte die Frage des Papstes nicht beantworten, wollte aber etwas sagen, egal was. »Mich in die Antarktis zu verbannen, um die Amerikaner zu entlarven, wird mich auch nicht …« »… endlich Ihrer Berufung als Mutter Erde würdig erweisen?« Der Papst sah sie an wie ein Vater seine Tochter. »Schwester Serghetti, ich möchte, dass Sie in die ›letzte Wildnis‹ der Natur gehen, um Gott zu finden – weit weg von dem allen hier.« Er deutete auf die Bücher und Karten und Kunstwerke. »Nur Sie und der Schöpfer des Universums. Und Doktor Yeats.« Entdeckung plus 23 Tage, 6 Stunden 4 Eisstation Orion Die Kommandozentrale der Eisstation Orion war eine Kapsel mit niedriger Decke, die voll gestopft mit Konsolen und Mitgliedern der Crew war, die im Dunkeln auf ihre flimmernden Monitore schauten. Für Generalmajor Griffin Yeats war sie ein Triumph der Air-Force-Logistik. Sie war in weniger als drei Wochen auf dem wohl unbekanntesten Terrain des Planeten Erde errichtet worden. »Noch dreißig Sekunden, General Yeats«, sagte Colonel O'Dell, Yeats' stiernackiger Erster Offizier aus dem Dunkel über seiner beleuchteten Konsole. Auf dem großen Bildschirm war die Antarktis abgebildet. Aus dem All sah der eisbedeckte Kontinent unwirklich blau aus: eine große Insel, umgeben von den Weltozeanen und einem äußeren Ring aus Landmassen, der Nabel der Welt. Ungläubig starrte Yeats auf den Bildschirm. Genau dieses Bild der südlichen Hemisphäre hatte er schon einmal aus dem Fenster einer Apollo-Kapsel gesehen. Das war schon eine Ewigkeit her, aber dennoch, manche Dinge veränderten sich eben nie. Ihn ergriff ein Gefühl von Ehrfurcht. »Satellit in fünfzehn Sekunden in Position, Sir«, sagte O'Dell. Einen Augenblick lang war das Videobild unscharf. Dann sprang eine riesige Sturmwolke ins Bild. Yeats sah etwas, das wie Spinnenbeine aussah und im Uhrzeigersinn um die Antarktis wirbelte. Es waren zwölf solcher Beine oder ›Perlenschnüre‹ – Tiefdruckfronten, typisch für diese Region. »Ein Wahnsinnssturm«, sagte Yeats. »Geben Sie mir die Brille.« »Sieht so aus, Sir, als hätten wir vier verschiedene Sturmfronten, die sich zu einem Tief zusammenbrauen«, berichtete O'Dell. »Fast viertausend Meilen breit. Groß genug, um die gesamten Vereinigten Staaten abzudecken.« Yeats nickte. »Die Landebahn muss noch mal geräumt werden.« Es wurde still im Raum, nur das leise Summen und Fiepen der Computer und Monitore war zu hören. Yeats merkte, wie ihn seine Offiziere anstarrten. O'Dell räusperte sich. »Sir, wir sollten 696 warnen.« »Nichts da. Ich will Funkstille.« »Aber Sir, Ihr … Doktor Yeats ist an Bord.« »In diesem Flugzeug sind vierzig Leute, Colonel. Und Lieutenant Colonel Lundstrom ist ein ausgezeichneter Pilot. Keine Funkverbindung. Rufen Sie mich, sobald sie landen.« »Jawohl, Sir!« O'Dell salutierte, und Yeats verließ die Kommandozentrale. *** In General Yeats' Quartier rahmte ein bis zum Boden reichendes Fenster die gähnende Eisschlucht draußen ein und bot ihm einen Logenplatz mit Blick auf die Ausgrabungen. Aus der Tiefe wogten Säulen bläulicher Kristallschwaden hoch. Dort lag all das, wonach er und Conrad immer gesucht hatten. Yeats goss sich einen Jack Daniel's ein und setzte sich an den Schreibtisch. Er hatte rasende Schmerzen und hätte am liebsten geheult wie die Fallwinde draußen. Aber er konnte es sich nicht leisten, dass ihn O'Dell und die anderen nicht in Bestform sahen. Er legte den rechten Stiefel auf den Tisch und zog die Hosenbeine hoch, sodass ein vernarbter und verkrüppelter Unterschenkel zum Vorschein kam, sein Abschiedsgeschenk von seinem ersten Auftrag in dieser Eishölle vor mehr als dreißig Jahren. Ein paar Zentimeter unter dem Knie spürte er den pochenden Schmerz. Die Kälte hier unten spielte ihm teuflische Streiche. Aber egal. Es war gut, wieder ein Kommando innezuhaben, dachte er, als er sein schemenhaftes Spiegelbild im gepanzerten Plexiglasfenster erblickte. Selbst jetzt, mit über sechzig Jahren, machte er als Befehlshaber noch eine gute Figur. Die meisten Milchgesichter in der Station hatten keine Ahnung, wer er damals gewesen war. Beziehungsweise wer er hätte sein sollen. Griffin Yeats hätte der erste Mensch auf dem Mars sein sollen. Der Gemini- und Apollo-Veteran war 1968 für diesen Job ausgewählt worden. Der Mars-Shuttle – ursprünglich 1953 vom Raumfahrtpionier Wernher von Braun entwickelt und später von NASA-Konstrukteuren verbessert – hätte am 12. November 1981 die amerikanische Raumstation Freedom verlassen, am 9. August 1982 den roten Planeten erreichen und ein Jahr später wieder zur Erde zurückkehren sollen. Wenn auf die Politik nur genauso Verlass wäre wie auf die Umlaufbahnen der Planeten. 1969 hatte der Vietnamkrieg den Bundesetat erheblich geschwächt, und die Mondlandung hatte vorübergehend den amerikanischen Hunger nach der Erkundung des Alls gestillt. Der Kongress war gegen die Marsmission, und auch Präsident Nixon lehnte sie und das sonstige Raumfahrtprogramm ab. Nur die Spaceshuttles bekamen grünes Licht. Diese katastrophale Entscheidung warf das Marsprojekt um Jahrzehnte zurück, hinterließ ein aufgemotztes Spaceshuttle ohne wirklichen Verwendungszweck und rangierte eine führungslose NASA in Washington auf das politische Abstellgleis. Außerdem machte diese Entscheidung Yeats' Träume vom Ruhm zunichte. Das Summen der Gegensprechanlage riss Yeats aus seinen Gedanken. Es war O'Dell, der sich aus der Kommandozentrale meldete. »Sir, wir haben sie auf dem Radar. Noch zwanzig Minuten bis zur Landung.« »Wie weit sind wir mit der Landebahn?« »Wird gerade geräumt, Sir, aber der Sturm …« »Keine Ausreden, Colonel. Bin gleich da. Bis dahin sind Sie auf dem neusten Stand.« Yeats nahm noch einen Schluck Whiskey und starrte nach draußen. Damals, als Nixon die Marsmission aussetzte, war Yeats hier in der Antarktis gewesen, vierzig Tage lang in einem speziell konstruierten Lebensraum eingesperrt, der exakt die erste Marslandung simulieren sollte. Sie waren ein Team von vier Leuten gewesen, ausgestattet mit zwei Marslandefähren, einem Atomkraftwerk und einem Geländefahrzeug, mit dem sie das umliegende Gebiet erkundeten. In der Antarktis war es genauso kalt wie auf dem Mars und fast ebenso windig. Die Schneestürme hatten dieselbe Kraft wie die Sandstürme auf dem Mars. Vor allem aber war der Kontinent sozusagen fast so entlegen wie der rote Planet. In dieser extremen Abgeschiedenheit würde sich der wahre Charakter der Crew-Mitglieder zeigen. Für Yeats hatte die damalige Erfahrung sein Leben auf ungeahnte Weise für immer verändert. Vier Menschen hatten diese Mission angetreten. Nur einer kam hinkend, aber lebendig wieder zurück. Aber mit welcher Perspektive? Um als verknöchertes Relikt eines alten Weltraumprogramms durch die Untergeschosse des Pentagons zu geistern? Um ein Waisenkind aufzuziehen? Um als Folge davon seine Frau und Töchter zu verlieren? Ihm war alles genommen worden. Jetzt holte er es sich zurück. Entdeckung 5 plus 23 Tage Im Frachtraum des C-141 Starlifter war es eiskalt, als Conrad aus dem Schlaf gerissen wurde. Müde und verärgert rieb er sich die Augen. Er saß zusammen mit zwei Dutzend Soldaten der Special Forces angeschnallt da. Die Soldaten trugen Polaranzüge und waren mit isolierten M-16 ausgestattet. Noch ein Rütteln. Sie waren die meiste Zeit durch einen klaren Himmel und über endloses Weiß hinweggeflogen. Jetzt aber schwebten sie in einer trüben Suppe, und die Turbulenzen wurden von Sekunde zu Sekunde heftiger. Die riesigen Frachtcontainer im Rumpf verschoben sich und zerrten bei jedem Ruck quietschend an ihren Halterungen. Conrad blickte auf sein mit mehreren Sensoren ausgestattetes GPS-Gerät, das sich eines Netzwerks von 27 Satelliten bediente, um jede Position auf der Welt mit maximal 30 Metern Abweichung angeben zu können. Die letzten 16 Stunden, die er in verschiedenen Militärflugzeugen zugebracht hatte, mussten die Lithium-Batterie aufgebraucht haben, jedenfalls blieb die Anzeige für die Breiten- und Längengrade leer. Der eingebaute Kompass hingegen drehte sich heftig – NO, SO, SW, NW. Vermutlich näherten sie sich einem Pol, höchstwahrscheinlich dem Südpol. Er wandte sich dem Soldaten zu, der mit steinerner Miene neben ihm saß, und brüllte gegen das Heulen der Strahltriebwerke an: »Ich dachte, das Militär wäre aus der Antarktis verbannt.« Der Soldat prüfte sein M-16, starrte geradeaus und antwortete: »Welches Militär?« Conrad stöhnte auf. Mit genau diesen Lügen hatte er sich als Sohn von Griffin Yeats, einem ausgemusterten NASA-Astronauten, dem es irgendwie gelungen war, durch die dunklen Korridore der Macht im Pentagon zum Air-Force-General aufzusteigen, schon sein Leben lang herumschlagen müssen. Vater Yeats war der festen Auffassung, dass die Wahrheit nur auf einer strikten ›Nur das Allernötigste‹-Basis preisgegeben werden sollte, angefangen mit den Umständen von Conrads Geburt. Laut Yeats' offizieller Version der Geschehnisse war Conrad angeblich das Produkt eines One-Night-Stands eines gewissen Captain Rick Conrad und einer anonymen Stripperin in Daytona Beach. Als Captain Conrad während eines Ausbildungslehrgangs in der Antarktis starb, setzte die Frau ihr uneheliches Kind vor dem Eingang des Krankenreviers in Cape Canaveral aus. Kurz darauf starb sie an einer Überdosis Drogen. Um das blitzsaubere Image ihrer Astronauten vor unschönen Kratzern zu bewahren, verzichtete die NASA auf den üblichen Behördenkram und gestattete Captain Conrads Vorgesetztem und bestem Freund, Major Griffin Yeats, den Jungen zu adoptieren. Als er älter wurde, begann Conrad jedoch die Richtigkeit der Geschichte anzuzweifeln. Genau wie seine Stiefmutter Denise. Sie hatte von Anfang an geargwöhnt, dass Yeats der leibliche Vater Conrads war und Captain Conrads Tod nur als willkommenen Vorwand benutzt hatte, um die Geburt eines unehelichen Sohnes zu vertuschen. Kein Wunder, dass sie sich, als Conrad acht war, scheiden ließ und mit ihren Töchtern, damals neun und elf Jahre alt und Conrads einzige Vertrauten, wegzog. Nachdem er schließlich jahrelang von einem Stützpunkt zum anderen und von einem Elend ins nächste gezogen war, wurde Conrad aufmüpfig. Er wurde mehrere Male aus der Schule geschmissen und begann sich mit Yeats heftigst auseinander zu setzen. Yeats leugnete nicht nur alles, sondern weigerte sich auch, seine Beziehungen in der Regierung spielen zu lassen, um Conrads leibliche Eltern ausfindig zu machen. Das allein war für Conrad Grund genug, diesen Mann zu hassen. Schon zu diesem Zeitpunkt war klar, dass General Yeats sich nicht darum scherte, was Conrad oder sonst jemand von ihm hielt. Trotz seiner gescheiterten Karriere als Astronaut wurde Yeats ständig befördert, bis er schließlich seinen Generalsstern und gleichzeitig die Leitung des geheimnisvollen Verteidigungsprojekts des Pentagons – Defence Advanced Research Projects Agency oder kurz: DARPA – zugeteilt bekam. Dank der finanziellen Unterstützung der Reagan-Regierung in den Achtzigerjahren erfanden Yeats und sein aus militärischen Außenseitern bestehendes Team ›unter anderem‹ das Internet, das GPS-System, die Computermaus und das Tarnkappen-Flugzeug. Der jetzige Auftrag, dessen war sich Conrad sicher, fiel in die Kategorie ›unter anderem‹. Aber worum ging es dabei genau? Conrad hatte schon lange vermutet, dass unter dem Eis der Antarktis eine sagenhafte Entdeckung zu machen war. Schließlich war die östliche Antarktis ein uralter Kontinent, auf dem sogar einmal tropisches Klima geherrscht hatte. Offensichtlich hatte Yeats etwas entdeckt und brauchte ihn jetzt. Vielleicht war es aber auch nur der jämmerliche Versuch einer Vater-Sohn-Versöhnung. Zwei kräftige Triebwerksschübe holten Conrad zurück in den eisigen Flugzeugrumpf des C-141. Ohne zu fragen löste er den Gurt und stolperte in Richtung Cockpit, wobei er sich, so gut es ging, an den einzelnen Spanten des Rumpfs festhielt. Das gläserne Cockpit sah täuschend hell und luftig aus. Durch die Scheibe sah Conrad nichts als Weiß. Lundstrom saß auf dem Pilotensitz und schnauzte den Kopiloten und den Navigator an. Die Triebwerke heulten derart laut, dass Conrad nichts verstehen konnte. »Kann ich vielleicht erst mal diese phänomenale Entdeckung sehen, bevor ihr mich umbringt?«, brüllte er. Lundstrom drehte sich um und sah ihn über die Schulter an. Er wirkte sichtlich verärgert. »Setzen Sie sich wieder, Doktor Yeats. Wir haben alles unter Kontrolle.« Die Besorgnis in den Augen des Piloten war jedoch unübersehbar. Plötzlich wusste Conrad auch, wo er ihn schon einmal gesehen hatte. Noch vor vier Jahren, erinnerte er sich, war Lundstrom Kommandant eines Spaceshuttles gewesen. Sein Lederhandschuh versteckte eine Hand, die vor seinem abgebrochenen dritten Einsatz bei einer Explosion auf der Abschussrampe zusammen mit einem Drittel seines Körpers schwer verbrannt und entstellt worden war. »Also wirklich, Lundstrom«, sagte Conrad, »im Spaceshuttle war es garantiert nicht so turbulent.« Lundstrom schwieg und konzentrierte sich auf die Steuerung. Conrad überflog das Wetterradar und sah die vier Wirbelstürme, die sich zu einem Tief zusammenbrauten. »Fliegen wir direkt da rein?« »Wir rutschen hinter der einen und vor der anderen Tieffront durch, bevor sie zusammentreffen«, sagte Lundstrom. »Von McMurdo aus hat man uns verständigt, dass die Rückenwinde der ersten Front hundert Knoten nicht überschreiten. Dann fliegen wir vor die andere Tieffront, wo uns der Rückenwind mit ungefähr hundertzwanzig Knoten aufs Eis hinunterschiebt.« »Ohne auseinander zu brechen?« Conrad wusste, dass es sich bei McMurdo um den größten amerikanischen Stützpunkt auf dem Kontinent handelte. Er befand sich auf dem Ross-Schelfeis. »McMurdo hat doch eine große Landebahn. Warum landen wir nicht dort und versuchen es morgen noch einmal? Warum so eilig?« »Bald werden wir keine günstige Gelegenheit zum Landen mehr haben.« Lundstrom klopfte auf den Radarschirm. »Morgen haben sich die beiden Fronten zu einem üblen Sturmtief zusammengefunden. Gehen Sie jetzt wieder auf Ihren Platz.« Conrad setzte sich hinter den Navigator. »Bin ich schon.« Lundstrom blickte zu seinem Kopiloten hinüber. Conrad konnte ihr Spiegelbild in der Cockpitverglasung sehen. Anscheinend waren sie sich einig, dass er genauso gut auch dort sitzen konnte. »Dank Ihrer Akte sind wir vorgewarnt, dass Sie Ärger machen könnten«, sagte Lundstrom. »Wie der Vater, so der Sohn.« »Er ist nicht mein richtiger Vater und ich bin nicht sein richtiger Sohn.« Das hoffte er zumindest in diesem Augenblick. Wie die meisten Amerikaner, so vermutete auch er, dass irgendwo in Washington irgendwelche Unterlagen über ihn existierten. Lundstrom hatte es ja gerade eben bestätigt. »Oder stand das etwa nicht in meiner Akte?« »Das und ein paar psychiatrische Gutachten«, sagte Lundstrom, der es offenbar genoss, Conrad hinzuhalten. »Albträume vom Ende der Welt. Schocktherapie. Keine Erinnerung an die Zeit, bevor Sie fünf waren. Sie waren als Kind ziemlich verkorkst.« »Sie hatten vermutlich nicht das Vergnügen, beim Stillen mit LSD verseuchte Milch bekommen zu haben«, sagte Conrad. »Und hatten wahrscheinlich mit sechs noch keine ausgewachsenen Traumata. Oder haben Sie etwa auch irgendwelche kleinen Air-Force-Bälger vermöbelt, weil die sich über Sie lustig gemacht haben?« Lundstrom war mit den Kontrollfunktionen beschäftigt und schwieg einen Augenblick. Aber Conrads Interesse war geweckt. »Was steht denn sonst noch in meiner Akte?« »Nur dieser Scheiß, den Sie sich beim Golfkrieg in den Neunzigerjahren geleistet haben.« Damals war Conrad noch auf der Hochschule gewesen. »Alte Geschichte.« »Genau«, sagte Lundstrom. »Irgendwas mit sowjetischen MiGs und dem Zikkurat in Ur.« Conrad nickte. Vor viertausend Jahren war Ur die Hauptstadt der Sumerer im Lande Abrahams gewesen. Jetzt lag sie unter dem Sand des heutigen Iraks begraben. »So ungefähr.« »Was genau?« Lundstrom schien nun seinerseits neugierig zu werden. Anscheinend stand doch nicht alles in Conrads Akte. »Die Iraker hatten die fiese Angewohnheit, ihre Militäranlagen in der Nähe von archäologischen Stätten zu errichten, gewissermaßen als Schutzschild«, sagte Conrad. »Als dann die US-Satelliten zwei sowjetische MiG-21 in der Nähe der alten Zikkurat in Ur entdeckten, hat das Pentagon daraus den Schluss gezogen, dass die Iraker dort ihre Kampfjets stationierten, um einen Bombenangriff zu verhindern.« Lundstrom nickte. »Daran kann ich mich erinnern.« »Außerdem wurde vermutet, dass sich Hussein höchstpersönlich in der Tempelanlage verschanzt hat«, fuhr Conrad fort. »Deshalb habe ich die notwendigen Informationen für das Zielgebiet geliefert, damit man eine Maverick-Rakete darauf abfeuern konnte.« »Eine Maverick? Das waren doch diese Luft-Boden-Raketen zum Bunkersprengen. Erzählen Sie keinen Scheiß.« »Nur eine Maverick konnte die Pyramide von innen heraus so sprengen, dass die Explosion wie eine irakische Panne aussah.« »Dann lassen Sie einfach ein derart bedeutendes Kulturgut vom Erdboden verschwinden, nur um einen drittklassigen Despoten zu töten?« Lundstrom war sichtlich schockiert. »Sie sind mir vielleicht ein Archäologe!« »Jedenfalls einer, den ihr Leute dringend zu brauchen scheint«, sagte Conrad. »Also, sagen Sie mir jetzt endlich …« Plötzlich wurde die Crew von einem dröhnenden Heulen aufgeschreckt. Lundstrom griff nach dem Steuerknüppel. Der Kopilot kontrollierte die Instrumente. »Seitenwinde von 250 Knoten auf 80 Grad gedreht.« »Veränderte Windrichtung.« Lundstrom stellte die Steuerung neu ein. »Mist, das ist hart. Sieht so aus, als wären wir mitten in einen Jetstream geraten.« Conrad klammerte sich am Sitz fest, während das Flugzeug durch heftige Turbulenzen flog. Der Kreiselkompass drehte sich wie wild. »Der Kreisel spielt verrückt«, rief der Navigator. »Suchen Sie einen Fixpunkt am Himmel«, brüllte Lundstrom. Der Navigator drehte sich zu dem Libellensextanten über ihm und versuchte ihre gegenwärtige Position mithilfe der Gestirne zu bestimmen. Aber er schüttelte den Kopf. »Die Suppe ist zu dick, um richtige Werte zu bekommen.« »Schon mal was von GPS gehört?«, schrie Conrad gegen den Lärm an. »Bringt nichts bei einem EMP.« Elektromagnetischer Puls?, dachte Conrad. Derartige Störfelder, die von nuklearen Explosionen ausgelöst wurden, besaßen enorme Feldstärken, die moderne elektronische Kommunikationssysteme nachhaltig stören und beschädigen konnten. Das erklärte auch, warum sie mit einer derart alten Kiste flogen. Was zum Teufel trieb Yeats da unten im Eis? »Wie wär's mit einem Doppler-Navigationssystem?« »Nein.« »Hören Sie mal zu, Lundstrom. Wir müssen dem Tower in McMurdo SOS funken. Wie weit sind wir noch davon entfernt?« »Sie haben immer noch nicht verstanden, Conrad«, sagte Lundstrom. »Wir landen nicht auf McMurdo. Wir landen woanders.« »Das Problem ist nur, dass wir nicht bis dahin kommen, Lundstrom. Wir müssen Kurs auf McMurdo nehmen.« »Zu spät«, sagte Lundstrom. »Wir haben den ›point of safe return‹ schon überschritten. Für die Rückkehr reicht der Treibstoff nicht.« »Wir sitzen mit Yeats und eurem traurigen Haufen aus Washington ganz schön in der Tinte.« Der Navigator brüllte: »Heftiger Gegenwind – 100 Knoten. Unsere Geschwindigkeit über Grund sinkt rapide – 150 Knoten!« Die vier Triebwerke kämpften mühsam gegen den Wind an. Conrad konnte die Heftigkeit des Luftwiderstands anhand der Vibrationen des Flugzeugs ermessen. Die Erschütterung stieg ihm mit ungezügelter Kraft spiralenförmig die Beine hoch, und seine Eingeweide schienen sich aufzulösen. Für einen Toten fühlte er sich allerdings noch ziemlich lebendig, und das wollte er auch bleiben. »Wenn das so weitergeht, fliegen wir bald rückwärts«, murrte er. »Gegenwind 175 Knoten«, rief der Navigator. »200! 225!« Lundstrom überlegte sich anscheinend eine neue Strategie. »Triebwerke eins und vier abstellen.« »Verstanden«, sagte der Bordingenieur und stellte zwei Triebwerke ab. »Geschwindigkeit über Grund sinkt weiter.« Der Navigator klang ziemlich verzweifelt. »Treibstoff fast verbraucht.« »Wie wär's mit einer Notlandung auf dem Eis?«, schlug Conrad vor. »Wär möglich«, sagte Lundstrom. »Aber unser Vogel hat Räder, keine Kufen.« »Machen Sie eine Bauchlandung!«, schrie Conrad. »Geht nicht«, sagte Lundstrom. »In dieser Brühe da unten schlittern wir wahrscheinlich in einen Eisberg.« Eine kräftige Windbö schlug seitlich so heftig gegen das Flugzeug, dass Conrad befürchtete, es würde sich rückwärts überschlagen und aufs Eis trudeln. Lundstrom schaffte es irgendwie, die Maschine oben zu halten. »Sie müssen was unternehmen«, rief Conrad. »Werfen Sie die Ladung ab!« »Eher würde General Yeats uns abwerfen.« »Dann müssen wir SOS funken.« »Geht nicht. Absolutes Funkloch. Das Funkgerät bringt nichts.« Conrad konnte es nicht glauben. »Quatsch. Das hier ist eine Geheimmission. Da gibt's verdammt noch mal kein Funkloch. Yeats will nur alles geheim halten.« Er rutschte hinter das Funkgerät und machte Anstalten, sich den Kopfhörer aufzusetzen, was bei dem Ruckeln nicht so einfach war. »Was machen Sie da?«, wollte Lundstrom wissen. Conrad streifte den Kopfhörer über. »Hilfe anfordern.« Er hörte ein Klicken, das aber nicht aus dem Kopfhörer kam. Es war eine Waffe, die entsichert wurde. Er drehte sich um und sah, wie Lundstrom mit einer 9 mm Glock Automatik auf ihn zielte. Es war Conrads Waffe, jene, die man ihm in Peru abgenommen hatte. »Bewegen Sie Ihren Arsch wieder auf Ihren Sitz, Doktor Conrad.« »Ich bin auf meinem Platz.« Conrad schaltete das Funkgerät an. Leises knisterndes Summen. »Sie können mich jetzt nicht umbringen. Sie brauchen mich, Lundstrom. Gott weiß, warum. Legen Sie also meine Pistole weg. Sie ist schon mal aus Versehen losgegangen. Wenn es weiter so ruckelt, verfehlen Sie womöglich meinen Kopf und schießen ein Loch in die Scheibe.« Lundstrom sah auf den tobenden Himmel hinaus. »Sie können mich mal.« Conrad war sich der Pistole hinter ihm deutlich bewusst, während er sich über das Mikrofon beugte und die Frequenz einstellte. »Unsere Flugzeugkennung und unsere Frequenz?« Lundstrom zögerte. Ein heftiger Ruck schleuderte ihn fast aus dem Sitz. Die Turbulenzen rüttelten am Cockpit. Lundstrom senkte die Waffe. »Sechs-neun-sechs«, rief er und griff hinüber, um selbst die Frequenz einzustellen. Conrad knipste das Mikrofon an. »Hier sechs-neun-sechs. Das ist ein Notruf.« Keine Antwort. »Hier sechs-neun-sechs«, wiederholte er. »Das ist ein Notruf.« Wieder keine Antwort. »Sehen Sie!«, rief der Navigator. »Die Eisstation Orion.« »Eisstation Orion?« Conrad war verdutzt. Der Nebel lichtete sich kurz und gab den Blick auf die Eiswüste frei. So weit das Auge reichte, sah Conrad ein Bergpanorama aus dem Eis ragen. An den Seiten der gezackten Gipfel kleckste Schnee wie Schlagsahne in ein riesiges Tal, das durch einen halbmondförmigen schwarzen Spalt im Eis gekennzeichnet war. In der Wölbung der Sichel lag eine Ansiedlung mit Kuppeln, Schuppen und Türmen. Conrad sah alles vorbeihuschen, bevor sie wieder vom Nebel verhüllt wurden. »Da wollen wir hin?«, fragte Conrad. Lundstrom nickte. »Hoffentlich finden wir die Piste.« »Die Piste?«, sagte Conrad. Eine neuerliche Turbulenz mit Blitz und Donner schleuderte ihn fast aus dem Sitz. Hätte er sich nicht angeschnallt, wäre sein Kopf jetzt Teil des Instrumentenbretts gewesen. »Genau, die Landebahn«, sagte Lundstrom. »Aus dem Eis gebaggert.« »Landen wir etwa in diesem Schneegestöber?« Conrad blickte aus dem Cockpit auf die wirbelnden Schneemassen. Leuchtsignale und Landebahnlichter konnten bei dem gegenwärtigen Whiteout nichts ausrichten. Bei dem diffusen Licht waren weder Schatten noch ein Horizont zu erkennen. Beim Überfliegen der einförmigen weißen Oberfläche war es unmöglich, die Höhe oder Entfernungen einzuschätzen. Selbst Vögel legten bei solchen Verhältnissen nicht selten einen Crash hin. »Ihr seid völlig verrückt. Ihr leidet doch unter einer Borderline-Störung.« Das Funkgerät knackte. »Sechs-neun-sechs. Hier ist der Tower.« Es war eine barsche, sonore Stimme. »Wiederhole. Tower ruft sechs-neun-sechs.« »Hier sechs-neun-sechs«, sagte Lundstrom und nahm das Mikrofon. »Tower, sprechen Sie.« Der Fluglotse am anderen Ende sagte: »Seitenwinde auf 15 Grad mit Böen bis 40 Knoten. Sicht absolut null.« Conrad war klar, dass Lundstrom jetzt am Überlegen war, und wog ab, ob er die Sache jetzt einfach an sich reißen oder lieber in den Frachtraum gehen sollte, um dort um ein Wunder zu beten. »Sir, der Wind dreht sich. Sturmböen mit 60 Knoten«, brüllte der Navigator. Conrad riss das Mikrofon wieder an sich. »Mit dieser Blechkiste auf dem Eisblock zu landen ist reinster Selbstmord. Das wissen Sie ganz genau.« »Die Such- und Rettungsmannschaften stehen bereit«, sagte der Fluglotse. »Over.« Conrad starrte in den Nebel hinaus, während Lundstrom den Landeanflug vorbereitete. Bei diesem Schneetreiben war die Sicht gleich null. Plötzlich brach der Vorhang wieder auf, und direkt vor ihnen tauchte eine Reihe schwarzer Ölfässer auf. Die Piste selbst war mit Leuchttafeln gekennzeichnet. »Wir fliegen zu tief«, sagte Conrad. »Landeanflug beginnen«, befahl Lundstrom. Der Kopilot drosselte behutsam den Motor und bemühte sich, die Triebwerke synchron zu halten. Das Funkgerät knackte. Der Fluglotse gab die Anweisung: »Beginnen Sie den Landeanflug, wenn ich ›jetzt‹ sage.« »Roger.« »Sie befinden sich genau im Anflugwinkel.« »Roger«, sagte Lundstrom. Die Maschine sackte mit einem Schütteln ab, das einem durch Mark und Bein ging. Conrad zog die Sitzgurte fester und hielt die Luft an. »Sie fliegen zu tief«, warnte der Lotse. »Drosseln Sie die Sinkgeschwindigkeit, und steuern Sie zwei Grad nach backbord!« »Roger.« Lundstrom zog behutsam an der Steuerung, und Conrad merkte, wie die C-141 sich wieder fing. »Sie befinden sich wieder im Anflugwinkel«, sagte der Lotse. »Sie kommen genau auf die Bahn. Noch zwei Meilen bis zum Aufsetzen …« Vor der Windschutzscheibe konnte Conrad nichts als eine weiße Wand erkennen. »… noch eine Meile …« »… eine halbe Meile …« »… eine Viertelmeile …« »… aufsetzen …« Conrad und Lundstrom sahen sich an. Sie waren noch in der Luft. »Tower?«, sagte Lundstrom. Eine Ewigkeit war nichts zu hören. Dann ein knirschendes Krachen. Die Soldaten stürzten wie Dominosteine aufeinander und hingen dann wie schwerelos in ihren Gurten. Die Halteseile im Rumpf rissen, und die Fracht rutschte nach vorn. Conrad hörte ein Krachen, drehte sich um und sah, wie mehrere Metallcontainer durch das Flugzeug in Richtung Cockpit flogen. Er duckte sich. Etwas zischte dicht an ihm vorbei und traf Lundstrom am Kopf, sodass dieser mit dem Gesicht auf das Instrumentenbrett schlug. Gerade als das Packeis durch die Cockpitverglasung krachte und alles im Dunkeln zusammenbrach, griff Conrad nach dem Steuerknüppel. Entdeckung 6 plus 23 Tage, 7 Stunden Das Piepen der Funksignale brachte Conrad schließlich wieder zu Bewusstsein. Er blinzelte in das Schneegestöber. Langsam wurde das Bild scharf. Durch den zerstörten Rumpf sah er Teile des Frachtguts verstreut auf der Eisdecke liegen. Er blickte zu Lundstrom hinüber. In den Augen des Piloten lag eiskaltes Grauen, in seinem aufgerissenen Mund ein erstarrter Schrei. Dann sah Conrad das Stück Metall aus dem Schädel des Mannes ragen. Lundstrom hatte den Aufprall nicht überlebt. Conrad schluckte und schnappte nach Luft. Die Antarktisluft drang in die Lunge und schien dort zu gefrieren. Er war wie benebelt, ihm war schwindlig. Das sieht nicht gut aus, sagte er sich, überhaupt nicht gut. Seine Körpertemperatur sank. Bald würde der Kältetod eintreten. Er würde das Bewusstsein verlieren, und sein Herz würde aufhören zu schlagen. Es sei denn, er unternahm etwas. Er tastete nach dem Sicherheitsgurt, aber seine Finger ließen sich nicht bewegen. Die rechte Hand war am Sitz festgefroren. Die Fingerkuppen wiesen weiße Frostbeulen auf. Die Blutgefäße hatten sich verengt, und das Gewebe starb langsam ab. Conrad ließ seinen Blick durch das Cockpit schweifen und bemühte sich, nicht in Panik zu geraten. Mit der tauben linken Hand, die von einem Handschuh geschützt wurde, griff er nach der Thermosflasche hinter Lundstroms Leiche. Er hantierte daran herum, bis der Verschluss aufsprang. Dann goss er sich den heißen Kaffee über die rechte Hand. Er löste die dampfende Hand vom Sitz und betrachtete die verbrannte Handfläche, die blutig und voller Blasen war. Er war von der Kälte so betäubt, dass er keinen Schmerz empfand. Er schleppte sich zum Kopiloten und horchte an dessen Mund. Er atmete, aber nur noch kaum. Beim Navigator dasselbe. Hinten stöhnten Soldaten. Conrad griff nach dem Sendegerät. »Hier sechs-neun-sechs«, sprach er hastig ins Mikrofon. »Das ist ein Notruf. Wir fordern Hilfe.« Keine Antwort. Er regulierte die Frequenz. »Sechs-neun-sechs hier, ihr Scheißkerle«, rief er. Welche Frequenz er auch einstellte, er kam nicht durch. Nach einigen Minuten ergebnislosem Zischen war die Leitung schließlich ganz tot. Ihm wurde klar, dass niemand mehr seinen Hilferuf empfangen würde. Auf der vergeblichen Suche nach einem Ersatzgerät arbeitete er sich durch die Trümmer des Cockpits. Irgendwo mussten sie doch ein Funkfeuer haben oder auch ein satellitengestütztes Notfunksystem. Es sei denn, Lundstrom und seine Mannschaft wollten in so einem Fall gar nicht gefunden werden. Das Einzige, was er entdeckte, und zwar in seinem Gepäck, war ein Leuchtstab. Als ob der ihm jetzt etwas nutzte. Welch erbärmliche Art zu sterben, dachte er, als er den Leuchtstab ansah. Da überlebt man nun einen Flugzeugabsturz, nur um ›Eis am Stiel‹ zu werden. Mein Gott, wie er die Kälte hasste. Schon als kleines Kind hatte er sie gehasst, und im Schnee zu sterben war das Allerletzte, was er wollte. Für ihn würde das bedeuten, sich nicht so weit von zu Hause entfernt zu haben, wie er sich immer erhofft hatte. Und er würde sich niemals mit seinem Vater versöhnen können. Ironie des Schicksals?, dachte er, während er die Temperatur auf seiner Multisensoren-Uhr ablas. Das Digitalthermometer zeigte minus acht Grad Celsius an. Er stutzte, sah genauer hin und merkte, dass er eine Ziffer übersehen hatte. Es waren minus 88 Grad. Conrad sank zu den anderen auf den Boden und spürte, wie seine Augenlider schwer wurden. Er versuchte mit aller Kraft, wach zu bleiben, aber vergebens. Er drohte in Ohnmacht zu fallen. Plötzlich erzitterte der Boden, und er glaubte ein Bellen zu hören. Er öffnete die Augen, schleppte sich zu seinem Rucksack und schaffte es, ihn sich über die Schulter zu hängen. Dann tastete er mit langsamen Handbewegungen nach seinem Leuchtstab und ließ sich durch ein Loch im Rumpf aufs Eis fallen. Der Aufschlag weckte ihn aus seinem Tran. Conrad kam schwankend wieder auf die Beine und blickte über die Eiswüste. Nichts war zu sehen. Außer dass es jetzt noch heftiger schneite. Auf einmal tauchte ein riesiges Zugfahrzeug aus dem Nebel auf. Es sah wie einer dieser großen schwedischen Hägglunds aus. Die beiden Kabinen aus Fiberglas waren miteinander verbunden. Das Fahrzeug bewegte sich auf Gummibändern, die breite Waffelspuren im Schnee hinterließen. Conrad brach den Leuchtstab und wedelte mit ihm in der Luft. Seine Arme fühlten sich schwer an, und er spürte nicht, dass er den Stab in der Faust hielt. Der Hägglunds kam durch den Schnee gepflügt und blieb vor ihm stehen. Bei der vorderen Kabine öffnete sich eine Tür. Ein weißer Husky sprang heraus und lief an Conrad vorbei zu dem Wrack. Conrad hörte ein Klirren. Eine große Gestalt mit weißen Stiefeln tauchte aus dem Hägglunds auf und stieg die Sprossen der kleinen Leiter herab auf das Packeis. An der hoch aufragenden Gestalt und den knappen, sparsamen Bewegungen erkannte Conrad, dass es sein Vater war. In dem weißen Polaranzug, die Schutzbrille gegen den blendenden Schnee mit Kohle beschmiert, ging Yeats steif und mit großen Schritten, die im tiefen Schnee knirschten, auf ihn zu. »Was zum Teufel machst du da?«, fragte er und nahm ihm den Leuchtstab aus der Hand, ließ ihn in den Schnee fallen und zermalmte ihn mit dem Stiefel. »Du hast schon genug Aufsehen erregt.« In Conrads Innerem sprudelte plötzlich unbändige Wut hoch. Wut auf Yeats und auf sich selbst, weil er es zugelassen hatte, dass sein Vater über die Zeit hinweg die Hand nach ihm ausgestreckt hatte, um ihn nun wieder in seine Eishölle hineinzuziehen. »Lundstrom ist tot und die Hälfte deiner Mannschaft auch«, fauchte Conrad und deutete mit seiner erfrorenen Hand auf das Flugzeug. Yeats blickte über die Schulter auf das Wrack und sprach gleich darauf in sein Funkgerät. »Such- und Bergungstrupp«, brüllte er. »Möglichst viel von der Fracht bergen, bevor der Sturm uns lebendig begräbt.« Conrad schaute auf das Wrack mit den toten und halb toten Männern, das unter dem gnadenlosen Schnee bald in Vergessenheit geraten würde. Der Husky kam mit einer Armbanduhr im Maul herbeigetrottet. Seine Schnauze war mit gefrorenem Blut verschmiert. Conrad spürte ihn an seinem Bein vorbeistreifen und sah dann, wie er zu dem Hägglunds lief. »Nimrod!«, rief Yeats dem Hund hinterher, aber der Husky kratzte schon an der Tür des Führerhauses. »Nimrod ist der Einzige hier, der einigermaßen Verstand hat.« Conrad ging neben Yeats auf den Hägglunds zu. »Ich muss jetzt wohl hier in der Antarktis bleiben. Da kann ich genauso gut ins Warme gehen.« Als er das Führerhaus erreichte und nach dem Türgriff langte, versperrte ihm Yeats jedoch den Weg. »Mein Junge, du hast meinen Funksperrebefehl gebrochen.« Yeats stand wie eine Statue mitten im Schneegestöber. »Du hast die Basis hochgehen lassen.« »Mach dir nicht in die Hosen, Dad.« Mit einem Ruck machte Conrad die vereiste Kabinentür auf und ließ Nimrod vor sich in das warme Führerhaus springen. »Bei dieser Kälte fällt dir sonst vielleicht noch was ab.« *** Conrad inspizierte seinen Verband, während er Yeats einen kälteisolierten Gang hinunter ins Innere der geheimnisvollen Eisstation Orion folgte. Auf der Krankenstation hatte ein Arzt die Hand notdürftig verbunden. Jetzt, wo sie auftaute, tat sie fürchterlich weh. Aus versteckten Lautsprechern rieselte klassische Musik. Von dem tobenden Sturm trennten sie nur die dünnen Styroporwände. Zwanzig Zentimeter und die leisen Klänge der Sinfonie Nr. 25 in g-Moll. »Mozart«, sagte Yeats. »Mit irgendwelchen Scheißexperimenten wurde bewiesen, dass klassische Musik das Herz-Kreislauf-System positiv beeinflusst. In zehn Jahren wird es Blues oder Rap sein oder was diese Idioten sonst antörnt.« Sie passierten eine Luftschleuse zu einem weiteren Modul, und Conrad verspürte ein seltsames Schwindelgefühl. Die obere Hälfte der Kapsel sah genau wie die untere aus. Die Decke war voll mit Kontrolltafeln, Stromkreisunterbrechern, Temperaturanzeigen und Übertragungsgeräten. Die Uhren auf den Kontrolltafeln waren wie Yeats' Armbanduhr auf die Zeitzone von Houston eingestellt. Nun erst fiel Conrad so richtig auf, dass überall NASA-Abzeichen zu sehen waren, und ihm wurde plötzlich klar, dass die Eisstation Orion ursprünglich nicht für den Einsatz auf der Erde bestimmt gewesen war. Sie war wahrscheinlich als Raumstation in der Erdumlaufbahn oder auf den Polarkappen des Mars gedacht gewesen, wo man das Eis für die lebensnotwendige Wasserversorgung anzapfen konnte. »Was zum Teufel ist das hier?«, fragte Conrad. »Willkommen in der unzugänglichsten menschlichen Ansiedlung unseres Planeten, mein Sohn.« Sie bogen um eine Ecke, wo Conrad seinem Vater einen weiteren langen Gang hinunterfolgte. Neben der Musik konnte Conrad ein leises Summen hören. Hin und wieder schien ein Beben durch die ganze Basis zu gehen, als ob gerade ein Zug vorbeiratterte. »Wir haben hier eine Kommandozentrale, ein Biodom, ein mobiles Service-Zentrum, ein astrophysikalisches Labor, ein Observatorium und Module für Verfahrenstechnik, Fernerkennung und medizinische Forschung«, sagte Yeats. »Du hast den Bohrturm vergessen«, sagte Conrad. »Da kommt wohl das Rumpeln her.« Yeats tat so, als hätte er ihm nicht zugehört, und deutete in die entgegengesetzte Richtung. »Zur Arrestzelle geht's hier lang.« Die ganze Station ist eine einzige Arrestzelle, dachte Conrad, während er den Tunnel hinunter zu einer Luftschleuse blickte. »Wozu das denn? Hier kann doch eh keiner abhauen.« »Die harten Bedingungen hier haben schon so manchen zum Durchdrehen gebracht«, sagte Yeats. Conrad sah seinen Vater an. »Genau das ist wohl mit dir passiert.« Yeats blieb stehen und drehte sich vor einer Tür, auf der Nur für Personal stand, nach allen Seiten um. Als ob jemand da wäre, der unbefugterweise die Sicherheitsmaßnahmen durchbrechen könnte. »Folge mir durch diese Tür, mein Junge«, sagte Yeats mit der Hand auf der Entriegelung. »Dann rastest du womöglich selbst aus.« *** In dem höhlenartigen Labor stand eine etwa drei Meter hohe Pyramide auf einer etwas erhöhten Plattform. Es war ein massives Steingebilde, das fast rötlich glühte und an den Seiten mit vier Rillen versehen war. Sie begannen auf halber Höhe der Schräge und liefen in Richtung Spitze aufeinander zu. Conrad stieß einen leisen Pfiff aus. »Kurz nach dem letzten großen Beben vor ein paar Wochen haben die Satelliten des Pentagons eine dunkle Anomalie unter dem Eis aufgezeichnet«, sagte Yeats. »Wir haben sofort eine Untersuchungsmannschaft hingeschickt, aber die konnte nichts finden. Die Anomalie konnte mittels Ultraschall nicht erfasst werden, so wie es aussah. Dann begannen wir zu bohren. Eine Meile unter der Eisdecke sind wir dann auf dieses Steingebilde gestoßen. Es ist eindeutig nicht natürlichen Ursprungs.« Stimmt, dachte Conrad mit zunehmender Erregung, während er den Stein genauer betrachtete. Der offizielle Standpunkt des amerikanischen Außenministeriums war, dass vor dem 19. Jahrhundert kein Mensch die Antarktis betreten hatte. Dieser Stein war aber mindestens so alt wie das Eis, das ihn bedeckt hatte – 12.000 Jahre. Er wies höchstwahrscheinlich auf die Hinterlassenschaften einer Kultur hin, die doppelt so alt wie die der Sumerer war, der ältesten uns bekannten Zivilisation auf der Erde. Conrad streifte mit der Hand über die glatte Oberfläche des Steingebildes und legte einen Finger in eine der merkwürdigen Rillen. Das könnte der entscheidende Fund sein, dachte er und zitterte beinahe. Der erste Beweis der ›Urzivilisation‹, den er bereits sein Leben lang suchte. »Und wo ist der Rest?«, fragte er. Yeats schien zu zögern. »Der Rest von was?« »Der Pyramide«, sagte Conrad. »Das hier ist ein Benben-Stein.« »Benben?« Jetzt stellte sich Yeats sichtlich dumm. Er wollte wohl unbedingt wissen, ob seine Anstrengungen, Conrad hierher zu kriegen, die Mühe wert gewesen waren. Conrad war bereit, sein Wissen auszuspucken, aber er würde sich nicht einfach so abspeisen lassen. »Ein altes ägyptisches Symbol für den Bennu-Vogel – den Phönix«, sagte Conrad. »Er steht für die Wiedergeburt und die Unsterblichkeit. Der Benben ist der Schlussstein einer Pyramide, auch Pyramidion genannt.« »Du hast ihn also schon einmal gesehen?« »Nein«, sagte Conrad. »Die Steine fehlen bei allen großen Pyramiden. Wir kennen sie in erster Linie aus alten Texten. Diese Steine waren Nachbildungen jenes ursprünglichen, lange schon verloren gegangenen Benben-Steins, der angeblich vom Himmel gefallen war.« »Wie ein Meteorit«, sagte Yeats und starrte den Stein an. Conrad nickte. »Und ein Benben dieser Größe bedeutet, dass die Pyramide darunter riesig sein muss.« »Eine Meile hoch und fast zwei Meilen breit.« Conrad sah Yeats ungläubig an. »Das ist mehr als zehnmal so groß wie die große Pyramide von Gise.« »Genau elf Komma eins mal so groß«, sagte Yeats. Sein Vater hatte sich also mit der Sache vertraut gemacht. »Größer als das Pentagon. Ihre Oberfläche ist glatter als ein Tarnkappenbomber, was vielleicht erklärt, warum die Echolotung sie nicht erfasst hat. Diese Rillen auf dem Schlussstein sind die einzigen charakteristischen Erkennungsmerkmale der P4. Natürlich abgesehen von der Größe selbst.« Conrad berührte den Benben-Stein noch einmal. Er konnte es einfach nicht fassen, dass auf der Erde eine frühe Zivilisation auf noch höher entwickeltem Stand existiert hatte, als er sich das bislang vorstellen konnte. »P4«, murmelte Conrad vor sich hin. So hat man sie also benannt. Kurzform für die ›Pyramide mit den vier Rillen‹. Wie einleuchtend. »Und sie ist mindestens 12.000 Jahre alt.« »Wenn die P4 so alt ist wie dieser Benben-Stein, dann ist sie mindestens sechs Milliarden Jahre alt, mein Sohn.« »Sechs Milliarden?«, wiederholte Conrad. »Das ist unmöglich. Die Erde gibt es ja selbst erst seit viereinhalb Milliarden Jahren. Willst du etwa behaupten, dass die P4 älter als unser Planet sein könnte?« »Genau das«, sagte Yeats. »Und sie ist direkt unter uns.« Entdeckung 7 plus 24 Tage, 15 Stunden Unter dem Summen der beiden Ventilatoren, die Luft in das Abteil bliesen, konnte Yeats noch leise die Mozartklänge hören. Er beobachtete Conrad, der die Daten der P4 auf seinem Laptop analysierte. Conrad, der einen Becher heißen Kaffee mit der verbundenen Hand umfasste, schüttelte den Kopf. »Bei dir ändert sich wohl nie was, Dad.« »Was meinst du damit?«, fragte Yeats barsch. »Als ich noch klein war, hast du mir nie beigebracht, wie man einen Drachen zum Fliegen bringt oder wie man beim Baseball den Ball wirft«, sagte Conrad. »Nein, so was musste ich mir selbst beibringen. Du hast immer gesagt: ›Junge, was hältst du von dem Entwurf des Waffensystems hier?‹ oder ›Willst du nicht zuschauen, wenn mein neuer Aufklärungssatellit in den Weltraum geschossen wird?‹ Und immer wenn ich dich auf diesem Scheißplaneten treffe, sieht alles gleich aus. Immer irgendeine Militärbasis. Immer dunkel. Immer kalt. Immer Schnee.« Yeats blickte durch das Aussichtsfenster nach draußen in den tobenden Sturm. Der Whiteout war so schlimm, dass er nicht einmal die Eisschlucht erkennen konnte. Die Überreste der C-141 waren schon längst unter dem Schnee begraben. Er war erleichtert, dass Conrad den Absturz überlebt hatte, und freute sich, ihn bei sich zu haben. Es war allerdings eindeutig, dass Conrad anders empfand, und das verletzte ihn. »Wahrscheinlich bring ich das so mit mir.« Yeats schenkte sich zum dritten Mal einen Schluck Whiskey ein und deutete mit dem Kopf auf die Laptop-Daten. »Die Radiokarbondatierung scheint jedenfalls überzeugend zu sein.« »Jedenfalls für den Benben-Stein«, sagte Conrad gerade, als noch eine dieser Erschütterungen, die sich wie das Rattern eines Zugs anfühlten, den Raum ergriff. »Das sind unsere.« Yeats bezog sich auf die Bohrer, die unten in der Schlucht das Eis auf der Spitze der P4 wegräumten. »Du wirst das richtige Beben schon noch mitkriegen.« »Und du glaubst, dass die P4 die Beben auslöst?« »Mein Junge, du bist doch das Genie. Verrat du es mir.« Conrad nippte an seinem Kaffee und verzog das Gesicht. »Verdammt, was haben die denn da verwendet? Ölschmiere?« »Wasser. Die Station wird mit geschmolzenem Schnee versorgt. Der Sojafraß ist noch schlimmer.« Conrad schob den Kaffee weg. »Nur weil der Benben-Stein angeblich sechs Milliarden Jahre alt ist, heißt das noch lange nicht, dass die übrige Pyramide genauso alt ist oder dass Außerirdische sie gebaut haben.« »Wer redet denn von Außerirdischen?« Yeats gab sich sichtlich Mühe, seine ausdruckslose Miene beizubehalten, aber Conrad war mit seinen Gedanken schon weiter. »Seit Entstehung der Erde haben immer wieder Meteoriten den Planeten bombardiert – wie der viereinhalb Milliarden alte Steinbrocken vom Mars, der vor ein paar Jahren hier in der Antarktis gefunden wurde«, sagte Conrad. »Es können Menschen gewesen sein, die so einen Meteoriten nach Milliarden Jahren gefunden haben, um ihn dann zu einem Benben-Stein zu bearbeiten.« Yeats schüttete seinen Jack Daniel's hinunter. »Wie du meinst.« »Also irgendjemand hat die P4 gebaut. Und zwar lange bevor die Antarktis mit Eis bedeckt war und lange bevor eine uns bekannte menschliche Zivilisation existierte. Wer auch immer die Erbauer der P4 gewesen sein mögen, ihre Kultur war auf jeden Fall hoch entwickelt, möglicherweise sogar weiter fortgeschritten als die ganze zivilisierte Welt heute.« Yeats nickte. »Das bedeutet, dass derjenige, der Zugang zu ihrer Technologie findet, theoretisch die Machtverhältnisse auf der Welt ändern könnte.« »Fühlst du dich etwa immer noch von ungleichen Machtverhältnissen verfolgt? Kein Wunder, dass du mit deiner Militärpräsenz in der Antarktis bereitwillig Menschenleben aufs Spiel setzt und internationales Recht brichst.« Yeats zögerte. »Wir sprechen hier von Atlantis.« »Atlantis? Glaubst du, dass da unten eine Stadt liegt?« Yeats nickte. »Soweit wir wissen, ist die P4 sozusagen nur die Spitze des Eisbergs.« »Atlantis ist nur ein Name, ein Mythos«, sagte Conrad. »Vielleicht beruht der Mythos ja auf dem, was du entdeckt zu haben glaubst. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht handelt es sich um die vor langer, langer Zeit untergegangene Urkultur. Oder auch nicht. Ein völliges Freilegen der P4 würde jahrzehntelange Forschungsarbeit bedeuten.« Typisch Conrad, dachte Yeats. Es reichte ihm nicht, die größte Entdeckung seit der Entdeckung der Neuen Welt zu machen. Nein, Conrad wollte sich ganz sicher sein, weil er sonst befürchtete, ein zweiter Kolumbus zu werden, der nur entdeckte, was schon längst existierte. »Wir haben nicht so lange Zeit, mein Junge«, sagte Yeats. »Uns bleiben nur Tage. Ich habe eine deiner Fernsehsendungen gesehen, wo du klipp und klar gesagt hast, dass Atlantis in der Antarktis zu finden ist.« Yeats gab in seinen Computer etwas ein, worauf ein Werbevideo von ›Rätsel des Altertums‹ erschien. Conrad grinste verlegen. »Atlantis«, dröhnte der Bariton eines Sprechers. »Die Stadt des Altertums von legendärem Reichtum und militärischer Macht, im 4. Jahrhundert vor Christus von dem griechischen Philosophen Platon in seinen Dialogen beschrieben. Eine ganze Zivilisation, an einem einzigen Tag vom Meer verschluckt. Die Überlebenden suchten überall auf der Welt Zuflucht und bauten die Pyramiden in Ägypten, die Tempelanlagen in Südamerika und andere Stätten ungeklärten Ursprungs. Erforschen Sie das Unerklärliche mit dem Astro-Archäologen Doktor Conrad Yeats.« Yeats stellte das Video ab. »Nun?« »Ich wollte damit nur sagen, dass die Antarktis der einzige Ort auf der Erde ist, der buchstäblich der Beschreibung Platons von Atlantis entspricht«, erklärte Conrad. »Ich habe niemals behauptet, dass ich an den Wahrheitsgehalt von Platons Bericht glaube. Du weißt ja, Dad, in der Wissenschaft muss man an die Öffentlichkeit gehen oder man verschwindet von der Bildfläche, und nur die verrücktesten Ideen erregen Aufmerksamkeit.« Yeats runzelte die Stirn. »Willst du damit sagen, dass Platon lügt?« Conrad zuckte die Achseln. »Platon war ganz einfach ein Idealist, der sich sehnsüchtig ein perfektes Paradies erträumt hat.« Yeats war von Conrads schnodderiger Antwort enttäuscht und kniff die Augen zusammen. »Du hast wohl keine Ideale?« »Jeder Archäologe hat seinen eigenen Lieblingsplatz für Atlantis. Für die meisten ist es die Insel Santorini im Mittelmeer, die im Meer versank, nachdem dort ein Vulkan ausgebrochen war. Das geschah 900 Jahre, bevor Platon seinen Bericht von Atlantis niederschrieb. Andere bevorzugen den Nordatlantik oder Troja in der Türkei, eine Stadt, die selbst lange als Mythos galt, bis man vor gar nicht so langer Zeit dort Ruinen entdeckte. Andere wiederum behaupten, Atlantis sei in Wirklichkeit eine untergegangene Aimara-Stadt im Titicacasee. Oder warum nicht gleich Los Angeles?« »Aber keine davon ähnelt der hoch technisierten Zivilisation, die laut Platon vor fast 12.000 Jahren zerstört worden ist.« »Stimmt.« »Folglich könnte das, was wir hier haben, Atlantis sein.« »Könnte sein.« Conrad zuckte die Achseln. »Hör mal, ich will ja nur sagen, dass du, wenn du dir einen beliebigen Punkt auf der Weltkarte suchst, garantiert irgendwessen Lieblingsort für Atlantis geliefert kriegst«, sagte Conrad. »Oder du suchst dir, wie der Produzent meiner Fernsehsendung, auf Himmelskarten einen Punkt im Sonnensystem. Es gibt da unendlich viele Möglichkeiten. Ich kann erst Schlussfolgerungen ziehen, wenn ich mir die P4 von innen angesehen habe.« »Ob du das überhaupt darfst, kann ich dir jetzt noch nicht versprechen, mein Junge. Hier handelt es sich immerhin um eine Militäraktion. Entweder du spuckst deine Theorie über die P4 einfach so aus, oder du hältst den Mund.« »In Ordnung. Dann löse ich jetzt meine Flugmeilen ein und fliege nach Hause.« »Einen Scheiß wirst du tun, Conrad.« Yeats schlug mit der Faust auf den Tisch. »Du bleibst hier. Und wenn du in die P4 reinwillst, dann sag mir jetzt endlich was Neues dazu.« Conrad stand auf und ging zum Fenster. Yeats befürchtete kurz, dass sein Sohn, aufgebracht wie er war, sich einen Metallstuhl schnappen und das Panzerglas damit einschlagen könnte. Aber Conrad starrte nur nach draußen in den heulenden Wind. Dieser Mann hatte es gelernt, seinen Zorn zu beherrschen, den Zorn, der ihn als Junge beinahe verzehrt hatte. »Also gut«, sagte Conrad schließlich, ohne sich umzudrehen. »Ich vermute mal, dass die P4 das Original ist, nach dem die große Pyramide bei Gise gebaut wurde. Mit anderen Worten, die P4 ist das echte Ding und die von Cheops gebaute Pyramide nur eine untergeordnete Nachbildung aus Lehm.« »Du vermutest das?«, wiederholte Yeats. »Junge, ich kann doch nicht auf Verdacht loslegen.« »Da ist schon mehr dran. Deine Daten zeigen, dass die Grundfläche auf die Himmelsrichtungen ausgerichtet ist – Nord, Süd, Ost und West. Sie hat einen Neigungswinkel von 51° 51' – genau wie die große Pyramide. Aufgrund dessen, was ich aus eigener Anschauung über die Pyramide weiß, kann ich schon ein paar fundierte Aussagen über die P4 machen.« »Was zum Beispiel?« »Zum Beispiel, dass die P4 wahrscheinlich eine Darstellung der südlichen Erdhemisphäre ist.« »Wohingegen die Cheopspyramide eine Darstellung der nördlichen Erdhemisphäre ist«, sagte Yeats. »Na und?« Conrad ging zum Schreibtisch und betätigte ein paar Tasten auf seinem Laptop. »Die Hemisphäre wird auf eine glatte Oberfläche projiziert, so wie man das macht, wenn man Landkarten erstellt.« Er drehte seinen Laptop um, sodass Yeats die Grafik auf dem Bildschirm sehen konnte. Sie sah wie ein deutsches Kreuz aus. »Das ist die Pyramide im Aufriss. Die Spitze stellt den Südpol dar und die Ränder den Äquator.« »Weiter.« »Aus diesem Grunde steht der Umfang im Verhältnis 2 pi zur Höhe«, erklärte Conrad. »Die P4 stellt somit die südliche Hemisphäre im Verhältnis 1 : 43.200 dar.« »Worauf bezieht sich dieses Verhältnis?«, wollte Yeats wissen. »Auf die Sternbilder. Die Menschen des Altertums verbanden mit den verschiedenen Konstellationen bestimmte Bedeutungen. Wenn ich erst einmal das Gegenstück der Pyramide am Himmel bestimmt habe, wissen wir mehr über ihre Funktion.« »Wieso Funktion? Sie ist doch eine Grabstätte, oder?« »Die Pyramiden selbst waren nie als Grabstätten geplant, obwohl sie in einigen Fällen dazu dienten«, sagte Conrad. »Ihr übergeordneter Sinn hatte mit dem Streben der Könige nach ewigem Leben zu tun. Um es zu erreichen, musste der jeweilige König eine Offenbarung erleben, die das Geheimnis der ›Urzeit‹ enthüllte.« »Urzeit?« Yeats sah ihn verständnislos an. »Was willst du damit sagen?« »Das Geheimnis der Schöpfung. Die Entstehung des Universums, die Menschheitsgeschichte und unsere Zukunft.« »Unsere Zukunft? Wie konnten die Erbauer der P4 was darüber wissen?« »Die Menschen des Altertums glaubten, dass sich der kosmische Kalender etwa alle 26.000 Jahre neu stellt«, erklärte Conrad. »Jede Zeitepoche endet in einer Umwälzung, die eine neue Schöpfung oder ein neues Zeitalter hervorbringt. Natürlich wollen die Überlebenden solcher weltvernichtenden Ereignisse zukünftige Generationen warnen.« »Das Geheimnis geht also bis zur Schöpfungsgeschichte zurück?« »Noch weiter. Den Mythen der Azteken und der Maya zufolge hat es bereits fünf Sonnen oder Schöpfungen gegeben. Angeblich leben wir gerade in der ›Fünften Sonne‹.« »Was geschah mit der vierten?« »Also, die Menschen des Altertums sagen, dass sie von der Sintflut zerstört wurde. Aufgrund der vier Ringe, die wir auf dem Benben-Stein gefunden haben, vermute ich, dass die P4 ganz am Anfang der Vierten Sonne erbaut wurde, kurz nach der Zerstörung der Dritten Sonne und genau zu der Zeit, zu der Gott, wie die Bibel in der Genesis berichtet, Himmel und Erde schuf.« »Aber du hast doch gesagt, dass die P4 noch älter ist.« »Weil ich damit rechne, im Inneren der Pyramide Aufschluss über die vorhergegangenen drei Sonnen zu finden«, sagte Conrad. »Vielleicht enthält sie ja sogar das Geheimnis der ›Urzeit‹ selbst, das noch älter als unser Universum ist.« Yeats ging auf und ab und konnte seine Erregung kaum verbergen. Sein blödes Bein tat mörderisch weh, aber das war ihm egal. »Bist du dir dessen sicher?« »Das kann ich erst genau sagen, wenn ich drin war.« Conrads Miene verdüsterte sich. »Aber man kann jetzt schon annehmen, dass die P4, egal was sonst noch da drin ist, ein Vermächtnis an Wissen birgt, das mindestens dem heutigen Stand entspricht.« »Deshalb müssen wir unbedingt rein«, sagte Yeats. »Bald werden wir nämlich Gesellschaft haben.« »Habt ihr denn schon den Eingang gefunden?« »Ein Bohrteam arbeitet gerade von einer Plattform aus, die wir oben auf der P4 errichtet haben. Die Spitze der Pyramide ragt wie die Spitze eines Eisbergs etwa fünfzehn Meter aus dem Boden hervor. Die Mannschaft hat an der Ostwand ein Loch in die Tiefe gebohrt. Den Computermodellen nach zu urteilen, finden wir dort den Eingang. Wir sind auf halbem Weg.« »Ihr bohrt an der falschen Stelle«, sagte Conrad. Yeats holte tief Luft. »Also gut, wo sollten wir deiner Meinung nach bohren?« »An der nördlichen oder an der südlichen Wand. Obwohl, bei der P4 eher doch an der Nordwand. Nach weniger als einer halben Meile wird die Bohrmannschaft höchstwahrscheinlich auf den Eingang zu einem Schacht stoßen, der uns dann direkt ins Innere der P4 führt.« »Was heißt hier höchstwahrscheinlich? Soll ich etwa meine Leute abziehen, um deinem Gefühl zu folgen?« »Also, wenn die P4 wirklich die Vorlage der Cheopspyramide ist, dann werden wir vermutlich zwei Schächte finden, die von der Mitte der Pyramide nach außen jeweils zur Süd- und zur Nordwand führen. Wenn sich die Ähnlichkeit weiterhin bestätigt, können wir durch diese Schächte in der Hälfte der Zeit ins Innere der P4 vordringen.« »Und wozu genau sind diese Schächte gut? Wenn es sie überhaupt gibt.« »Ich habe da so eine Vermutung«, sagte Conrad. »Aber um sicher zu sein, muss ich erst in die P4 rein.« »Natürlich«, sagte Yeats mürrisch. »Ich dachte, der Eintrittspreis für die P4 bestand darin, dir etwas zu erzählen, was du nicht schon weißt«, sagte Conrad, als die Sprechanlage summte. »Das habe ich hiermit getan.« »Das hat alles keine Bedeutung, wenn wir den angeblichen Schacht nicht finden.« »Wir werden ihn finden«, sagte Conrad. Die Sprechanlage summte wieder. Ärgerlich stellte Yeats den Bildschirm an. Es war O'Dell aus der Kommandozentrale. »Was ist los?« »Eine der Patrouillen ist gerade zurückgekehrt«, sagte O'Dell. »Sieht so aus, als ob Doktor Yeats' kleiner Notruf Aufmerksamkeit erregt hat. Wir haben nämlich Besuch.« Entdeckung 8 plus 24 Tage, 16 Stunden Die Luftschleuse ging auf, und die eisige Polarluft wehte Schnee herein. Der Schneewolke entstieg eine himmlische Gestalt in einem grünen Goretex-Parka. Noch bevor die pelzbesetzte Kapuze herunterfiel und die Schutzbrille abgenommen wurde, wusste Conrad, wer es war. »Serena«, sagte er. Jeder Mensch trug sein eigenes Atlantis in sich, einen Teil seiner Vergangenheit, der verschüttet und für immer verloren war. Serena Serghetti war sein Atlantis, und jetzt war sie plötzlich wieder aufgetaucht. Einen Augenblick lang sagte Serena nichts, lächelte ihn nur an und sah sich um. Nimrod trottete zu ihr hin und leckte ihre Wollhandschuhe. Der Husky ließ es sich bereitwillig gefallen, dass sie ihn am Ohr kraulte. Conrad blickte zu Yeats, der schweigend neben ihm stand, und zu den beiden bewaffneten Militärpolizisten hinter Serena. Alle warteten darauf, dass jemand das Schweigen brach. Schließlich wandte Serena das Wort an Conrad. Zum ersten Mal seit fünf Jahren. »Hast du eine Genehmigung für den Hund?«, fragte sie und streichelte Nimrod. Conrad sah sie ungläubig an. Vielleicht war er ja zu sehr im Augenblick gefangen, um sie richtig verstanden zu haben. »Für den Hund?« Serena nickte. »Seit 1993 dürfen Huskys nicht mehr in die Antarktis. Übrigens auch sonst keine Lebewesen. Das schließt dich, Conrad, und deine Freunde hier mit ein.« Yeats stand mit offenem Mund da. »Ihr beiden kennt euch?« »Erkennst du sie nicht?«, sagte Conrad. »Das ist Serena Serghetti alias Mutter Erde, ehemalige Spitzen-Sprachwissenschaftlerin des Vatikans und derzeit offizielle Umweltnervensäge.« »Und du bist ein Blödmann«, sagte Serena heiter und streckte Yeats die Hand hin. »General Yeats, Sie scheinen ja vor Energie nur so zu strotzen. Ganz anders, als Conrad Sie beschrieben hat.« Conrad sah Yeats an, der die spitze Bemerkung nicht weiter zu beachten schien. »Des Vatikans?« »Eigentlich bin ich als Abgeordnete der australischen Gesellschaft zur Erhaltung der Antarktis hier und als Ratgeberin des Umweltkomitees der United Nations Antarctica Commission. Laut Artikel vier des Antarktisvertrags, den auch die Vereinigten Staaten unterzeichnet haben, gehört das hiesige Gebiet zu Australien. Die Vertragsmitglieder haben alle Expeditionen zu melden, die in der Antarktis stattfinden. Das gilt auch für Basislager und Militärpersonal samt Ausrüstung. Sie haben Ihre Unternehmungen auf unserem Gebiet nicht bekannt gegeben, General Yeats.« Conrads Kopf brummte. Er versuchte, ihr rätselhaftes Erscheinen in dieser Eishölle zu begreifen, ganz zu schweigen von dem grotesken Wortwechsel mit seinem Vater über die obskuren Einzelheiten internationalen Rechts. Yeats räusperte sich. »Artikel vier erkennt zwar an, dass einige Staaten Besitzansprüche erheben, erwähnt aber ausdrücklich, dass diese Besitzansprüche von anderen Staaten nicht anerkannt werden müssen«, sagte Yeats ruhig. »Mit anderen Worten, statt sieben könnten auch siebzig Staaten ihre Besitzansprüche anmelden, Schwester Serghetti, die Vereinigten Staaten würden deren Rechtmäßigkeit dennoch nicht anerkennen.« »Das mag so sein«, antwortete Serena. »Aber was den Artikel eins betrifft, da gibt es keinerlei Unklarheiten. Er verbannt klipp und klar jegliche Militäraktion. Pech für Sie.« »Es sei denn, derartige Aktionen erfüllen einen wissenschaftlichen Zweck.« »Und welcher Zweck wäre das?« Conrad merkte, dass sie sich mit dieser Frage an ihn wandte. Und er antwortete das Erstbeste, was ihm durch den Kopf ging. »Wir stellen eine Bergungsaktion auf die Beine.« Er beobachtete ihre Reaktion, während sie sich umsah und die Türen der Kommandozentrale am Ende des Gangs sowie die Soldaten mit ihren vor der Polarkälte geschützten M-16 musterte. »Meinst du etwa die Bergung der verunglückten C-141? Ich habe die Trümmer gesehen, als ich auf eurer Piste gelandet bin.« Conrad blickte Yeats an, der beeindruckt zu sein schien. Sie war nicht nur Mutter Erde, sie war auch eine fliegende Nonne. Kein Wunder, dass ihm die Kinnlade runterfiel. »Haben Sie das Flugzeug gelandet?« »Mit dem Einschnitt, der so breit wie der Colorado River ist, kann man die Basis ja auch kaum verfehlen. Haben Sie diesen Spalt verursacht?« »Der war schon da«, sagte Yeats wie zur Rechtfertigung. »Dann stört es Sie bestimmt nicht, wenn ich mich mal umsehe«, sagte Serena. »Der Antarktisvertrag ermöglicht den Zugang zu allen Stützpunkten und deren Inspektion. Betrachten Sie uns also einfach als offizielle Inspektoren.« Sie trat zur Seite, und hinter ihr sah Conrad vier gut gebaute junge Männer mit dunklen, tiefliegenden Augen. Sie waren mit einer schweren Video- und Tonausrüstung beladen. »Wer ist das denn?«, sagte Conrad. »Mein Kamerateam. Ich gehe mal davon aus, dass wir bei der Inspektion filmen dürfen.« »Natürlich«, sagte Yeats und gab den Militärpolizisten ein Zeichen, den Männern ihre Ausrüstung abzunehmen. »Sie können alles von der Arrestzelle aus inspizieren.« *** Mithilfe der Monitore in der Kommandozentrale beobachtete Conrad Serena und ihre Crew in ihren Zellen. Die beiden Männer saßen wie gefangene Füchse bewegungslos auf dem Boden. Serena hingegen lag ausgestreckt auf der Pritsche. Wie Schneewittchen. »Du kannst Mutter Erde nicht einfach einsperren«, sagte er zu Yeats. »So was erfährt die ganze Welt.« Yeats richtete den Blick stumm auf die anderen Monitore. Sie zeigten verschiedene undeutliche Bilder der P4 und der Bohrplattform an deren flacher Spitze, von der aus eine Mannschaft an der Nordseite der Pyramide in die Tiefe bohrte, so wie Conrad es angewiesen hatte. »Junge, bete mal lieber, dass deine Vermutung mit dem Schacht sich als richtig erweist. Sonst werde ich dich vielleicht auch noch in den Bau schicken müssen. Und ehrlich gesagt, um dich wird sich die Welt einen Scheiß scheren.« Conrad wollte etwas erwidern, aber da kam gerade Colonel O'Dell mit einer Akte herein. Conrad bemerkte den missbilligenden Blick des Mannes, der wahrscheinlich daher rührte, dass Conrad der einzige Zivilist in der Basis war, der sich frei bewegen durfte. O'Dell hätte ihn wohl am liebsten zu den anderen in die Zelle gesperrt. »Hier ist der Bericht der NSA über Schwester Serghetti, Sir.« »Danke, Colonel.« Conrad sah zu, wie Yeats den Bericht überflog. »Die NSA unterhält Akten über Nonnen?« »Nur über Nonnen, die ein universales Übersetzungssystem auf der Basis der Aimara-Sprache entwickelt haben«, sagte Yeats. »Die NSA versucht schon die ganze Zeit, an Schwester Serghettis System ranzukommen. Die Aimara-Sprache ist so makellos, dass die NSA vermutet, sie habe sich nicht wie andere Sprachen erst langsam entwickelt, sondern sei direkt auf dem Reißbrett entworfen worden.« »Können Sie das genauer erklären, Doktor Yeats?«, platzte es aus O'Dell heraus. Yeats sah O'Dell scharf an, aber Conrad zuckte nicht mit der Wimper. »Der älteste Mythos der Aimara besagt, dass nach der großen Flut Eindringlinge versucht haben, in der Nähe des Titicacasees eine Stadt zu bauen. Die Überreste sind uns als Tiahuanaco, die Stadt mit dem großen Sonnentor, bekannt. Aber die Erbauer verließen sie und verschwanden spurlos.« »Und woher sollen diese Erbauer gekommen sein?«, fragte ihn Yeats mit ernster Miene. »Der Legende nach kamen sie von einer verlorenen Paradiesinsel namens ›Aztlán‹, der aztekischen Version von Atlantis.« Conrad blickte seinen Vater an. »Also, was sagst du dazu?« Yeats klappte den Ordner zu. »Die gute Schwester kennt vielleicht die Sprache der P4-Erbauer.« *** Serena hatte die Antarktis immer als ein Symbol für Frieden und Harmonie betrachtet, als ein Modell dafür, wie die Menschen miteinander und mit anderen Lebewesen auf dem Planeten zusammenleben könnten. Solche Illusionen hatte sie sich auch über die Beziehung mit Conrad gemacht. Aber jetzt, wo sie sich in ihrer Arrestzelle in der Eisstation Orion umsah, war ihr Traum dahingeschmolzen. Es blieben kalte Wände, ein winziges Waschbecken und ein Klo. Wahrscheinlich gab es irgendwo eine versteckte Kamera, und zweifellos würden General Yeats und dieses Ekel Conrad jede ihrer Bewegungen beobachten. Aber in ihren Kopf konnten sie nicht hineinsehen. Sie saß also auf ihrer Pritsche und tat so, als ob sie mit ihren Gedanken allein wäre. Als Australierin fühlte sie sich mit der Antarktis mehr verbunden als mit den Amerikanern. Als kleines Mädchen hatte sie in dem Wissen, dass auf der anderen Seite der große weiße Kontinent lag, oft über das Meer geschaut. Australien war von allen Staaten dieser Welt der Antarktis am nächsten und beanspruchte 42 Prozent von deren Oberfläche, darunter die Antarktis und eben auch das Gebiet, auf dem die Amerikaner nun dieses geheime Lager errichtet hatten. Ihre ganze Erfahrung mit der Antarktis – die hauptsächlich aus der Rettung seltener Seehund- und Walarten bestand – beschränkte sich auf die spektakuläre Landschaft an den Randzonen des Kontinents. Die Tierwelt dort war wunderbar und das Polarlicht überwältigend. Ihre Mission in die inneren Schneewüsten hatte hingegen bewiesen, dass die Antarktis tatsächlich ein unbewohnter Kontinent war. Selbst hier, in der Wärme der amerikanischen Basis, konnte sie die Ödnis spüren. Sie glaubte auch die Knackgeräusche aus den Verbindungsgängen zu hören. Stationen, die auf dem Eis gebaut waren, sanken normalerweise durch ihr Eigengewicht ab, weil die Wärme, die sie erzeugten, das Eis zum Schmelzen brachte. Die hiesige Basis, wahrscheinlich schon mehrere Tage alt, war gerade dabei abzusinken. Sie dachte an ihre Gefangennahme auf dem geheimen Landeplatz im Eis zurück und daran, wie sie zur Eisstation Orion abgeführt worden war. Das Hägglunds-Gefährt, das sie ins Lager brachte, war unterwegs an einem Kraftwerk vorbeigekommen. Es lag eingeschneit hundert Meter von den Wohnquartieren entfernt hinter einer schützenden Schneedüne. Zu entlegen, um bei dieser Kälte mit Dieselmotoren betrieben zu werden, dachte sie. Es war wahrscheinlich ein kleines Atomkraftwerk. Vermutlich ein 100-Kilowatt-System. Sie war erst einmal wütend. Wie können sich die Amerikaner erdreisten, Atommaterial auf den Kontinent zu bringen! 90 Prozent der gesamten Eismasse befand sich hier. Ein Schmelzen konnte eine weltweite Katastrophe auslösen. Allein das war schon Grund genug, die Amerikaner bei der UNO anzuschwärzen. Aber mittlerweile war ihr Zorn auf die Amerikaner, die jegliches internationales Recht verletzt hatten, in Faszination übergegangen. Auch wenn sie sich Conrad und General Yeats gegenüber so reserviert gegeben hatte, hatte ihr Treffen in der Luftschleuse in Wirklichkeit Erregung in ihr ausgelöst. Und dann war da natürlich auch noch Conrad. Ihr Auftrag hier beinhaltete eindeutig mehr als nur, die Unberührtheit der Antarktis vor den Amerikanern zu schützen. Ihr war bewusst, dass hier etwas Bedeutungsvolles gefunden worden war, genau wie der Papst gesagt hatte. Etwas, was die Geschichte – vor allem die christlich-jüdische Religionsgeschichte – auf den Kopf stellen konnte. Trotzdem fühlte sie sich in Hochstimmung. Von allen Kandidaten, die der Heilige Vater stellvertretend hätte aussuchen können, um dieses historische Ereignis zu erleben, hatte er sie ausgewählt. Sie hörte, wie die Tür mit einem Summgeräusch geöffnet wurde, und drehte sich um. *** Serena saß auf der Pritschenkante und trank öligen Tee aus einer Styroportasse, als der Militärpolizist die Zellentür öffnete und Conrad hereinließ. Conrad bemerkte den silbernen Braut-Jesu-Ring am linken Ringfinger, der ihre geistige Verbundenheit mit dem einzigen Sohn Gottes symbolisierte. Zu seinem Bedauern handelte es sich dabei um Jesus und nicht um so einen üblen Schuft wie ihn. Er fragte sich, warum sie den Ring noch trug. Wahrscheinlich um seinesgleichen in Schach zu halten. »Conrad.« Serena setzte ein Lächeln auf. »Ich hab mir schon gedacht, dass sie dich schicken. Du hast immer schon originelle Ideen gehabt, wenn es um ein heimliches Stelldichein ging.« Conrad besah sich ihren schwarzen Wollpulli und das schwarze Haar, das ihr auf die Schultern fiel. Unter dem Pulli trug sie wahrscheinlich Funktionsunterwäsche. Was dann unter der war, musste Conrad sich nicht weiter vorstellen. »Was ist daran so originell?« Er berührte ihr Gesicht. »Dir ist immer noch kalt.« »Mir geht's gut. Aber was hast du denn da gemacht?« Er sah seine verbundene Hand an. »Das bringt der Beruf so mit sich. Reiner Zufall.« »Wie du auch General Yeats nur zufällig über den Weg gelaufen bist? Ich hätte es eher für möglich gehalten, dass wir beide beruflich miteinander zu tun haben als du und dein Vater.« »Und was ist mit deinen Supermännern nebenan in der …« »Zelle?« Sie musste lächeln. »Hast du etwa Angst vor Konkurrenz, Conrad?«, fragte sie. »Brauchst du nicht. Wenn ich die einzige Frau auf der Welt wäre und du der einzige Mann, würde ich wieder Nonne werden.« Conrad sah in ihre hellbraunen Augen. Seit fünf Jahren war es das erste Mal, dass sie sich allein gegenüberstanden, und Conrad fand, dass sie schöner aussah als je zuvor. Er hingegen fühlte sich alt und verbraucht. »Warum bist du hier, Serena?« »Die Frage könnte ich auch dir stellen, Conrad.« Er brannte darauf, ihr von den Ruinen unter dem Eis zu erzählen, ihr zu sagen, dass sich seine Theorien bewahrheiten sollten. Aber er tat es nicht. Schließlich hatten sie sich ja noch nicht einmal ansatzweise mit den Ruinen des eigenen Lebens auseinander gesetzt. »Dir geht es hier nicht nur um die Umwelt«, sagte Conrad. »Du warst überhaupt nicht erstaunt, mich zu sehen, als du durch die Luftschleuse gekommen bist.« »Du hast Recht, Conrad«, sagte sie leise und berührte ihn mit der warmen Hand im Gesicht. »Ich habe dich vermisst und wollte dich unbedingt sehen.« Conrad zuckte zurück. »Du bist richtig gemein. Und das weißt du ganz genau.« »Und du etwa nicht?« Es fing zu rumpeln an. Serena setzte sich auf ihrer Pritsche zurück und sah auf die Uhr. Sie misst die Abstände zwischen den Erschütterungen, dachte Conrad. Plötzlich sagte sie: »Wann wolltest du der Welt von deiner Entdeckung berichten?« Conrad schluckte. »Welcher Entdeckung?« »Der Pyramide unter dem Eis.« Conrad sah sie ungläubig an, sagte aber nichts. Es hatte keinen Sinn, sich gegen die Tatsache zu sperren, dass sie genauso viel wie er, wenn nicht sogar mehr, von dieser Expedition wusste. »Was hat der liebe Gott dir sonst noch erzählt?« »Ich würde mal sagen, ihr bohrt gerade Erkundungstunnel um die Pyramide herum. Und ich wette, dass dein Cowboy-Vater wahrscheinlich schon einen Zugang gefunden hat.« Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Nun ging es nicht mehr um ihren üblichen Machtkampf. Jetzt waren sie gemeinsam der Wahrheit auf der Spur. Conrad war froh, dass sie hier war, obwohl es ihn gleichzeitig ärgerte. Er sorgte sich um ihre Sicherheit, fühlte sich aber auch durch ihre Gegenwart bedroht, weil sie ihm vielleicht im Weg stehen würde. »Serena«, sagte er leise. »Das hier ist keine Ölplattform, an die du dich ketten kannst, um gegen die Förderung von fossilen Brennstoffen zu protestieren. Bei dieser Expedition sind schon einige Soldaten umgekommen, und es ist fast ein Wunder, dass wir beide noch miteinander sprechen können.« Ein bekümmerter Blick überschattete Serenas Gesicht. Sie verfolgte ihre eigenen Gedanken. »Ich kann mich schon um mich selbst kümmern, Conrad«, sagte sie. »Um dich mache ich mir Sorgen.« »Um mich?« »Dein Vater hat dir nicht alles gesagt.« »Das ist nichts Neues.« Conrad zuckte die Achseln. »Etwas aus ihm herauszuquetschen ist ungefähr genauso schwierig, wie Nierensteine rauszuholen. Meinetwegen verheimlicht er also irgendwas. Du aber auch, Serena. Eine ganze Menge. Weder die Vereinigten Staaten noch der Vatikan sind in der Lage, etwas dieser Größenordnung geheim zu halten.« Sie kniff die Augen zusammen. »Conrad, ich weiß, dass du nicht völlig naiv bist. Folglich verleugnest du da was«, sagte sie. »Wie hat dein Vater dich bloß hierher gelockt? Hat er dir für diesen Jahrtausendfund väterliche Anerkennung versprochen? Unterstützt er dich jetzt vielleicht, deine leiblichen Eltern zu finden?« »Schon möglich.« »Glaub mir, Conrad.« Ihre Augen verrieten den Schmerz der eigenen Erfahrung. »Es gibt Antworten, die man lieber nicht kennen sollte.« »Fass dir an die eigene Nase, Schwester.« »Conrad, hier geht es nicht um dich oder um mich. Es geht um die Welt an sich und um das Wohl aller. Du musst auch an die anderen Menschen denken.« »Genau daran denke ich. Es geht hier um eine noch nie da gewesene Entwicklung in der Geschichte der Menschheit. Und ich will, dass die Welt daran teilhat.« »Nein, du willst vor allem den berühmten Doktor Conrad Yeats raushängen. Zum Teufel mit dem Rest der Welt. Warum sollte es dich auch interessieren? Schließlich sind die Erkenntnisse über die Erde wichtiger als der Planet selbst oder die Menschen darauf. Ist das nicht deine Devise? Du hast dich keine Spur verändert.« »Wenn du damit unsere Beziehung meinst, da hast du von Anfang an gewusst, woran du warst, du Prinzessin auf der Erbse. Du wolltest einfach keine Verantwortung übernehmen.« »Damals war ich rein wie Neuschnee, Conrad. Aber du hast auf mich gepinkelt. Genau so, wie du diesen Planeten anpinkeln wirst.« »Moment mal. Schließlich ist ja nichts zwischen uns gelaufen.« »Sag ich ja. Aber du hast auch nichts unternommen, um diese Gerüchte zu entkräften.« »Dafür kann ich nichts.« »Ach wirklich? Du bist nur ein Handlanger der Vereinigten Staaten, bereit, alle deine Grundsätze von internationaler Zusammenarbeit, Brüderlichkeit und Menschlichkeit zu verraten, nur um deine egoistische Neugier zu befriedigen.« »Ich will die Welt nicht verändern«, sagte er. »Ich will sie nur verstehen. Und das hier ist so ziemlich der beste Treffer, um herauszufinden, wer wir sind und wo wir herkommen. Bei dir klingt es so nach verbotener Frucht: Wenn wir davon essen, werden wir alle verflucht sein.« »Vielleicht sind wir das ja bereits jetzt schon, Conrad. Und hat dich nicht gerade das an mir gereizt? Ich war die verbotene Frucht. Genau wie jetzt die Ruinen unter dem Eis.« »So erreichst du nichts, Schwester. Ich bin jedenfalls fest entschlossen.« Serena nickte. »Wenn das so ist, kannst du mich genauso gut auch mitnehmen.« Conrad sah sie ungläubig an. Er war hier, weil er die führende Kapazität für megalithische Architektur war und gleichzeitig der Sohn des Generals, der die Expedition leitete. Serena hatte keinen Fürsprecher. »Du machst wohl Witze.« »Nehmen wir mal an, ihr findet da unten irgendwelche Inschriften«, sagte sie einfach. »Wer wird sie entziffern? Du vielleicht?« Es war ihm nicht einmal gelungen, wichtige Informationen aus ihr herauszuziehen, dachte Conrad entmutigt, während sie es geschafft hatte, ihr Gespräch auf diesen Punkt zu bringen. Alles lief genau, wie Yeats es vorausgesagt hatte. Und irgendwie schien sich Serena dessen bewusst zu sein. »Zugegeben, ich bin kein Sprachwissenschaftler, aber ab und zu habe ich doch das eine oder andere aufgeschnappt.« »So wie man eine Geschlechtskrankheit aufschnappt?«, schoss sie zurück. »Nein, Conrad, du weißt ganz genau, dass du nur hier bist, weil sie dachten, mich nicht dafür gewinnen zu können.« Was Conrad am meisten ärgerte, war die absolute Bescheidenheit, mit der sie das sagte. Nicht als Angeberei, sondern wie eine einleuchtende Erklärung. Dann merkte Conrad, dass ihre Worte an die Überwachungskamera an der Decke gerichtet waren. Sie hatte die ganze Zeit über mit Yeats gesprochen. »Du bist unglaublich, weißt du das? Absolut unglaublich.« Sie lächelte ihn mit einem warmen Lächeln an, das Eis hätte zum Schmelzen bringen können. »Hättest du mich lieber anders?« Entdeckung plus 24 Tage, 16 Stunden 9 U.S.S. Constellation,Südlicher Ozean »Dieser verdammte Yeats«, fluchte Admiral Hank Warren. Von der Brücke des Flugzeugträgers aus beobachtete Warren, der klein und kräftig gebaut war, mit dem Fernglas die schwarzen Umrisse der Trägerkampfgruppe U.S.S. Constellation. Sie lagen zwanzig Meilen vor der Küste der Ost-Antarktis. Warrens Auftrag bestand darin, bis auf weiteres zu verhindern, dass die Kampfgruppe entdeckt wurde. Zu diesem Zweck waren alle Radare und Satellitengeräte abgeschaltet worden. Nur Nahfunkgeräte waren genehmigt. Auf Deck waren Soldaten mit speziellen Fern- und Nachtsichtgläsern postiert, die den Horizont nach feindlichen Schiffen und U-Boot-Periskopen absuchen sollten. Die Kampfeinheit sollte sich also in Küstennähe aufhalten, ohne die eigene Position zu verraten, um dann einen etwaigen Feind ohne Vorwarnung angreifen zu können. Dafür war ein atomar betriebener Flugzeugträger genau richtig. Aber wer zum Teufel sollten eigentlich die Feinde sein? Er und seine Kampfeinheit froren sich den Arsch ab, um ihre Entdeckung zu verhindern, und die einzigen Feinde, denen sie Angst einjagten, waren die Pinguine. In der Zwischenzeit hatte ein nicht gekennzeichnetes Flugzeug über die Militärfrequenz der U. S. Navy einen Notruf gesendet, um gleich darauf vom Radar zu verschwinden. Wenn die Constellation den Notruf empfangen hatte, dann hatten ihn auch andere empfangen. Warren wusste nur, dass das alles irgendwie mit diesem verrückten Scheißkerl Griffin Yeats zu tun hatte. Bei dem Gedanken beschlich ihn Unbehagen. Vor langer Zeit hatte Warren einmal eine Weile in der Versorgungseinheit der U. S. Navy in der Antarktis gedient. Damals, 1969, hatte seine Rettungsmannschaft Yeats gefunden, nachdem dieser 43 Tage lang völlig benommen durch die Schneewüste marschiert war. Er war der einzige Überlebende eines Trainingseinsatzes für eine Marslandung, die dann aber nie stattgefunden hatte. Dieser Irre hatte damals darauf bestanden, drei NASA-Versorgungscontainer mitzuschleppen, obwohl die Navy eigene hatte. Um die drei zurückgelassenen Leichen kümmerte er sich überhaupt nicht. Erst später erfuhr Warrens Mannschaft, dass die Container, die Yeats mitschleppte, radioaktiv strahlten. Aber so war Yeats nun einmal. Er interessierte sich nicht im Geringsten für die Verwüstung, die er im Leben anderer anrichtete, wenn diese seine Pläne kreuzten. Als Warren eine Beschwerde einreichte, erhielt er als Antwort nur diesen Scheiß von wegen ›Verschlusssache‹ und ›wichtige Angelegenheit‹. Jetzt, mehr als dreißig Jahre später und in der Zwischenzeit mit dem Rang eines Admirals versehen, tappte Warren, was Yeats betraf, weiter im Dunkeln. Das frustrierte ihn ohne Ende. Seine Leute hatten gerade einen Kurzwellen-Notruf aufgefangen. Anscheinend von einem Flugzeug mit Geheimauftrag, das sich 696 nannte und offensichtlich beim Landeanflug auf eine Phantompiste zerschellt war. Dieses Debakel trug durch und durch Yeats' Handschrift, und Warren würde sich persönlich darum kümmern, dass dieser Mann, genau wie er es verdiente, frühzeitig in Pension geschickt wurde. »Ich habe da schon was, Sir«, meldete sich der Leiter der Sonderabteilung. »Was gibt's?« Warren hatte für die Morgenwache das Kommando auf der Brücke. »Die Beobachtungsposten melden ein Schiff, Position zwei-null-sechs. In weniger als tausend Meter Entfernung.« »Was?«, brüllte der Admiral. »Verflucht. Wie konnten wir das übersehen?« Warren hob sein Fernglas und drehte sich nach Südwest. Da war es. Ein Schiff, mv arctic sunrise stand auf dem Bug. Ein Greenpeace-Schiff. An Bord stand ein Typ mit einer Videokamera, die er auf die Constellation richtete. »Steuermann, raus aus dem Sichtfeld!« »Zu spät, Sir«, sagte ein Funker. »Die haben uns schon im Visier.« Der Funker deutete auf einen Fernsehbildschirm. »CNN berichtet live von der Arctic Sunrise.« Der Reporter sprach vom Bug des Greenpeace-Schiffs. »Hinter mir sehen Sie die U.S.S. Constellation, eines der größten Kriegsschiffe überhaupt. Der Flugzeugträger kreuzt vor der Antarktis-Küste. Der Auftrag ist streng geheim. Aber schauen wir uns erst einmal die Videoaufnahmen von den riesigen Rissen im Schelfeis an. Vermutlich steht der Zusammenbruch der Eisdecke unmittelbar bevor.« Ein ungepflegter College-Typ von der Sorte, die spätestens nach einer Woche aus der Marineakademie fliegen würde, erschien auf dem Bildschirm und sagte: »Wissenschaftler sehen in dem schnellen Auseinanderbrechen dieses und anderen Schelfeises in der Antarktis ein Zeichen dafür, dass die gefährliche Erderwärmung fortschreitet.« Auf dem Bildschirm erschien ein Teil des Eisbergs, der ein paar Wochen zuvor von der Küste abgebrochen war. Der Reporter bemerkte in seinem Kommentar, dass der gewaltige Eisbrocken 2.000 Quadratkilometer umfasste. 60 Meter hohe Eiswände ragten aus dem Wasser, und schätzungsweise 300 Meter lagen noch unter Wasser. »Wenn man bedenkt, dass die Vereinigten Staaten geheimer Atomtests in der inneren Schneewüste der Antarktis beschuldigt werden, hat das Phänomen der globalen Erderwärmung jetzt an Brisanz gewonnen.« Der CNN-Bericht endete mit einer langen Einstellung, die die bedrohliche Seitenansicht der Constellation in der Morgendämmerung am Horizont zeigte. »Mist«, sagte Warren. MSNBC und die anderen Nachrichtensender würden bestimmt mit ähnlichen Nachrichten nachziehen. Schlimmer konnte es gar nicht kommen. »Zum Teufel mit Griffin Yeats.« Entdeckung 10 plus 24 Tage, 16 Stunden Serena saß auf ihrer Pritsche und lauschte dem Summen der beiden Ventilatoren, die Luft und weiß Gott was sonst noch in die eisige Zelle bliesen. Ihr war kalt. Bilder, die sie zu verdrängen gelernt hatte, waren nach der Begegnung mit Conrad wieder aufgetaucht. Jetzt, wo sie sich mit den Armen ihren Körper umschlang, um sich warm zu halten, kam die Erinnerung an ihr letztes Zusammensein wieder hoch. Es war im März gewesen, sechs Monate nachdem sie sich zum ersten Mal auf einem Symposium der mittelamerikanischen Archäologen in La Paz, der Hauptstadt Boliviens, getroffen hatten. Damals war sie noch Nonne gewesen. Sie sahen sich fast täglich und arbeiteten Seite an Seite an einem Forschungsprojekt in der untergegangenen Stadt Tiahuanaco hoch oben in den Anden. Conrad Yeats war intelligent, attraktiv, geistreich und sensibel. Er besaß mehr Geistigkeit als ihre Kollegen aus Rom, und was sie am meisten an ihm mochte, war die Ernsthaftigkeit, mit der er seinen Beruf ausübte. Einige fanden seine unorthodoxen Theorien über die Urkultur bedrohlich, aber sie fand sie aufregend, weil sich vieles mit ihren eigenen Studien in Sachen Mythologie deckte. Conrad und sie kamen trotz unterschiedlicher Ansätze zu der gleichen Schlussfolgerung; er betrachtete alles aus Sicht der Archäologie und sie aus der Sicht der Sprachwissenschaft. Am letzten Abend des Feldstudienprogramms lud er sie ein, an einer ›Offenbarung‹ auf dem Titicacasee teilzuhaben, zwölf Meilen von Tiahuanaco entfernt. Ein merkwürdiger Ort des Abschieds, dachte sie, als sie am Ufer entlangging. Es herrschte ein reges Treiben von Einheimischen und Touristen, die bei Sonnenuntergang in den Tavernen Bier tranken. Wie eine Erscheinung aus Tiahuanaco tauchte auf einmal ein gut aussehender, braun gebrannter Conrad in einem eleganten Boot aus Schilfrohr auf. Das Boot kam von der Insel Suriqui. Es war vier Meter lang, aus Papyrusrohr geflochten, mit einem breiten Mittelschiff und schmalen hohen Enden. Die Schilfbündel waren mit festen Schnüren zusammengebunden. »Kommt Ihnen dieses Boot bekannt vor?«, fragte er, als er sie aufforderte, an Bord zu kommen. »Zur Zeit der Pyramiden segelten die Pharaonen in denselben Papyrus-Booten den Nil hinunter.« »Und vermutlich, Doktor Yeats, können Sie auch erklären, warum die erstaunlich ähnliche Machart an zwei derart unterschiedlichen Orten auftaucht?«, fragte sie und ging damit auf sein Spielchen ein. Das gehörte zu den vielen Geheimnissen des Titicacasees, erklärte er ihr in bester Fremdenführermanier und lud sie ein, mit auf den See zu fahren, um seine ›Offenbarung‹ zu erleben. Sie lächelte. Sie konnte sich ziemlich gut vorstellen, was das für eine Offenbarung war. »Auf dem See gibt es nichts, was Sie mir nicht auch hier zeigen könnten.« »So weit würde ich nicht gehen«, sagte er. Sie hätte nicht mitkommen sollen. Nonnen reisten grundsätzlich nur zu zweit und befanden sich bei geschlossener Tür nie allein mit einem Mann im Zimmer. Nicht aus Angst oder Paranoia, sondern des Rufes wegen. Keinerlei unanständiges Verhalten durfte die Sache Christi besudeln. Aber wie immer setzte Conrad seine ganze Überredungskunst ein. Schließlich konnte sie ihm nicht widerstehen. Er paddelte mit langen, kräftigen Schlägen. Sie glitten über die silberne Oberfläche dahin. Mit 3.812 Metern über dem Meeresspiegel war der Titicacasee der am höchsten gelegene See der Welt. Und so empfand sie es auch. Serena hatte das Gefühl, sie könnte den Himmel berühren. »Das Merkwürdige an dem See ist, dass er über zweihundert Kilometer vom Pazifik entfernt liegt und doch eine Vielfalt an Meerestieren aufweist: Seepferdchen, Schalentiere und auch Meerespflanzen«, dozierte Conrad augenzwinkernd. »Sie glauben also, dass es sich um Meereswasser handelt, das von der Sintflut übrig geblieben ist?« Conrad zuckte die Achseln. »Als das Wasser zurückging, staute sich hier in den Anden ein Teil davon auf.« »Das erklärt vermutlich auch die Hafenanlagen von Tiahuanaco.« Conrad lächelte. »Genau. Warum sonst sollten die Überreste der zwölf Meilen entfernten Stadt Hafenanlagen aufweisen?« »Es sein denn, die Stadt war früher einmal selbst ein Hafen, nämlich wenn der See nach Süden hin 12 Meilen länger und 35 Meter höher war«, schloss Serena. »Was bedeuten würde, dass hier vor der großen Flut eine Kultur geblüht hat und Tiahuanaco somit mindestens 15.000 Jahre alt ist.« »Stellen Sie sich das mal vor!« Sie konnte es sich genau vorstellen. Sie wollte es jedenfalls. Eine Welt vor Anbruch unserer Geschichtsschreibung. Wie mochte sie ausgesehen haben? Hatten sich die Leute sehr von den Menschen heute unterschieden? Bestimmt hatte es Frauen wie sie gegeben und Männer wie Conrad, dachte sie. Er hatte seine skeptische Miene abgelegt und war richtig offen geworden. Ganz anders als bei seinem Auftreten bei den Wissenschaftlern. Die Nachtluft war kühl, und Serena hatte sich vorn ins Boot gekauert. Conrad paddelte langsam dahin. In der Dämmerung war der Himmel von einem herrlichen Türkisblau. Der gläserne See streckte sich bis in die Ewigkeit. Die meiste Zeit glitten sie schweigend am Schilf entlang. Nur das leise Plätschern des Paddels beim Eintauchen klang wie ein Metronom aus der Vorzeit. Auf einmal zog Conrad das Paddel mitten auf dem glitzernden See ein und ließ das Boot unter dem Sternenhimmel treiben. »Was ist los?«, fragte sie. »Nichts.« Er zog einen Picknick-Korb und Wein hervor. »Absolut nichts.« »Conrad, wir sollten jetzt zurückfahren. Die Schwestern werden sich Sorgen machen.« »Sollen sie doch.« Er setzte sich neben sie, gab ihr einen Kuss und drückte sie sanft nach hinten, bis sie im Boot lag. Er streichelte ihr Gesicht und küsste sie auf den Mund. Ein Schauer überkam sie. »Conrad, bitte.« Sie sahen sich in die Augen, und sie musste an seine schmerzvolle Kindheit denken, an seine Familienverhältnisse. Wenn es jemals einen Mann geben sollte, dem sie sich hingab, eine Situation in ihrem Leben, einen Ort auf diesem Planeten, dann war der Augenblick jetzt gekommen, dachte sie. »Morgen gehe ich nach Arizona zurück und du nach Rom«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Wir werden die letzte Nacht in Bolivien in Erinnerung behalten, die Nacht, die niemals stattgefunden hat.« »Und niemals stattfinden wird«, sagte sie und stieß ihn über Bord. Mit Genugtuung hörte sie das Platschen. *** Auch Conrad dachte in seiner Kabine an die Nacht damals mit Serena im Boot, während er seine Ausrüstung für den bevorstehenden Abstieg in die P4 packte. Er hatte vor ihrer Entschlossenheit und ihrem Mut immer Ehrfurcht empfunden. Und ihre Schönheit suchte ihresgleichen. Dennoch ging sie so selbstverständlich damit um, als wäre es ihr egal, ob sie siebzehn oder siebzig war. Sie war charmant und zurückhaltend, ja sogar witzig. In jener Nacht hatten ihn ihre strahlenden Augen unter dem dunklen Haar verzaubert und sein Herz erwärmt. Sie hatte ihm gestanden, seine Klarheit und Zielstrebigkeit immer bewundert zu haben. Er wäre sich immer treu geblieben, sagte sie, anders als sie, die immer etwas vortäuschte. Er hatte sich damals gefragt, welch dunkles Geheimnis sie ihm wohl mitteilen wollte, und stellte dann fest, dass es gar keines gab. Ihre einzige Sünde bestand darin, ein ungewolltes Kind gewesen zu sein. Einen flüchtigen Augenblick lang war er ihr damals sehr nahe gekommen. Da hatte er ihre religiöse Todessehnsucht verstanden und ihren Drang, eine Märtyrerin, eine Heilige, eine bedeutende Frau zu sein. Ihr wohltätiges Handeln war ihr Weg, Beziehungen zu vermeiden. Sie fürchtete, ›ertappt‹ zu werden und so ihren Ansprüchen – und den Erwartungen Gottes – nicht gerecht zu werden. Gefühlen wie ›nicht gebraucht zu werden‹, ›wertlos‹ zu sein, der ›Irrtum‹, überhaupt auf der Welt zu sein, versuchte sie mit aller Kraft zu entkommen. Aber sie hatte keine Angst davor, dass er sie zurückweisen könnte. Sie wusste, dass er sie liebte. Und da hatte er gemerkt, dass auch sie ihn innig liebte. Damals hatte er das Gefühl, dass seine lebenslange Suche nun beendet war, dass er den Gottestempel gefunden hatte. Die Tatsache, dass er in ihr heiliges Geheimnis eingebrochen war und sich nahm, was ihm nicht gehörte, machte diese Erfahrung nur noch aufregender und gefährlicher, aber auch befriedigender, so als würde er ein Kunstwerk aus vergangener Zeit rauben. Als sie ihn dann aber aus dem Boot in das eiskalte Wasser des Titicacasees stieß, wusste er, dass es vorbei war. Sie lachte nicht, als er wieder an Bord kletterte. Es war kein Spaß gewesen. Die Angst war in ihre Augen zurückgekehrt. Da merkte Conrad, dass sie es war, die ihm etwas geraubt hatte. »Was hat das zu bedeuten?«, hatte er gefragt. »Ich will nach Tiahuanaco zurück«, sagte sie. »Bevor mich jemand beim Frühstück vermisst.« »Trau dich doch! Genießen wir die Zeit, die uns noch bleibt.« »Sie enttäuschen mich, Doktor Yeats.« Sie reichte ihm das Paddel. »Ich hätte Sie nicht für jemand gehalten, der sich über Nonnen hermacht.« Conrad, nicht gerade ein Mann mit geringem Selbstwertgefühl, war enttäuscht, dass sie seine Annäherungsversuche verschmäht hatte. Schlimmer noch, sie leugnete quasi, selbst auch einen Anteil daran gehabt zu haben. »Und ich hätte nicht gedacht, dass Sie eine Nonne sind, die sich darum schert, was andere denken.« »Das tue ich auch nicht«, hatte sie erwidert. Natürlich hatte sie Recht. So viel war klar. Aber Conrad spürte, dass sie in Wirklichkeit Angst vor ihren Gefühlen hatte, Angst davor, die Kontrolle zu verlieren. Wenn man Serena Serghetti ausschließlich als Nonne sehen wollte, dann war sie eindeutig eine, die dafür sorgte, dass sie nie die Kontrolle verlor. Sie waren nicht in Frieden auseinander gegangen. Sie verhielt sich, als hätte sie einen großen Fehler begangen. Als ob sie mit der gemeinsamen Nacht ihre ganze Zukunft aufs Spiel gesetzt hätte. In Wirklichkeit bereute sie jedoch keine Sekunde. Zumindest kam Conrad schließlich zu diesem Schluss. Sie fürchtete nur eine intimere Beziehung. Als hätte sie etwas zu verbergen. Auf einmal verstand er es: Dieses Etwas war sie selbst. Sie war von sich enttäuscht und fühlte sich deshalb seiner unwürdig. Er wusste, dass sie sich täuschte, und er schwor, ihr zu beweisen, dass sie auch ohne den Titel ›Schwester‹ etwas wert war, so wie er den Preis für ihren Verzicht wert war. Aber davon wollte sie nichts wissen. Der letzte gemeinsame Augenblick war, als er am Ufer versuchte, ihr einen Abschiedskuss zu geben. Sie rannte davon, um ein Taxi zu rufen. Er winkte, aber sie blickte sich nicht mehr um. Eine Woche später versuchte er, sie in Rom anzurufen. Nach Monaten vergeblichen Bemühens erschien er sogar unangesagt auf einer ihrer Konferenzen. Inzwischen war sie berühmt geworden, warf sich voll und ganz auf ihre Arbeit, sodass er sich fragte, ob sie das ungeliebte Kind in sich nun vergessen wollte – oder ihn. Jedenfalls stellte er bald fest, dass eine Privataudienz bei ›Mutter Erde‹ genauso wahrscheinlich war, wie seine heißgeliebte Urkultur zu finden. Was sich inzwischen natürlich geändert hatte. *** Diese Nonne hat was drauf, dachte Yeats, als er sich in der Kommandozentrale noch mal das Gespräch zwischen Serghetti und Conrad auf Video ansah. Das musste man ihr lassen. Der Papst wusste genau, was er tat, indem er sie schickte. »Woher weiß sie das alles, Sir?«, fragte O'Dell, der neben ihm stand. »Das ist die Frage«, sagte Yeats. »Ich glaub nicht, dass der Vatikan will, dass sie was rauslässt. Aber soviel ich weiß, stimmt alles, was sie sagt. Vielleicht haben wir bei unserem Vorhaben ja sogar Verwendung für sie.« »Und Ihr Sohn, Sir?« Yeats sah O'Dell an. »Was soll mit ihm sein?« »Ich habe den Bericht des Verteidigungsministeriums gelesen.« O'Dell sah besorgt aus. »Ihr Sohn ist seit dem Kindergarten in Therapie. Verheerende Albträume und Visionen vom Ende der Welt. Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, Sir, aber er scheint geisteskrank zu sein.« »Er hatte eine traumatische Kindheit«, sagte Yeats. Er hoffte, dass O'Dell damit dieses Kapitel abschloss. »Und haben wir das nicht alle gehabt? Außerdem hat das Verteidigungsministerium nicht seine komplette Akte. Glauben Sie mir. Ich hab sie nämlich selbst geschrieben.« Yeats wollte sich gerade wieder dem Monitor zuwenden, als Lieutenant Lopez, eine der Nachrichtenoffiziere, an ihn herantrat. Außer Schwester Serghetti war die junge Lopez die einzige Frau auf der Eisstation Orion. »General Yeats, schauen Sie sich das mal an«, sagte sie. Yeats folgte ihr zu dem großen Bildschirm, wo er die U.S.S. Constellation sah. Und zwar in einem TV-Bericht, unten rechts war das CNN-Logo zu sehen. »Warren«, fluchte Yeats leise. Er starrte auf das waghalsige Greenpeace-Schiff, das neben der riesigen Constellation auf dem Bildschirm zu sehen war. Verflucht sei dieses Würstchen von Seemann! »Wie haben die das bloß rausgekriegt, Sir?«, wollte O'Dell wissen. »Na raten Sie mal, Colonel.« Yeats deutete auf den kleinen Monitor, auf dem Schwester Serghetti in ihrer Zelle zu sehen war. »Sie spielt auf Zeit und wartet, bis die Kavallerie eintrifft. Es wird nicht mehr lang dauern, dann klopfen die Waffeninspekteure der UN an die Tür.« Das bedeutete, das Einsatzteam müsste bis dahin wieder aus der P4 draußen sein, schloss Yeats, und fing im Geiste an zu rechnen. In der P4 müssten alle Spuren verwischt und die wichtigsten technischen Daten entfernt sein, bevor die internationalen Einheiten das Gelände erreichten. »Es kommt noch schlimmer«, sagte Lopez. »McMurdo meldet, dass die Station Wostok unseren Funkverkehr mit Flug 696 abgefangen hat. Es ist bereits ein UNACOM-Team losgeschickt worden.« Yeats stöhnte. »Ich hab es gewusst. Wer leitet das Team?« »Ein ägyptischer Luftwaffenoffizier«, sagte sie und gab ihm die Meldung. »Oberst Ali Zawas.« »Zawas?« Yeats blickte auf das Foto. Es zeigte einen gut aussehenden Mann in Uniform mit dunklen, nachdenklich dreinblickenden Augen und gewelltem schwarzem Haar. »Verfluchter Mist.« »Er ist doch nicht etwa verwandt mit …«, sagte O'Dell. »Er ist der Neffe vom Generalsekretär«, sagte Yeats. »Er war auf der United States Air Force Academy. Im ersten Golfkrieg flog er auf der Seite der Alliierten und hat zwei irakische Flugzeuge für uns runtergeholt. Verdammt guter Offizier und ein echter Gentleman.« Yeats gab Lopez die Meldung zurück. »Von wem kriegt er Unterstützung, Lieutenant?« »Also, in Wostok sind das die Russen unter dem Kommando von Iwan Kowitsch. Und die Australier haben ihre Hilfe von der Station Mawson aus angeboten.« Sie hielt inne. »Wie unsere amerikanischen Wissenschaftler von Amundsen-Scott im Übrigen auch. Die hatten wir bisher raushalten können.« »Mist!«, knurrte Yeats. »In ein paar Stunden wird die ganze Welt hier versammelt sein.« »Nicht bei dem Sturm, der bald wieder loslegt, Sir«, sagte O'Dell. »Was voraussichtlich in sechs Stunden der Fall sein wird. Laut Wettervorhersage wird er uns ziemlich übel treffen. Könnte uns alle vielleicht drei Wochen lang festnageln.« Yeats sah aus dem Fenster. Der Himmel war schwarz. Der Schneesturm prasselte wie Gewehrkugeln an das Glas. »Der Sturm könnte die Australier aufhalten, aber Zawas und das UNACOM-Team werden einfach nur etwas länger brauchen.« Yeats wandte sich an O'Dell. »Sie sorgen dafür, dass diese Barbaren hier oben bleiben, während ich den Einsatz in die P4 runter leite.« »Und wie soll ich erklären, dass wir Mutter Erde gegen ihren Willen festhalten?« »Brauchen Sie nicht«, sagte Yeats. »Ich nehme sie mit. Wir haben keine Sekunde zu verlieren.« Teil Zwei. Abstieg Abstieg, 1. Stunde 11 Der Abgrund Über dem Abgrund war der Himmel bedrohlich schwarz geworden, und Serena spürte, wie der Wind plötzlich eisig wurde. Wenn das die Stille vor dem Sturm war, wollte sie den eigentlichen Ausbruch nicht erleben. Nebelschwaden stiegen aus der Tiefe. Den nächsten Schutz bot der P4-Fundort, eine Meile unter ihnen. »Wollen Sie sich dem Ganzen wirklich aussetzen, Schwester?« Über ihr glitt Yeats in seinem weißen Polaranzug die Eiswand herab. Unter dem blendenden Licht der Stirnlampe zeigte Yeats ein teuflisches Grinsen. Oben auf festem Boden hatte er ihr ausführlich die Risiken erklärt, die sie eingehe, wenn sie mit dem Einsatzteam herabkomme. Aber was blieb ihr denn anderes übrig? Mit dem Rest der Welt in der Basis abzuwarten, bis das Team wieder auftauchte, hätte bedeutet, weiterhin im Dunkeln zu tappen. »Genau genommen bin ich Doktor Serghetti, General«, sagte sie und bohrte das Steigeisen an ihrem Plastikstiefel ins Eis. »Außerdem habe ich mit der Mutter Oberin den Everest bezwungen.« »Hat sie Ihnen das Strumpfband verpasst?« Yeats deutete auf Serenas Gurte. Sie sahen tatsächlich aus wie ein Hüftgürtel mit zwei roten Schlingen an den Oberschenkeln. Falls sie fiel, würde sich der Druck gleichmäßig auf den Unterkörper verteilen. »Nein, nur das hier.« Serena brachte einen Eispickel zum Vorschein, hämmerte einen Haken in die Eiswand und befestigte daran mit einem Karabiner ein neues Seil. Sie wollte Yeats demonstrieren, dass sie für diese Herausforderung bestens gerüstet war. In Wirklichkeit fühlte sie sich allerdings nicht so sicher, wie sie tat. Ihr Herz schlug wie wild, und sie atmete schnell. Sie hatte den berüchtigten Yeats erst auf der Eisstation Orion persönlich kennen gelernt. Davor kannte sie ihn nur aus Conrads Erzählungen. Sie traute ihm nicht. Wie es so schön bei Emerson heißt: »Du sprichst so laut, dass ich nicht verstehe, was du sagst.« Yeats war im Grunde seines Herzens ein Schuft, und seine Expedition war eine einzige Schandtat. Er konnte sich nur besser verstellen als Conrad, der erfrischend ehrlich und bisweilen sogar recht charmant mit seinen Schwächen umging. Ihr war jedenfalls klar, dass er nicht aus Herzensgüte ihrer Teilnahme zugestimmt hatte und schon gar nicht wegen ihrer Fähigkeiten als Sprachwissenschaftlerin. »Was war es noch gleich, warum Sie Ihre Meinung geändert haben und mich mitzockeln lassen?« »In erster Linie, weil ich bei der NASA die Erfahrung gemacht habe, dass Frauen immer eine angenehme Bereicherung in einer Astronautenmannschaft sind.« Genauso eine sexistische Bemerkung hatte sie erwartet. »Na so was. Und ich hätte gedacht, es liegt daran, dass Frauen präziser und akribischer arbeiten und überhaupt eher zum Multitasking befähigt sind als Männer.« »Wenn sie nicht gerade zu emotional reagieren oder zu aufgeregt sind«, antwortete Yeats und verschwand aus dem Sichtfeld, gerade als Conrad sich neben sie abgeseilt hatte. »Alles in Ordnung?«, fragte er. Serena seufzte und schüttelte den Kopf. »Dein Vater kann's einfach nicht lassen.« »So ist er nun einmal«, sagte Conrad tonlos. »Wenn er erst mal auf was programmiert ist, macht er immer weiter, bis zum bitteren Ende.« »Und lässt eine Blutspur hinter sich.« »Wir sollten ihn also lieber nicht so weit vorlassen«, sagte Conrad und seilte sich weiter ab. Serena folgte ihm. Im tropischen Klima hatte er sich als ausgezeichneter Bergsteiger erwiesen. Unter den Bedingungen im Eis konnte eine Selbstüberschätzung allerdings tödlich sein. Sie machte sich Sorgen um ihn. Und um seine Seele. Um ihre auch. Sie hatte schon einmal versucht, ihn zu retten, und nun plagte sie das Gefühl, sie beide verdammt zu haben. Conrad war jetzt außer Reichweite. Sie ließ sich einige Meter ab und fand etwas Halt an einem Absatz. Das Eis war von einem herrlichen Blau und schien fast zu leuchten. »Wunderschön«, sagte sie. »Serena, nicht stehen bleiben, lass dich weiter ab …« Conrad sprach äußerst hastig. Serena seilte sich langsam weiter ab. Conrads Gesichtsausdruck beunruhigte sie. Hyperventilierte er etwa? Sie merkte jedenfalls, dass sie selbst unnatürlich schnell atmete. Ihr Herz schlug nun ebenfalls noch schneller, wenn auch gleichmäßig. Sie sank weiter. Conrad winkte sie mit dem dicken Handschuh zu sich. »Hier runter. Und? Siehst du sie?« Serena schaute angestrengt in den Nebel. Eine Lücke tat sich auf, und sie sah, wie das Licht sich auf so etwas wie einen Landeplatz verteilte. »Ja, schon.« »Nein, ich meine, siehst du sie wirklich?« Plötzlich erkannte Serena, dass der Landeplatz in Wirklichkeit die abgeflachte Spitze einer leuchtend weißen Pyramide war, die steil aus der Tiefe des Abgrunds emporragte. Sie musste ihre Augen vor der Leuchtkraft schützen. »Die P4«, hörte sie sich leise sagen. »Frag mich bloß nicht, wie die hierher gekommen ist.« Conrad setzte seine Sonnenbrille auf. »Es wird noch eine Weile dauern, bis ich eine Erklärung habe.« Die feste Überzeugung in seiner Stimme schaffte Vertrauen. Seine Aufregung war echt, unverfälscht und ergreifend. Keine Spur von Angst, dachte Serena neidisch, einfach schlichte Neugier und schlichter Enthusiasmus. Sie hatte dieses Gefühl schon fast vergessen. Nun setzte auch sie sich die Sonnenbrille auf. Die abgeflachte Spitze, noch weißer als Schnee, blendete sie. Deshalb hatte der Papst sie also geschickt. Zwar hatte sie etwas Spektakuläres erwartet, aber sie war nicht auf das vorbereitet gewesen, was sie jetzt sah, auf die Ausmaße des Bauwerks. Es war gigantisch. Sie starrte die Pyramide voller Staunen an, da hörte sie auf einmal, wie ihr Seil quietschte. »Das ist normal, wenn das Seil sich spannt«, sagte Conrad. »Hat nichts zu sagen. Weiter.« Wieder hörte sie ein durchdringendes Quietschen, diesmal aber auch das Klicken von Metall. Der Eishaken, der ihr Seil hielt, löste sich, und sie glaubte schon, sie würde fallen. »Hilfe!«, schrie sie, schlug den Eispickel in die Wand und hielt sich daran fest. »Conrad!« Conrad antwortete nicht. Sie drehte sich um. Er war verschwunden. Sie hörte einen Pfeifton, sah Conrads Umrisse in den Nebel verschwinden. Das Seil neben ihr spannte sich. »Conrad!«, schrie sie wieder und starrte in den Dunst. Dann sah sie einen Schatten, der auf sie zugeklettert kam. Es war Yeats. »Sie hätten ihn erst ins Grab bringen sollen, wenn alles vorbei ist.« Er ließ die Augen über die Nebelschwaden in der Tiefe wandern und zog dann mit einem Finger am Seil. »Er hängt noch dran.« Serena hörte ein Knacken und sah, wie sich der Eishaken, mit dem Conrads Seil befestigt war, löste. »Mein Gott! Conrad! Nicht loslassen!« »Scheiße.« Yeats sah Serena an. Instinktiv zog sie den Eispickel heraus und warf ihn Yeats zu, der den Arm schützend vor sich hielt. »Hier, fangen Sie!«, rief sie und tauchte auch schon in die Tiefe. Sie stürzte durch den Nebel und raste auf das Licht zu, bis sich das Seil spannte. Mit einem Ruck wurde sie abgebremst. Es fühlte sich an, als hätte sie sich das Becken gebrochen. Aber die Gurte hatten sich bewährt. Ihr verschlug es den Atem. Etwas quietschte in der Stille. Es war ihr winddichter Parka, der beim Hin-und-her-Schwingen am Nylonseil scheuerte. »Conrad?« »Hier drüben«, antwortete er. »Ich habe was entdeckt.« Sie drehte den Kopf in die Richtung, aus der seine Stimme kam, und mithilfe der Stirnlampe konnte sie sehen, dass er drei Meter von der Wand entfernt baumelte, wo nirgends ein Halt zu sehen war. »Warte«, sagte sie und schwang zu ihm hinüber. Sie brauchte drei Anläufe, bevor sie ihn erreichte. Sie streckte ihre Hand aus, und er ergriff sie, hielt sie fest und zog Serena zu sich. Einen kurzen Augenblick lang klammerten sie sich aneinander und schwangen gemeinsam über dem Abgrund. »Hör mit dem Bungeejumping auf, Conrad.« Sie bemühte sich, ihre Angst mit Sarkasmus zu überspielen. »Schau mal!«, rief er. Sie drehte sich im Dunkeln um. Ihre Stirnlampe tauchte die Wand in Licht. Da war etwas im Eis. Ihre Augen stellten sich auf die Beleuchtung ein. Ihr gegenüber war ein kleines Mädchen zu sehen, für immer im Eis gefangen. »Jesus Maria«, flüsterte sie. »Du hast mir doch mal gesagt, wir treffen uns erst wieder, wenn die Hölle zu Eis wird? Erinnerst du dich? Jetzt ist es so weit.« Der Nebel zog nach oben, und das Licht beschien auf einmal die ganze Wand. Sogleich sah Serena hunderte von Menschen mit vor Angst erstarrten Gesichtern. Sie schienen alle gleichzeitig zu schreien. Serena hielt sich die Ohren zu. Sie war diejenige, die schrie. Abstieg, 3. Stunde 12 Raumkapsel Eine Stunde später waren sie in der warmen Raumkapsel auf der P4. Serena lag auf dem aufgeklappten Operationstisch. Conrad sah sie besorgt an. Sie blinzelte unter dem grellen Scheinwerferlicht. Man hatte ihr eine Sauerstoffmaske über das Gesicht gestülpt und am Oberkörper mehrere EKG-Elektroden angebracht. Das Haar war ihr aus dem Gesicht gestrichen worden. Zudem hatte man den Gürtel ihrer Hose gelockert. Conrad deutete auf das beschlagene Bullauge, durch das die amerikanische Flagge zu sehen war, die Yeats auf der Spitze der Pyramide gehisst hatte. »Konzentrier dich auf die Flagge, und atme tief durch«, sagte er und verabreichte ihr Sauerstoff. Sie hatte keinen Parka und keinen Pullover mehr an, und nur mit Mühe konnte er es vermeiden, auf ihren vollen Busen zu starren, der sich unter ihrem Wollhemd auf und ab bewegte. Seit sie den Grund der Eisschlucht erreicht hatten, hyperventilierte sie. Anscheinend hatte ihr das offene Grab im Eis einen furchtbaren Schrecken eingejagt. Conrad sah auf den EKG-Monitor. Langsam kehrte ihre Herzfrequenz wieder in den Normalbereich zurück. »Besser?«, fragte er gleich darauf. Sie sah ihn an, als wäre er völlig verrückt. Conrad ließ den Blick durch das voll gestopfte Habitat schweifen, das unten in der Schlucht auf der flachen Spitze der Pyramide errichtet worden war. Die Kapsel war 16 Meter lang und vier Meter breit. Yeats drängte sich mit den drei Technikern um die Monitore. Lieutenant Lopez war auch dabei. Conrad hatte die Offiziere bereits in der Eisstation Orion gesehen. Die anderen beiden, zwei blonde Muskelprotze, die gut eineiige Zwillinge sein konnten, hörten auf die Namen Kreigel und Marcus. Das waren hier unten eindeutig die Handlanger von Yeats. Conrad wandte sich seinem Vater zu. »Gibt es irgendeinen Grund, warum du die Leichen im Eis nicht erwähnt hast?« »Ja, natürlich. Ich wollte eure Reaktion testen.« Conrad blickte Yeats an und deutete auf Serena. »Und, zufrieden mit dem Resultat?« »Hör schon auf zu jammern.« Yeats stand auf. Er hielt eine Spritze in der Hand und klopfte mit dem Finger leicht dagegen. Eine klare Flüssigkeit spritzte heraus. Serena wich aus. Besorgt sah Conrad, wie Yeats Serenas Arm packte. »Was machst du da?« »Ich gebe ihr ein Stärkungsmittel.« Bevor Conrad ihn daran hindern konnte, stach Yeats ihr die Kanüle in den Arm. »Es ist ein pflanzliches Präparat aus der Ginseng-Familie. Tiefseetaucher, Bergungsmannschaften und Kosmonauten nehmen es, um der Belastung unter Extrembedingungen standzuhalten. So ziemlich das einzig Brauchbare, was die Russen zu unserem Raumfahrtprogramm beigesteuert haben.« Das Mittel schien zu wirken. Serena atmete jetzt gleichmäßiger. Aber ihre Augen waren voller Zorn. Sie gehörte eindeutig nicht zu den Frauen, die solche Fürsorge gewohnt waren. »Ihr wird's bald besser gehen«, sagte Yeats. »Wenn du erlaubst, werde ich jetzt mal nach der Bohrmannschaft sehen, die deinen sagenhaften Schacht sucht.« »Genauso sagenhaft wie die P4«, rief Conrad seinem Vater hinterher, während dieser die Luke öffnete und nach draußen ging. Frostige Polarluft schoss herein. »Dich hat das Ganze ja offenbar nicht mitgenommen, Conrad«, sagte Serena frei heraus. Sie hatte die Sauerstoffmaske abgesetzt. »Es ist wahrscheinlich nicht das erste Mal, dass du zwölftausend Jahre alte Leichen im Eis siehst, was?« Er blickte sie an und konnte seine Erregung kaum zurückhalten. Es kam schließlich nicht jeden Tag vor, dass sich seine Theorien bestätigten und der Beweis geliefert wurde, dass er nicht verrückt war. »Die Leichen erklären, wie die Pyramide hierher kam.« »Was heißt ›hierher kam‹?« Mühsam setzte sie sich auf. Etwas Farbe war in ihre Wangen zurückgekehrt. »Hat sie sich denn bewegt?« Conrad kramte in seinem Rucksack herum und zog schließlich eine gefrorene Orange heraus. »Die habe ich aus der Wand geschlagen. Sie beweist, dass die Antarktis einst in einem gemäßigten Klima lag.« Serena sah die Orange an. »Bis alles eines Tages gefror, sehe ich das richtig?« Conrad nickte. »Das entspricht Hapgoods Theorie von der Verschiebung der Erdkruste.« »Charles Hapgood?« »Genau. Lebt schon seit Jahren nicht mehr. Du hast also von ihm gehört?« »Ja, der war mal Universitätsprofessor. Aber seine Verschiebungstheorie kenne ich nicht.« Conrad nutzte mit Wonne jede Gelegenheit, Mutter Erde etwas, was sie nicht wusste, groß und breit zu erklären. Er hielt die Orange hoch und dozierte: »Nehmen wir einmal an, das hier ist die Erde.« »Okay.« Sie ließ sich auf sein Spielchen ein. Conrad ließ ein Taschenmesser aufschnappen und ritzte damit die sieben Kontinente in die inzwischen etwas aufgetaute Schale. »Hapgoods Theorie besagt, dass die Eiszeit kein meteorologisches Phänomen ist. Sie ist vielmehr das Ergebnis einer geologischen Katastrophe vor ungefähr zwölftausend Jahren.« Conrad drehte die Orange so, dass sich die Vereinigten Staaten innerhalb des Polarkreises befanden und die Antarktis näher am Äquator war. »So sah die Welt damals aus.« Serena zog die Augenbrauen hoch. »Und was soll dann geschehen sein?« »Die gesamte Erdoberfläche hat sich verlagert.« Conrad drehte die Orange, bis ihre Position der der heutigen Erde entsprach. »Die Antarktis wird von dem Polarkreis vereinnahmt, während Nordamerika sich daraus löst und eine gemäßigte Klimazone wird. In Nordamerika schmilzt das Eis, und in der Antarktis bildet es sich.« Serena runzelte die Stirn. »Und wodurch wurde diese Umwälzung verursacht?« »Das kann niemand so recht sagen. Aber Hapgoods Meinung nach rührte das von einem Ungleichgewicht des Eises an den beiden Polen her. Durch das anwachsende Eis wurden die Kappen so schwer, dass sie in Bewegung gerieten und schließlich die äußere Kruste der Kontinente in einem Stück in neue Positionen brachten.« Serena musterte ihn. »Du bist also bereit, alles, was von deinem Ruf noch übrig ist, auf diese Erdkrustenverschiebung zu setzen?« Conrad zuckte die Achseln. »Albert Einstein jedenfalls fand den Gedanken gut. Er glaubte, dass bedeutende Verlagerungen dieser Art wahrscheinlich schon häufiger und innerhalb kurzer Zeiträume stattgefunden haben. Das würde so merkwürdige Dinge wie im Polarkreis eingefrorene Mammute mit tropischer Vegetation im Magen erklären. Oder eben Dinge wie die Pyramide hier und die Leute, die im Eis der Antarktis begraben sind.« Serena berührte Conrad sanft an der Schulter. »Wenn dir das hilft, der Welt einen Sinn zu geben, schön für dich.« Conrad erstarrte. Er hatte geglaubt, sie wäre von dem Beweismaterial genauso erregt wie er, sie wäre sozusagen vom gleichen Schlag. Stattdessen stellte sie seine Schlussfolgerungen aber offenbar infrage. Mehr noch, sie griff ihn persönlich an. Er nahm es ihr übel, dass sie eine einleuchtende Hypothese von einem der größten Köpfe der Menschheitsgeschichte so leichthin abtat – selbst wenn sie eine Frau des Glaubens war. »Hat der Vatikan vielleicht eine bessere Theorie?« Serena nickte. »Ja, die Sintflut.« »Alles ein und dasselbe«, sagte Conrad. »Beides fällt in die Kategorie: Gott, der verrückte Völkermörder.« Kaum waren die Worte gesprochen, bereute er sie auch schon. »He, Moment mal. Passen Sie auf, was Sie sagen«, mischte sich eine Frau hinter ihnen ein. Conrad drehte sich um und sah, wie Lopez ihn ärgerlich anblickte. Noch so eine Katholikin, dachte er. Lopez wandte sich an Serena: »Soll ich ihm einen Tritt in den Hintern verpassen?« Serena lächelte. »Danke, aber er kriegt so schon genug ab.« »Na gut, aber das Angebot steht«, sagte Lopez und machte sich wieder an die Arbeit. Kreigel und Markus, die arischen Zwillinge, schienen enttäuscht zu sein. Conrad vermutete, dass sie Lutheraner waren, Agnostiker oder einfach nur gute deutsche Brut, die sich zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort als Musterknaben in Hitlers SS ausgezeichnet hätten. Serena nahm ihren Parka und schlüpfte in die Ärmel. »Was willst du damit behaupten, Conrad?« Sie wollte den Reißverschluss hochziehen, aber die EKG-Drähte waren im Weg. »Dass Gott an allen Hungersnöten, Kriegen oder lüsternen Blicken schuld ist?« Sie sah ihm direkt ins Gesicht. Ihre warmen, braunen Augen klagten ihn gleichzeitig an und vergaben ihm. Das Ganze machte ihn nervös. Vielleicht hatte er ihren Busen ja tatsächlich etwas zu lange betrachtet, dachte er. Er war ja auch nur ein Mensch. Und selbst wenn sie das nicht zugeben konnte, sie war auch einer. »Ich habe genau gemerkt, wie du das Mädchen im Eis angesehen hast«, sagte Conrad sanft. »Als ob du dich selber betrachtet hättest. Der Fluch der Sintflut war wohl kaum als Strafe gedacht.« »Der Regen fällt gleichermaßen auf die Gerechten und Ungerechten«, sagte sie abwesend. »In diesem Fall natürlich das Eis.« Conrad merkte, dass sie mit den Gedanken schon längst woanders war. Ihre EKG-Werte wurden wieder unregelmäßiger. Er deutete auf die Monitore. »Vielleicht sollten wir dich wieder nach oben bringen und jemand Kräftigeren holen.« Er deutete auf die Monitore und half ihr mit den EKG-Drähten. »Ich will nicht, dass dir etwas passiert.« Ärgerlich schob sie ihn mit der Schulter zur Seite und riss die EKG-Schnüre ab. »Kümmer dich um deine eigenen Angelegenheiten.« Conrad griff sich an den Kopf und starrte sie ungläubig an. »Widersprüchlicher geht's wohl nicht mehr, was?« Sie zog den Reißverschluss ihres Parkas zu und sprang auf. »Wer ist hier widersprüchlich, hä?« Conrad rührte sich nicht. Er merkte, wie Lopez ihn interessiert anstarrte. Kreigel und Markus auch. Die beiden Soldaten schienen geradezu erpicht darauf zu sein, dass die gute Nonne dem bösen Archäologen das Knie in die Eier rammte. Die Luke öffnete sich, und zusammen mit eisiger Zugluft kehrte Yeats in die Kapsel zurück. »Du hast Recht behalten«, sagte Conrad kühl zu seinem Vater. »Ihr geht es wieder gut.« »Prima. Macht euch jetzt bereit. Wir steigen in die P4. Die Bohrmannschaft hat soeben den Schacht gefunden!« Abstieg, 4. Stunde 13 Erste Kammer Der Schacht war ungefähr zwei Meter breit und zwei Meter hoch, schätzte Serena und neigte sich in die Finsternis. Die Auslosung mittels einer Münze hatte Serena die Ehre verschafft, als Erste hineingehen zu dürfen, nachdem die Bohrmannschaft den umgerüsteten sechsrädrigen Marsrover mit einer Lötlampe und einer Kamera den Schacht hinuntergelassen hatte. Der fernbediente Roboter hatte Conrads Vermutung bestätigt: Der Schacht führte direkt in eine Kammer inmitten der P4. Als Serena an dem Geländer stand, das die Amerikaner entlang der Nordseite der P4 errichtet hatten, und in die Schachtöffnung blickte, spürte sie heftiges Herzklopfen. Sie war immer noch von dem Anblick des kleinen Mädchens im Eis verstört, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass eine ganze Kultur auf einen Schlag vernichtet worden war. Wenn dem Kind nur nicht diese entsetzliche Angst in den Augen gestanden hätte! Sie hatte immer Trost bei der Vorstellung gefunden, dass die Schöpfungsgeschichte nur ein Mythos und die Sintflut nur ein theologisches Bildnis war. Zugegeben, viele fossile Funde wiesen auf eine Weltkatastrophe natürlichen Ursprungs hin. Nun ja, sie hegte kaum Zweifel daran, dass es eine weltweite Überschwemmung gegeben hatte. Aber war diese wirklich die Strafe Gottes für die Schlechtigkeit der Menschen gewesen? Moses hatte das so interpretiert. Blöderweise fand sie andere Sichtweisen über die Welt – wie zum Beispiel die, dass zyklische Naturkatastrophen ganze Völker einfach willkürlich ausgelöscht hatten – noch beunruhigender, vor allem, weil sie ihrer aufrechten Entrüstung jeglichen Sinn nahmen. Möglicherweise hatte es auch etwas mit ihrer Kindheit zu tun, wie der Heilige Vater gemeint hatte. Sie hatte sich als Kind wiedergesehen, als unschuldiges Opfer, eingeschlossen im Eis, in die Zeit eingefroren wie Teile ihrer Persönlichkeit auch. Vielleicht war es auch nur das Scheitern ihres Glaubens, der ihr keinen echten Trost mehr für das unerklärlich Böse und das ganze Elend dieser Welt geben konnte. Als ob der Teufel selbst einen Schutzengel hätte – Gott. Unter dieser Voraussetzung gab es keinen Unterschied mehr zwischen Satan und Gott, ein Gedanke, den Serena gar nicht erst aufkommen lassen wollte. Conrad unterbrach ihre tiefgründigen Gedanken. »Serena, wenn du willst, kann ich immer noch die Führung übernehmen.« Sie blickte Conrad über die Schulter an und runzelte die Stirn. Jetzt, wo er den Zugang zur Pyramide gefunden hatte, tat er ziemlich großspurig. Seine Augen besagten, dass er auch dieses Mal, wie immer, Recht behalten hatte. Nicht nur was die P4 anging, sondern überhaupt, auch was sie betraf. Als könnte er sie im Laufe der Zeit wie irgendein archäologisches Rätsel entschlüsseln. Wut stieg in ihr hoch. »Du kannst also auch vorzeitliche Inschriften aus dem Jenseits übersetzen?« »Die Schrift ist nur eine von vielen Arten der Kommunikation, Schwester Serghetti, wie du nur allzu gut weißt«, erwiderte Conrad. Sie hasste dieses akademische Geschwätz, wahrscheinlich weil sie oft selbst so redete. Vielleicht aber auch, weil es – wie ihr Gespräch in der Raumkapsel – die Vertrautheit leugnete, die sie während des Abstiegs ins Eis aufgebaut hatten. »Außerdem«, fügte Conrad noch hinzu, »glaube ich nicht, dass wir auf Inschriften stoßen werden.« »Und woher willst du das wissen?« »Einfach so eine Ahnung.« Conrad strich mit der Hand über die glänzende weiße Oberfläche der Pyramide. »Schau dir die verzahnten Steine der Verkleidung an, die die ganze Konstruktion schützen.« Falls es feine Furchen gab, konnte sie diese wegen des reflektierenden Lichtes nicht sehen. »Wie kommt es, dass die Pyramiden, die wir aus Ägypten kennen, nicht so glänzen?« »Im Mittelalter wurde die Ummantelung abgerissen, um Moscheen daraus zu bauen«, erklärte Conrad. »Die Pyramiden wurden sozusagen zu billigen Steinbrüchen. Fühl mal.« Serena ließ ihre behandschuhte Hand über die Oberfläche gleiten. Der Stein fühlte sich wie Glas an. »Eine Art Erz?« Conrad lächelte. »Du hast es gleich gemerkt. Kein Wunder, dass die Echolotung die Pyramide nicht aufspüren konnte. Du hattest Recht, Yeats. Das Zeug ist glatter als ein Tarnkappenbomber.« »Und härter als Diamant«, fügte Yeats aus dem Hintergrund ungeduldig hinzu. »Hat bei der Suche nach dem Schacht die ganzen Bohrmaschinen kaputtgemacht. Wir wissen noch nicht, was es ist. Können wir jetzt vielleicht mal weitergehen?« »Oreichalkos«, sagte Conrad. Seine Stimme hallte von den Schachtwänden wider. »Was sagst du da?«, fragte Serena. »Platon erwähnte, dass die Bewohner von Atlantis Oreichalkos verwendeten. So heißt das rätselhafte Erz, das ›glänzende Metall‹«, sagte Conrad. »Ein reines Erz, ein fast übernatürliches ›Bergkupfer‹. Es funkelt wie Feuer und wurde für Wandverkleidungen verwendet – und für Inschriften. Ich gehe jede Wette ein, dass ein Großteil der Außenwand aus diesem Zeug besteht.« Conrad schien die Weisheit gepachtet zu haben. »Du glaubst wohl, alles zu wissen, wie?«, sagte Serena. »Das wird sich erweisen, wenn wir drin waren.« »Und wenn die Erbauer für unbefugte Eindringlinge eine Falle gestellt haben?«, fragte sie. »Die Erbauer haben bestimmt nie beabsichtigt, durch diesen Schacht von oben her hineinzukommen. Wenn überhaupt, dann sind die Fallen unten in der P4 und in den Gängen, die nach oben zu den wichtigen Kammern führen.« Serena sah über Conrads Schulter hinweg Yeats an, der die Stirn entweder aus Besorgnis oder – was weitaus wahrscheinlicher war – aus Ungeduld runzelte. Lopez, Kreigel und Marcus, die neben ihm standen, blickten so steinern drein wie zuvor. »Dann machen wir uns am besten mal auf den Weg«, sagte Serena und trat in den Schacht. *** Wie sich bald herausstellte, sollte Conrad mit dem Oreichalkos Recht behalten. Kaum betrat man den Schacht, änderte sich bereits die Wandoberfläche und wurde rauer. Sie bestand aus einem dunkleren Gestein oder Metall. Serena kletterte tiefer in den Schacht und hielt das Seil dabei straff. Das Licht ihrer Stirnlampe drang nur etwa zwanzig Meter tief in die Dunkelheit. »Wie geht's da unten?« Im Schacht klang Yeats' Stimme flach und blechern. »Prima«, antwortete sie. Aber sie fühlte sich gar nicht so. Die Luft war drückend und stickig. Die feuchten Wände schienen sich über ihr immer mehr zu schließen, je weiter sie den 38 Grad geneigten Schacht hinunterkroch. Sie spürte ein Kribbeln im Rücken, das langsam die Wirbelsäule hinaufstieg. Zwanzig Minuten später tauchten sie aus dem Schacht in einen saalartigen rötlichen Raum, der bei aller Düsternis ungeheure Wärme und Kraft ausstrahlte. Er war völlig leer. »Hier ist nichts, Conrad.« Ihre Stimme hallte wider. »Keine Inschriften. Nichts.« »Sei dir da mal nicht so sicher.« Sie drehte sich um und sah, wie Conrad sich an der Wand, aus der der Schacht kam, abseilte, gefolgt von Yeats und seinen drei Untergebenen. Conrad suchte den Raum mit seinem Scheinwerfer ab. Boden, Decken und Wände bestanden aus riesigen Steinquadern, die wie Granit aussahen. Der Raum war größer als ein Fußballfeld; Serena schätzte die Höhe auf sechzig Meter. Trotzdem hatte sie das Gefühl, die Wände würden sie erdrücken. »Das ist nun wirklich mal eine megalithische Architektur in Reinkultur«, bemerkte Conrad und ließ den Lichtstrahl über die Decke schweifen. »Allein die Transporttechnik für die großen Steinblöcke muss phänomenal gewesen sein.« Was die Architektur angeht, da hat Conrad Recht, dachte Serena. Sie gab einiges über die Erbauer preis. Das war etwas, das sie auch an der Linguistik faszinierte. Sprache versuchte oft, eine bestimmte Bedeutung zu verstecken oder sie irgendwie zu manipulieren. Aber gerade dadurch enthüllte sie das Wesentliche der Zivilisation, die hinter dem betreffenden Artefakt steckte. Hier waren allerdings keine Inschriften zu entdecken. Nichts. Selbst bei den unergiebigsten Ausgrabungen fand man normalerweise einen Gegenstand, der etwas über das jeweilige Volk aussagte. Eine Tonscherbe, eine Figur. Solche Funde waren mehr als Artefakte. Sie stammten von Menschen mit Gefühl und Verstand. Damals, als ihr Vater, der Priester, gestorben war und sie seine persönlichen Sachen durchsah, stieß sie dabei auf die belanglosesten Dinge, die ihr aber dennoch etwas über ihre eigene Vergangenheit mitteilten. Hier fühlte sie diese Verbindung nicht. Nichts. Nur gähnende Leere und Kälte. Nicht einmal einen Sarkophag: einen Sarg, der – wenn ihre Erinnerung an die ägyptischen Pyramiden sie nicht im Stich ließ – in der westlichen Ecke dieser Kammer hätte stehen müssen. Ein Grab wäre immerhin für einen Menschen gebaut worden. Dieser Ort aber war kalt und abweisend. »Ich sehe keine anderen Schächte. Du hast doch gesagt, wir finden noch einen. Aber hier gibt es nicht mal Türen. Wir kommen nicht weiter.« »Hier.« Conrad leuchtete zur Südwand, wo sich ein weiterer Gang befand. Er sah genau so aus wie der, aus dem sie gerade gekommen waren. »Der führt sowieso nur ins Packeis«, sagte Serena. Conrad sah genauer hin und nickte. »In der Cheopspyramide soll der Südgang den toten Pharao zu seinen Binsenbooten geführt haben, mit denen er sein Königreich auf Erden durchfuhr. Durch den Nordschacht erreichte er die Sterne im himmlischen Königreich.« »Schön und gut. Aber wo ist hier der Sarg mit dem toten Pharao?« Conrad ging zur Mitte des Raums. Seine Schritte hallten umso lauter, je weiter er sich dorthin bewegte. »Was hast du vor?« »Wenn hier nichts zu finden ist, müssen wir eben den Raum selbst untersuchen.« Conrad ging weiter zur Westwand und schaute von dort aus nach Osten. Er zog einen Gegenstand aus der Tasche, der wie ein Stift aussah, und ließ dann einen dünnen Laserstrahl auf die Wände treffen. Danach las er das Ergebnis ab. »Diese Kammer bildet einen Quader, der genau doppelt so lang wie breit ist«, teilte er den anderen mit. »Und die Raumhöhe ist exakt halb so lang wie die Diagonale des Bodens.« »Und was schließt du daraus?« »Mit diesem perfekten Rechteck haben die Erbauer den goldenen Schnitt, Phi, dargestellt.« »Phi?«, sagte Yeats. »Phi ist eine irrationale Zahl wie Pi, die man arithmetisch nicht erfassen kann«, erklärte Conrad. »Ihr Wert ist die Summe aus der Quadratwurzel aus fünf und eins geteilt durch zwei, gleich 1,61.803 auf fünf Stellen hinter dem Komma. Es gibt auch einen Zusammenhang zur Fibonacci-Folge – die Zahlenreihe, die mit 0, 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13 und so weiter beginnt.« »In welcher jede Zahl sich aus der Summe der beiden vorausgegangenen ergibt«, vervollständigte Serena seinen kleinen Vortrag. »Worauf willst du hinaus?« »Nur um das zu vervollständigen, das Verhältnis zweier Fibonacci-Zahlen strebt gegen Phi. Also, was ich sagen wollte: Die Erbauer haben nichts dem Zufall überlassen. Jeder Stein, jeder Winkel, jede Kammer wurde systematisch und mathematisch für einen höheren Zweck geplant.« Conrad sah ihr in die Augen, was bei ihr ein Kribbeln verursachte. »Und das hier ist nicht nur das älteste und größte Bauwerk unseres Planeten, es ist auch das perfekteste.« Sie schluckte. »Das bedeutet?« »Das bedeutet, dass es kein Werk von Menschenhand ist.« Serena beobachtete ihn genau. Sie war sich sicher, dass er genau wusste, wovon er sprach. Seine herausragende Intelligenz beeindruckte sie. Selten traf sie auf einen Mann, der klüger als sie war. Nur war Conrad vielleicht intelligenter, als ihm gut tat. Wie die Genies, die im Zweiten Weltkrieg von den Amerikanern benutzt worden waren, um die Atombombe zu bauen. Er war sich seiner zu sicher. Er liebäugelte offensichtlich damit, etwas in der P4 zu finden, mit dem er sich seinen Platz in der Geschichte sichern konnte. Yeats würde das allerdings niemals zulassen. Sein kalter, versteinerter Gesichtsausdruck sagte ihr, dass Conrad für ihn sehr wohl wieder entbehrlich sein würde, sobald er seinen Zweck erfüllt hatte. Vielleicht nicht als Pflegesohn, aber sicherlich als Archäologe. Deshalb machte sie sich mehr Sorgen über das, was Conrad für sich behielt, als über das, was er sagte. »Du kommst also zu dem Schluss, dass die P4 außerirdischen Ursprungs ist?« Sie schüttelte den Kopf. »Die Leichen im Eis waren sehr wohl Menschen. Laut Yeats haben die Laborergebnisse der Autopsie das bestätigt.« »Das heißt noch lange nicht, dass diese Leute die P4 auch gebaut haben«, sagte Conrad. »Dieses Ding hier war womöglich schon lange vorher da.« Es störte sie, dass er von ›diesem Ding‹ sprach. Die P4 war kein einfaches Ding. Es war immerhin eine Pyramide. Ohne Inschriften war sie allerdings nicht in der Lage, diesem Bauwerk die ihm gebührende Bedeutung beizumessen beziehungsweise mit Conrad darüber diskutieren zu können. »Woher willst du das so genau wissen?« »Hab Vertrauen.« Conrad durchquerte den Raum zu dem gegenüberliegenden Schacht. Dort angekommen, zog er ein handgroßes Gerät aus dem Gürtel. »Was machst du da?« »Ich setze meinen astronomischen Simulator in Gang.« Conrad drückte einen Knopf, und auf dem Display erschien eine Grafik. »Der Nordschacht, also der, durch den wir gekommen sind, besitzt einen Neigungswinkel von 38 Grad und 22 Minuten. Der Südschacht einen von 15 Grad und 30 Minuten.« Serena ging zu ihm hinüber. »Da komm ich nicht mit.« »Vergiss nicht, dass die Pyramide möglicherweise ein Meridian-Instrument zum Bestimmen der Sterne ist.« Conrad schaute auf das Display. »Die Schächte in der Königskammer der Cheopspyramide beispielsweise sind auf Orion und Sirius ausgerichtet. Ich vermute, dass die Schächte den hiesigen hier nachgebaut wurden. Wir brauchen die Schächte nur mit den verschiedenen Himmelskoordinaten zu vergleichen, wie sie im Verlauf der Zeit bestanden haben, und haben dann die exakte …« Conrad hielt abrupt inne. Er starrte auf das Display. »Und weiter?«, sagte Serena. »Warte.« Conrad runzelte die Stirn. »Da kann was nicht stimmen.« »Was ist los?« »Was gibt es, Conrad?«, fragte Yeats, der mit der Taschenlampe immer noch den Südschacht ableuchtete. »Die Neigung des Schachtes zielt auf die Position bestimmter Sterne, wie sie in einer bestimmten Epoche bestanden hat«, sagte Conrad. »Dieser Schacht ist auf Alpha Canis Majoris im Sternbild des Großen Hundes ausgerichtet. Im Altertum nannte man ihn Sirius, den man mit der Göttin Isis, der Mutter der ägyptischen Könige, verband.« »Der Gegenpol zum kosmischen Gott Osiris«, sagte Serena. Conrads Augen leuchteten auf. »Dessen Sternbild, Orion, jetzt gerade im Osten aufgeht.« »Das hast du mir doch alles schon in der Eisstation Orion erzählt.« Yeats sah Conrad ungeduldig über die Schulter. »Du verstehst das nicht«, sagte Conrad. »Dieser Schacht ist genau in diesem Augenblick auf Alpha Canis Majoris gerichtet, jetzt beim Übergang ins Wassermannzeitalter und wie man ihn bei Sonnenaufgang zur Zeit der Frühjahrs-Tagundnachtgleiche vom Südpol aus sehen kann.« »Conrad, es ist September«, sagte Yeats trocken. »Für uns aus dem Norden«, sagte Serena. »Hier auf der südlichen Hemisphäre ist jetzt Frühling.« Sie wandte sich an Conrad: »Was bedeutet das alles?« »Nun, von einem Fixpunkt auf der Erde aus gesehen, ist der Sternenhimmel wie der Kilometerzähler eines Autos. Die Sternbilderbeschreiben alle 26.000 Jahre einen vollständigen Zyklus«, erklärte er. »Das heißt, dass die Pyramide entweder vor 26.000 Jahren gebaut wurde, während des letzten Wassermannzeitalters. Oder …« »Oder was?« »Oder sie wurde gebaut, um zu einer bestimmten Zeit in der Zukunft mit den Sternen übereinzustimmen.« Er sah ihr in die Augen, und wieder spürte sie jenes Kribbeln. »In diesem Augenblick, genau jetzt.« Abstieg, 5. Stunde 14 Eisstation Orion Oben in der Eisstation Orion lag O'Dell auf seiner Pritsche, hörte Chopin und wartete darauf, dass sich Yeats und seine Mannschaft meldeten, als plötzlich die Wände zu wackeln anfingen und die Sirene losheulte. Nur allzu oft wurde die tägliche Monotonie in der Basis durch eine Simulation, eine Notübung, unterbrochen. Dann ging die Sirene los, und die Crew rannte auf ihre Posten in der Kommandozentrale, wo sich die Warnleuchten und die Diagnose-Computer befanden. Wenn SIM auf der Tafel aufleuchtete, war das für die Mannschaft das Zeichen dafür, dass es sich um keinen echten Alarm handelte. Aber da O'Dell die SIMs immer selbst anordnete – und diese hatte er nun einmal nicht angeordnet –, war ihm sofort klar, dass das SIM-Licht nicht aufblitzen würde. Er spürte, wie sein Puls schneller schlug und das Adrenalin hochschoss. Er raste aus dem Offizierszimmer hinaus und lief zur Kommandokapsel. Die Crew hatte sich schon um den zentralen Monitor geschart. »Die äußere Absperrung ist durchbrochen worden, Sir«, sagte der Dienst habende Lieutenant. »In Sektor vier.« O'Dell blickte auf das vom Schneegestöber körnige Bild. Ein riesiges graues Objekt tauchte im Nebel auf. »Die Russen«, fluchte er, als er das Charkowtschanka-Kettenfahrzeug erkannte. »Sektor drei durchbrochen«, rief ein anderer Offizier. »Sektor zwei durchbrochen, Sir!«, sagte ein weiterer. »Sektor eins!« »Sektor drei!« O'Dell sah es auf sämtlichen Bildschirmen: überall Charkowtschankas. Die Russen hatten die Eisstation umstellt. Er stand wie angewurzelt da. Langsam wurde ihm der Ernst der Situation bewusst. Jemand klopfte ihm auf die Schulter. »Sir?« O'Dell drehte sich um und sah den Funker vor sich. Er blinzelte. Die Lippen des Offiziers bewegten sich, aber O'Dell konnte nichts hören. »Was?« »Ich habe gesagt, die Russen haben Kontakt aufgenommen, Sir. Wollen Sie antworten?« O'Dell holte tief Luft. »Können wir General Yeats erreichen?« »Seit die Gruppe in der P4 ist, haben wir den Kontakt mit ihr verloren.« Bevor O'Dell antworten konnte, kam eine Stimme aus der Sprechanlage an der östlichen Luftschleuse. »Iwans am Tor!« O'Dell vernahm, wie die Russen mit Gegenständen, die sich wie die Kolben ihrer Kalaschnikows anhörten, an die Tür schlugen. Er stieß einen Seufzer aus und wandte sich wieder dem Funkoffizier zu. »Sagen Sie den Russen, dass sie an der Ostschleuse ein Empfangskomitee erwartet.« »Ja, Sir.« »Und in der Zwischenzeit werden wir hier, so gut es geht, Klarschiff machen.« O'Dell marschierte aus der Kommandozentrale in das Gewirr der Styroporgänge mit den hellen Panzerglasscheiben links und rechts. Ein Blick hinaus auf die Ansammlung von zylinderförmigen Kapseln und Traglufthallen sagte ihm, dass es unmöglich war, die Arbeit seiner Mannschaft zu verstecken. Er durchschritt eine Luftschleuse zu einer Kapsel, wo die Klänge von Mozarts Sinfonie immer lauter wurden. Er ging an einer Putzmannschaft vor dem Labor vorbei, in dem sich der Benben-Stein befand. Die Doppeltür mit der Aufschrift nur für personal war hinter einem Tarnfenster verschwunden, das praktischerweise auch noch beschlagen war. Er konnte nur hoffen, dass die Russen nicht so genau hinsahen. Aber wahrscheinlich war das zu viel verlangt. Genau wie seine Hoffnung, dass sie auf wundersame Weise die Dosimeter übersehen würden, die sich auf verschiedenen Schalttafeln befanden und die Strahlung des Atomreaktors auf der Basis maßen. Allein das würde ausreichen, um seiner Karriere ein für alle Mal ein Ende zu setzen, wurde O'Dell klar. Yeats würde ihn umbringen. Zwei unbewaffnete Militärpolizisten der Navy warteten an der Luftschleuse auf ihn. O'Dell gab ihnen mit dem Kopf ein Zeichen, worauf sich die schwere Innentür langsam öffnete. Die eisige Luft raubte ihm den Atem. Zwei Männer – der eine korpulent und gedrungen, der andere groß und dünn – stapften herein. Der kleinere nahm die Kapuze ab, und O'Dell blickte auf das hässlichste rotgeschwollene Gesicht, das er jemals gesehen hatte. »Ich bin Oberst Iwan Kowitsch«, sagte er triumphierend. Sein Englisch wies einen starken russischen Akzent auf. »Ich würde sagen, Sie befinden sich in großen Schwierigkeiten. Sehr großen Schwierigkeiten.« Noch bevor O'Dell antworten konnte, dass die Eisstation Orion lediglich eine harmlose Forschungsstation sei, bekam Kowitsch einen heftigen Hustenanfall. Der schlaksige Begleiter klopfte seinem Vorgesetzten auf den Rücken, bis dieser ihn wegwinkte. »Lies vor, Wlad«, befahl ihm Kowitsch und stellte ihn beiläufig vor: »Das ist Wladimir Lenin, Ururenkel von dem großen Lenin.« O'Dell schaute interessiert zu, wie der junge Offizier einen verknüllten Zettel aus seinem Parka zog und ihn dann glatt strich. Offensichtlich war dieser Herr Lenin in den Rängen nicht ganz so weit aufgestiegen wie sein Vorfahre. In gebrochenem Englisch sagte er: »Sie haben verletzt Artikel eins internationalen Antarktisvertrag. Militär verboten. Vertrag gibt Recht für uns, Basis zu inspizieren.« Der junge Lenin blickte zu Kowitsch. Als dieser nickte, steckte er das Papier wieder weg. Kowitsch wandte sich an O'Dell. »Fragen?« »Wie viele von euch kommen noch?« »Genau so viele Russen wie ihr Amerikaner auf der Basis seid, einschließlich derer, die sich unten in der Schlucht befinden«, sagte Kowitsch. »Was ist mit Oberst Zawas und seiner Mannschaft?« »Ich hatte gehofft, Sie können uns das sagen. Wir haben nämlich nichts mehr von seiner Einsatzmannschaft gehört. Sie scheint sich in Luft aufgelöst zu haben.« 15 Abstieg, 5. Stunde In der Kammer war es mucksmäuschenstill. Yeats sah Conrad an und merkte an dessen Gesichtsausdruck, dass mit den Berechnungen etwas ganz schrecklich schief gelaufen war. Der Nonne war das wohl auch nicht entgangen. »Besteht die Möglichkeit, dass du …« »Irrtum ausgeschlossen«, sagte Conrad. »Der Südschacht, von dem wir wissen, dass er vor mindestens 12.000 Jahren errichtet wurde, ist so gebaut, dass er sich auf Sirius richtet, so wie der Stern exakt heute am Firmament steht. Entsprechend zeigt der Nordschacht auf Al Nitak, den mittleren Stern im Orion-Gürtel.« Das konnte noch nicht alles sein, so viel war Yeats klar, aber Conrad schwieg, und Yeats wusste warum. Auch Serena beobachtete Conrad eingehend. »Selbst wenn du mit den astronomischen Zuordnungen Recht hast, warum findet das Ganze ausgerechnet jetzt statt?«, wollte sie wissen. »Glaubst du, dass die P4 was mit den jüngsten Erdbeben zu tun hat?« Zu Yeats' Erleichterung gab Conrad keine Antwort darauf. »Wir sollten die Eisstation Orion verständigen, bevor wir weitermachen.« Yeats nahm sein Funkgerät und stellte die Frequenz ein. »Eisstation Orion, hier ist Team Phönix.« Keine Antwort. Nur ein Zischen und Knacken. »Eisstation Orion«, sagte Yeats noch einmal. »Versteht ihr mich?« Wieder keine Antwort. »Mist. Die Mauern stören wahrscheinlich.« »Die Sonde hat vor dem Aufprall noch gesendet. Da haben die Mauern auch nicht gestört«, wandte Serena ein. »Vielleicht ist eure Basis ja verschwunden. Vielleicht hat der Schneesturm sie begraben.« »Also wirklich, Schwester Serghetti«, sagte Yeats entrüstet. »Doktor Serghetti«, verbesserte sie ihn. »Hören Sie mal zu, Doktor Serghetti. Es handelt sich hier um einen Funkausfall, wahrscheinlich wegen des Polarsturms. Das ist alles. Bei dem Wetter warten wir lieber hier ab. In der Zwischenzeit machen wir ganz normal weiter. Lopez, Marcus, Kreigel!« Die drei Offiziere meldeten sich. »Ja, Sir!« »Errichtet in der Kammer einen Kommando- und Versorgungsposten. Das Habitat ist womöglich nicht stabil genug. Bringt alles Notwendige hier runter.« Yeats legte Conrad die Hand auf die Schulter. »In der Basis hast du von vier Schächten in der Pyramide gesprochen.« »Ja, vermutlich sind die anderen beiden, wenn es sie überhaupt gibt, in einer tiefer gelegenen Kammer. Wenn wir sicher sein wollen, sollten wir uns auf die Suche machen.« »Sicher worüber?«, fragte Serena. »Das weiß ich erst, wenn wir da sind«, sagte Conrad knapp. »Und wie sollen wir da hinkommen?« »Durch die Tür.« »Welche Tür?«, fragte Yeats. »Die da.« Yeats beobachtete, wie Conrad sich dem Schacht, aus dem sie gekommen waren, zuwandte und dann die Wand rechts davon mit seiner Taschenlampe ableuchtete. Zu Yeats' großem Erstaunen befand sich in der Ecke ein offener Durchgang. »Der war vorher nicht da«, sagte Serena mit heiserer Stimme. »Doch«, erwiderte Conrad. »Er war die ganze Zeit da.« Wieder einmal musste Yeats Conrads' Gefühl für Raum und Maß anerkennen. Es würde ihn nicht wundern, wenn Conrad schon einen Plan vom Inneren der Pyramide im Kopf hatte. »Und ich sage dir, er war noch nicht da«, beharrte Serena. »Und ich behaupte, dass du ihn übersehen hast«, sagte Conrad. »Beruhige dich, okay?« »Na schön.« Sie machte einen Schritt auf den Durchgang zu. »Worauf warten wir dann noch?« Yeats hielt sie am Arm zurück. »Sie warten hier, während Conrad und ich die beiden anderen Schächte suchen.« In Serenas Augen sah Yeats Wut aufblitzen. Sie hatte offensichtlich ein Problem damit, Befehle erteilt zu kriegen. Kein Wunder, dass sie den Vatikan ständig nervte. Sie drückte gegen seinen Arm auf den Durchgang zu, aber Conrad hielt sie an der Schulter fest und zog sie zurück. »Nur mit der Ruhe, Serena. Sobald wir die anderen Schächte gefunden haben, holen wir dich.« Das werden wir ja sehen, dachte Yeats. Er sagte jedoch: »Natürlich holen wir Sie. Sobald wir was finden.« »Versprochen«, fügte Conrad mit ernster Miene hinzu. Yeats passte das gar nicht. Conrad hatte einfach nicht das Recht, irgendwelche Versprechungen zu machen. Yeats konnte aus Serenas Gesichtsausdruck ganz klar schließen, dass sie Conrad keine Sekunde lang glaubte. »Also gut«, sagte sie, »dann geht mal los.« Yeats gab Marcus und Kreigel mit dem Kopf ein Zeichen, worauf sich die beiden am Durchgang postierten. Yeats folgte Conrad aus der Kammer in den niedrigen viereckigen Tunnel, der weiter nach unten führte. *** Während sie im Dunkeln weitergingen, ärgerte sich Yeats über seine Fehlentscheidung, Mutter Erde im Team mitmachen zu lassen. Nicht, weil etwas mit ihr nicht stimmte, sondern weil in ihrer Gegenwart offensichtlich mit Conrad was nicht stimmte. Etwas Abstand, so hoffte Yeats, würde den Kopf des Jungen wieder klar machen. Diese Strategie machte sich schon ein paar Minuten später bezahlt, als sie eine feste, waagerechte Plattform erreichten. Sie sah wie ein Altar aus. Conrad blieb stehen. »Was ist das?«, wollte Yeats wissen. »Die Plattform befindet sich genau auf der Ost-West-Achse der Pyramide«, erklärte Conrad. »Sie markiert den Übergangspunkt zwischen der Nord- und der Südhälfte des Gebäudes.« »Und?« Yeats wollte gerade noch einen Schritt nach vorn machen, aber da packte Conrad ihn am Arm. Der Griff war stärker, als Yeats vermutet hätte. »Sieh mal.« Conrad richtete seine Taschenlampe in die Dunkelheit und erleuchtete einen riesigen Tunnel, der in die Erdmitte hinabführte. In der Mitte des glänzenden Bodens war eine etwa zwölf Meter breite und sechs Meter tiefe Wasserrinne eingelassen. Sie spiegelte die Konstruktion der gewölbten Decke, die am höchsten Punkt hundert Meter hoch war. »Mein Gott!« Yeats trat von der Kante zurück. »Du kennst dich hier verdammt gut aus, Junge. Bist du dir sicher, dass du nicht schon mal hier warst?« »Nur in meinen Träumen.« »Sieht mir eher wie ein Albtraum aus«, sagte Yeats, als er über die Kante schielte. »Wo führt das hin?« »Es gibt nur eine Möglichkeit, das rauszufinden.« Conrad löste das Seil von seinem Rucksack. »Die Neigung beträgt ungefähr 26 Grad, und der Untergrund ist sehr glitschig. Wir müssen uns anseilen. Bleib dicht an der Mauer, damit du nicht in den Kanal rutschst.« Nach ungefähr dreihundert Metern Abstieg verlor Yeats jegliches Orientierungsvermögen. Solch ein Schwindelgefühl beschlich ihn manchmal auch in der Eisstation Orion. Er wusste dann nicht mehr, was oben oder unten war, ob es abwärts oder hinaufging. Yeats rieb sich die Augen, die vom kalten, salzigen Schweiß schmerzten, und ging weiter den großen Gang hinab. »Du hast Serena doch nicht nur als Beobachterin mitgenommen, oder etwa doch?«, sagte Conrad auf einmal. Yeats spürte, dass Conrad die Nonne vermisste. Du meine Güte, dachte er, wir haben sie doch gerade erst zurückgelassen. »Um Gottes willen, nein!«, sagte Yeats. »Ich will herauskriegen, was sie alles weiß. Was auf jeden Fall mehr sein dürfte, als sie zugibt.« »Warum bist du so misstrauisch?« »Das gehört zu meinem Job.« »Irgendwie finde ich, dass Serena nicht allein bleiben sollte.« »Drei gute Offiziere bewachen sie.« »Ich finde, wir hätten sie mitnehmen können.« »Auf keinen Fall. Und jetzt kannst du mir auch verraten, was du in Gegenwart der guten Schwester nicht sagen konntest. Zum Beispiel das, was du wirklich denkst.« Conrad lockerte den Griff ums Seil, und Yeats stellte fest, dass jetzt die Schwerkraft Conrad weiter in den Tunnel gleiten ließ. Yeats folgte unmittelbar hinter ihm. »Wahrscheinlich ist da gar nichts dahinter«, sagte Conrad. »Reiner Zufall.« »So was gibt's hier nicht«, antwortete Yeats. »Also, schieß los.« »Schau dich mal um.« Conrad deutete mit der Hand in den gewaltigen schimmernden Gang. »Hier und in der ganzen Pyramide gibt es keinerlei Inschriften, keine religiösen Zeichen oder sonstige Symbole.« »Und?« »Das heißt, dass es sich nicht um eine Grabstätte handelt. Sie ist noch nicht mal ein Rätsel für Eingeweihte, das man auf irgendeine Weise zu lösen hat, wie ich das vorhin angedeutet habe.« »Was zum Teufel ist es dann?« »Irgendwie habe ich das Gefühl, als wären wir in einer großen Maschine.« Yeats verspürte tief in den Eingeweiden einen verstörenden Ruck. Die Neuigkeit kam wie eine Prophezeiung, einerseits halbwegs erwartet, andererseits beunruhigend. »Maschine?« »Eine Maschine, die einem ganz bestimmten Zweck dienen soll.« Ein bedrückendes Gefühl lag in der Luft. Yeats räusperte sich. »Welchem denn?« »Ich weiß nicht. Vielleicht hat die Erbauer eine Katastrophe eingeholt, bevor sie die Maschine starten konnten.« »Gut möglich.« »Vielleicht hat diese Maschine das Unheil aber auch erst herbeigeführt.« Yeats nickte bedächtig mit dem Kopf, während er das Gesagte auf sich wirken ließ. Er hatte es irgendwie schon die ganze Zeit gespürt. Er wollte Conrad mehr darüber erzählen. Aber jetzt war nicht der richtige Augenblick dazu. Conrad würde es hoffentlich auch allein herausfinden. *** Als sie den großen Gang hinunterstiegen, bereute Conrad es immer mehr, Serena in der oberen Kammer zurückgelassen zu haben. Nicht nur weil er wollte, dass sie sich selbst ein Bild davon machte, wie Recht er mit der P4 hatte. Ihre Augen hatten ihm gezeigt, wie ausgeschlossen sie sich fühlte. Er kannte dieses Gefühl nur zu gut und hatte nun ein schlechtes Gewissen, dass er Yeats gegenüber nicht zu ihr gehalten hatte. Aber er wollte auch nicht seine Chance verspielen, als Erster die unteren Teile zu erforschen und die Führung zum größten archäologischen Fund der Menschheitsgeschichte zu übernehmen. Als sie das Ende des Gangs erreichten, begann Conrads geistiges Bild vom Inneren der Pyramide jedoch etwas zu wanken. Er stand vor einer Gabelung, von der zwei kleinere Tunnel abzweigten. Es hätten drei sein sollen. Hinter sich hörte er Yeats schwer atmen. »Und?«, fragte Yeats ungeduldig. »Wo lang jetzt?« Conrad sah sich die beiden ›kleineren‹ Tunnel genau an. Beide waren mehr als zehn Meter hoch. Der eine führte die Neigung von 26 Grad fort. Der andere fiel um 90 Grad in einen senkrechten Schacht ab. Beides gefiel ihm nicht. Instinktiv drehte sich Conrad um und suchte nach einem dritten Tunnel, der unter dem Gang zurückführen musste. Er fand nichts. »Was machst du da?«, fragte Yeats. Conrad klopfte die kalte Mauer ab und schwieg. Er war sich sicher, dass die zentrale Kammer, die er suchte, auf dieser Ebene war. Und wenn die Cheopspyramide in Gise wirklich eine Nachbildung der P4 war, dann müsste der Korridor, der in die Hauptkammer führte, dort am Ende des großen Gangs sein. War er aber nicht. Vielleicht war es voreilig anzunehmen, dass die alten Ägypter ihr Wissen unmittelbar von den Atlantis-Bewohnern hatten. Selbst wenn seine Ausgangshypothese richtig war, bedeutete das noch lange nicht, dass die Ägypter die Kenntnisse oder die Mittel hatten, eine genaue Kopie der P4 zu erstellen. »Die Kammer muss auf dieser Ebene sein«, sagte er. »Aber wir kommen nur von unten her rein.« »In Ordnung«, sagte Yeats. »Welchen Tunnel nehmen wir also?« »Theoretisch müssten beide Gänge zur Grabkammer führen«, sagte Conrad zögernd. »Solange das nicht unsere Grabkammern sind, ist mir alles recht.« »Du verstehst das nicht. Die Grabkammer in der Pyramide dient als eine Art kosmisches Ankleidezimmer, wo der König tanzen und die Vollendung seines Lebens feiern kann. Oben auf der Pyramide ist der Phönix- oder Benben-Stein, der die Wiedergeburt symbolisiert. Zu dem Ganzen gehört auch eine Himmelfahrt.« »Verstehe«, sagte Yeats. »Und irgendwo dazwischen wird dieser Hokuspokus veranstaltet.« »In der Hauptkammer. Aller Wahrscheinlichkeit nach finden wir dort Texte oder irgendwelche Vorrichtungen, die die Bedeutung der P4 entschlüsseln.« Conrad sah sich weiter um. »Da der Zugang nicht hier ist, gibt es vermutlich in der Grabkammer einen Anhaltspunkt.« »Welcher Tunnel führt denn nun zu der Grabkammer?« Yeats sah grübelnd vor sich hin. In Wirklichkeit musste er sich immer noch daran gewöhnen, die Pyramide von oben her zu erkunden, wo er doch sonst alles im Leben immer von unten nach oben angegangen war. Conrad blickte den ersten Tunnel hinab. Am naheliegendsten wäre es, weiter der Neigung des Gangs, durch den sie gekommen waren, zu folgen. Er vermutete aber, dass dieser Tunnel zum Haupteingang der P4 führte. Wahrscheinlich war er irgendwo versperrt, um zu verhindern, dass jemand direkt von außen in die P4 hereinkam. »Entscheide dich endlich, mein Junge.« »Die zweite Tür. Wir nehmen den senkrechten Schacht.« »Okay.« Yeats beugte sich über den Schacht und ließ ein Seil hinab. *** Eine halbe Stunde später tauchte Conrad am unteren Ende des senkrecht verlaufenden Schachts auf und ließ sich daraufhin in einen tiefer gelegenen Nord-Süd-Korridor ab. Dieser war ebenfalls mehr als zehn Meter hoch. Yeats war gerade hinter ihm aufgekommen, da fing Conrads Uhr zu piepen an. »Hast du vielleicht eine Verabredung?«, fragte Yeats ironisch. »Wir sind jetzt ganz unten in der P4.« Conrad zog den Handschuh zurück und blickte auf das elektronisch beleuchtete blaue Zifferblatt seiner Multisensoren-Uhr. Zusätzlich zu einem eingebauten Digitalkompass, einem Barometer, einem Thermometer und einem GPS-System besaß sie auch einen Höhenmesser. »Wir sind schon fast eineinviertel Meilen abgestiegen. Ich habe die Uhr auf die Zielhöhe gestellt.« Yeats zog seinen eigenen Höhenmesser hervor. »Deine Uhr weicht über eine Viertelmeile ab. Wir sind kaum eine Meile tiefer.« Conrad blickte skeptisch auf seinen Höhenmesser. Sein Vater ließ ihm nichts durchgehen. Keinen Zentimeter. Schon gar nicht eine Viertelmeile. Was Yeats betraf, konnte das hier genauso gut die Landung des ersten Menschen auf dem Mars sein, wurde sich Conrad bewusst, und die NASA verzieh nun einmal nicht den geringsten Fehler. Conrad überlegte und kam zu dem Schluss, dass Yeats Recht hatte. Die P4 war eindeutig wichtiger für die Menschheit als der Mars. Auf jeden Fall aber näher. Eindeutig. »Also, wo lang jetzt«, drängte ihn Yeats. »Nach Norden oder nach Süden?« Conrad löste sich vom Seil und wandte sich instinktiv nach Norden. »Da entlang.« Vierhundert Meter weiter nördlich neigte sich der Untergrund plötzlich, und die Raumhöhe verdoppelte sich. Fünfzig Meter vor ihnen war der Eingang, den Conrad suchte. Er spürte, wie ihm die Erregung zu Kopf stieg. »Das ist er«, sagte er. Sie betraten einen deutlich größeren Raum. Der Strahl ihrer Stirnlampen löste sich im Nichts auf, und der Boden unter ihnen fiel leicht ab. Fröstelnd nahm Conrad wahr, dass dieser Hohlraum um einiges größer war als die obere Kammer, in der sie sich befunden hatten, bevor sie den großen Gang hinabgestiegen waren. Dennoch fühlte sich die Leere außerhalb der Reichweite ihrer Lampen irgendwie erdrückend an. Sie bewegten sich auf absolutem Neuland. Er spürte die Spannung im Bauch. »Ich werfe jetzt eine Leuchtbombe – in dreißig Sekunden geht sie los«, sagte Yeats. »Drei, zwei, eins.« Conrad hörte, wie Yeats den Stab in die Dunkelheit warf. Er zählte leise mit, während er seine Digitalkamera herauszog, um im Bild festzuhalten, was sie gleich sehen würden. Ein paar Sekunden später war die ganze Kammer in Licht getaucht. Conrad schirmte seine Augen ab und schwenkte die Kamera auf etwas, das flüchtig betrachtet einem Steinkrater glich. Als sich seine Augen an das Licht gewöhnt hatten, sah er, dass sie sich tatsächlich am Rand eines etwa 70 Meter tiefen Kraters befanden, dessen Durchmesser fast eine Meile maß. Die Flamme zischte und ging aus. Conrad und Yeats waren wieder in völliger Finsternis. »Zeig mal, was du aufgenommen hast.« »Sofort.« Conrad spielte die Bildfolge auf dem flachen Display der Kamera ab. Im Dunkeln leuchteten die Bilder hell auf. »Stopp«, sagte Yeats. Conrad schaltete auf Standbild. Irgendetwas war da mitten im Krater zu sehen. Ein Kreis oder ein Rad. »Kannst du es heranzoomen?« »Etwas schon.« Conrad zitterten die Hände vor Aufregung, während er das Bild vergrößerte, bis es das Display ganz ausfüllte. Es war immer noch zu unscharf, um etwas klar erkennen zu können. »Gehen wir weiter«, sagte er. Conrad und Yeats gingen gemeinsam auf die Mitte zu. Sie mussten aufpassen, dass sie auf dem schrägen Boden nicht das Gleichgewicht verloren. Conrad spürte sein Herz heftig schlagen. Eine derartige Kammer hatte er weder bei den Ägyptern noch bei den Aimaras erforscht. Er kannte nichts, was der hiesigen Dimension annähernd glich. Nach einer halben Meile befahl Yeats, stehen zu bleiben. Conrad richtete den Strahl seiner Taschenlampe auf den Boden. Zehn Meter vor ihnen konnte er etwas erkennen. Auf einer ovalen Kartusche, die mitten in den glänzenden Steinboden eingelassen war, leuchteten vier Ringe wie prachtvolle Siegel. Yeats pfiff leise. »Da haben wir ja endlich die Inschriften für Mutter Erde.« »Nicht unbedingt.« Conrad atmete schwer. Ein Teil in ihm wollte zurücklaufen und sie holen. Ein anderer Teil weigerte sich zuzugeben, dass er das nicht allein entziffern konnte. »Eine Ikone oder ein Symbol.« »Dann kannst du also auch sagen, was das bedeutet?« »Dafür krieg ich ja die dicke Kohle.« Conrad ging in die Raummitte. In der ovalen Kartusche war eine Hieroglyphe eingeritzt, die er schon einmal gesehen hatte. Sie stellte einen Gott oder König dar, der in einer Art mechanischer Vorrichtung saß. Er sah wie ein bärtiger Weißhäutiger aus und trug eine kunstvolle Verzierung auf dem Kopf, eine Atef-Krone. Und er hielt so etwas Ähnliches wie ein Zepter in der Hand. Es sah wie ein kleiner Obelisk aus. »Diese Figur kommt mir irgendwie bekannt vor«, hörte Conrad sich sagen. »Aber ich komm nicht drauf.« Conrad betrachtete weiterhin die Kartusche. Das eingravierte Bild glich den symbolischen Darstellungen der Götter Huiracocha in den Anden und Quetzalcoatl in Zentralamerika. Aber dieses fremdartige Symbol erweckte in ihm etwas Urzeitliches, Angsteinflößendes. Plötzlich wusste er auch, warum. »Diese Pyramide ist Osiris geweiht.« Conrads Stimme zitterte. »Na und?«, sagte Yeats. »Die meisten Pyramiden sind doch einem Gott gewidmet.« »Du begreifst nicht«, sagte Conrad aufgeregt. »Dieses Siegel deutet darauf hin, dass die P4 vom König der Ewigkeit, dem Herrn der Urzeit beziehungsweise dem Schöpfer der Welt gebaut wurde.« »Urzeit?« »Ja, die Zeit der Entstehung der Welt, von der ich dir in der Eisstation Orion erzählt habe, also die Zeit, als die Menschheit aus der Ur-Finsternis entstand und von den Göttern die Gaben der Zivilisation erhielt. Alte ägyptische Texte sagen, dass diese Gaben und Techniken durch ›Vermittler‹ eingeführt wurden. Das waren weniger bedeutende Gottheiten, Urshu genannt, das heißt ›Wächter‹.« Yeats dachte nach. »Du glaubst also, dass diese Urshu die Bewohner von Atlantis waren und die P4 erbaut haben?« »Schon möglich«, sagte Conrad. »Serena wird da sicherlich ihre eigenen Schlüsse ziehen. Aber wir haben hier zweifelsohne den Ursprung der Welt gefunden.« Triumph lag in seiner Stimme. »Die menschliche Urkultur.« »Die Urzeit.« »Die Urzeit«, wiederholte Conrad und sprach die Worte in seinem besten Altägyptisch: »Zep Tepi.« Kaum waren die Wörter aus seinem Mund gekommen, wirbelten sie mit zentrifugaler Kraft aus der Mitte des Kraterbodens durch die Kammer. Der Untergrund bebte. Plötzlich sprang die Kartusche auf. Conrad wich stolpernd zurück, weil aus dem Boden ein Feuerstrahl nach oben in einen runden Deckenschacht schoss. »Puh!«, rief er, stolperte und fiel auf den Hintern. Er rutschte auf das Feuerloch zu. Yeats griff ihn am Arm und hielt ihn fest. »Immer mit der Ruhe.« Auf einmal verschwand das Feuer wieder, und das Beben hörte auf. Ein kraterförmiger Schacht blieb an der Stelle zurück, wo die Kartusche aufgesprungen war. Yeats zog Conrad auf die Beine. »Wo um alles in der Welt führt der jetzt hin?« Conrad beugte sich über das Feuerloch und blickte hinein. Für den Bruchteil einer Sekunde konnte er den Blick auf einen glühenden Gang werfen, der in das Erdinnere zu führen schien. Aber die Restwärme des Feuerschwalls brannte auf seiner Stirn, und er zog den Kopf schnell wieder zurück. Conrad berührte behutsam die Stirn, um sich zu vergewissern, dass sie auch wirklich noch da war. »So wie das aussah, kann es sich nur um die Hölle handeln.« 16 Abstieg, 6. Stunde Es war der Wodka. Es musste am Wodka liegen, fluchte Oberst Iwan Kowitsch, als er das erste Mal die Pyramide in der Eisschlucht erblickte. Entweder das oder die Amerikaner oben auf der Eisstation hatten ein Halluzinogen in sein Getränk geschüttet. Auf jeden Fall war es Teil einer amerikanischen Verschwörung, um die Russen irre zu machen. Es hatte schon mit der imperialistisch-kapitalistischen Finanzierung der russischen Revolution von 1917 begonnen. Mit der Einsetzung Stalins und der Errichtung der Gulags war diese Verschwörung erst richtig in Fahrt gekommen. Und dann das Abschlachten von 20 Millionen im Zweiten Weltkrieg. Sie fand ihren Höhepunkt in der erniedrigenden Auflösung der Sowjetunion im Jahre 1991 und dem Bau goldener amerikanischer Hamburger-Tempel in Moskau. Jetzt, wo die Vereinigten Staaten die unbestrittene Supermacht auf der Welt waren, war Kowitsch davon überzeugt, dass die Amerikaner die Russen nur noch zu ihrem grausamen Vergnügen am Leben erhielten, nämlich um ihnen mit Big Macs Nährstoffe vorzuenthalten und ihre Seelen mit TV-Shows wie Baywatch auszuhungern. Aus dieser Hölle war Kowitsch in die karge, unverfälschte Schönheit der Antarktis geflüchtet, nur um in der Gestalt der Eisstation Orion auf eine wahre Luxusherberge im Schnee zu stoßen. Mit Computern auf dem neuesten Stand der Technik, Nobelschlafquartieren, Toiletten mit Spülung und einem Arsenal an Lebensmittelvorräten; fehlten eigentlich nur noch der Swimmingpool samt Wellnessbereich. Der Pförtner des Hotels Orion, Colonel O'Dell, war während der Inspektion einigermaßen zuvorkommend gewesen. Aber der Amerikaner war dann doch noch ziemlich nervös geworden, als die russischen Messgeräte radioaktive Strahlung aufspürten und Kowitsch daraufhin vorschlug, den gähnenden Abgrund im Eis neben der Basis zu inspizieren. Kowitsch war der festen Überzeugung, dass er drauf und dran war, eine Atomtestanlage dieser Schurken zu entdecken. Allein schon deswegen, weil Russland selbst am anderen Ende des Planeten, in der Arktis, eine solche besaß. Erst als sie unten in der Schlucht angekommen waren und die Spitze der Pyramide sahen, erkannte Kowitsch, dass die Amerikaner mit ihm und seinen 20 russischen Kameraden hatten Schlitten fahren wollen. Wie würde er jemals den Schrecken in den Gesichtern seiner Leute vergessen können, als diese hunderte von Menschen in den Eiswänden dieses Grabes erblickten? Wahrlich, ihr Offizier hatte sie in die Hölle geführt! Das leuchtend weiße Äußere der Pyramide wurde nicht einmal aus der Nähe von ihrem Ultraschall erfasst. Es war eindeutig: Die Amerikaner hatten ein streng geheimes unzerstörbares Tarnmaterial entwickelt, das ihre Flotte und ihre Luftwaffe unsichtbar und unbesiegbar machte. Und als ob es damit nicht genug war, spulte sich in Kowitschs Kopf immer wieder die gleiche Botschaft ab. »Warte, das ist noch nicht alles!«, wiederholte die Stimme wie ein schrecklicher amerikanischer Werbespot. »Noch nicht alles, noch nicht alles!« Als besonderen ›Höllen-Bonus‹ hatten die Amerikaner so etwas wie ein Freizeitmobil auf der Pyramidenspitze geparkt. Und dann war da noch ein Loch, das sie zum Weitergehen lockte. Hier in diesem ›Habitat‹ hatte Kowitsch sich von den beiden amerikanischen Begleitern und von fünf seiner Leute getrennt. Er war mit der übrigen Mannschaft in den zwei Meter hohen Schacht vorgedrungen. Erst nach einer guten halben Stunde erreichten sie das andere Ende. Sie gelangten in etwas, das einem massiven Backofen aus Stein glich, der etwa die Größe eines Olympiastadions besaß. Und in dieser Kammer befanden sich vier amerikanische Soldaten – zwei Männer und zwei Frauen –, die wortlos ihre Waffen abgaben. Irgendwie schien es aus diesem Grab keinen Weg hinaus zu geben. Als schließlich die Versuche scheiterten, Wlad und den Rest der Mannschaft oben in der Eisstation Orion per Funk zu erreichen, schwante Kowitsch bereits das Schlimmste. Er war an der Nase herumgeführt worden, stellte er fest. Das hier war eine Falle. Sie waren in das Massengrab gelockt worden und sollten da sterben. Bis es so weit war, würden die Amerikaner ihren langsamen Abstieg in den Wahnsinn mit versteckten Kameras filmen, um das Video dann neuen Rekruten als Anschauungsmaterial vorzuführen. Schließlich fand einer seiner Leute doch noch einen Durchgang. Kowitsch ließ ein paar Soldaten zurück, die die Amerikaner bewachen sollten, und ging mit den anderen dann den niedrigen viereckigen Tunnel hinab, bis sie zu einer Plattform kamen, von der aus man einen riesigen Gang sah, der ein Tunnel der Moskauer U-Bahn hätte sein können. Er war mindestens einhundert Meter hoch, schätzte er. In Boden und Decke und die glänzenden Mauern waren zwölf Meter breite und sechs Meter tiefe Rinnen eingelassen. »Sehen Sie mal, Oberst!«, rief ein Soldat und deutete in den Abgrund. »Da geht's weiter!« Kowitsch blickte über den Rand und konnte seinen Augen nicht trauen. In einem der Kanäle sah er zwei Seile, die ihn geradezu aufforderten, weiter hinabzusteigen. In seinem aufgewühlten Inneren stieg eine Ahnung hoch, die durch die umherwirbelnden Bilder von Fastfood, Bikinis, Ginsu-Messern und Selbstverwirklichungsseminaren drang. Diese Ahnung teilte ihm unmissverständlich mit, dass er und seine Leute hier ihr Leben lassen würden; dass sie es nie wieder zurück zur Oberfläche schafften. Mit fröstelnder Klarheit fällte Kowitsch die letzte strategische Entscheidung seines Lebens: Wenn sie aus diesem Grab nicht mehr herauskamen, dann sollten es die Amerikaner auch nicht mehr können. 17 Abstieg, 7. Stunde Im unterirdischen Höllenkessel der P4 hielt Conrad gerade eine kalte Feldflasche an seine verbrühte Stirn, als aus dem Schacht ein mattes Glühen über den Kraterboden kroch. Die Brandwunde schmerzte zwar weiterhin, aber dennoch nahm er die Flasche weg. Einzelne Haare der versengten Augenbraue hafteten am Kondenswasser. »Die Situation heizt sich ganz schön auf«, bemerkte Yeats. »Wir sollten zusehen, dass wir hier rauskommen, bevor wir von einem weiteren Feuerausbruch verbrutzelt werden. Mit den Frostbeulen an der Hand und den Verbrennungen im Gesicht hast du schon genug Schläge einstecken müssen.« »Wir sollten wenigstens noch die Temperatur messen. Du hast doch einen Hitzesensor dabei, oder?« Yeats zog einen kleinen Ball aus dem Rucksack. »Die Hülle ist aus demselben Material, das die NASA für die Außenverkleidung des Spaceshuttles verwendet«, sagte Yeats. »Achtung!« Er warf den Ball in den Schacht. Kurz darauf erschienen die Zahlen auf seinem Handcomputer. Conrad sah sie sich an. »Der hitzebeständige Sensor ist nach vier Meilen verglüht. Davor hat er eine Temperatur von gut 5.000 Grad Celsius gemessen.« »Allmächtiger! Genauso heiß wie die Sonnenoberfläche.« »Oder wie der flüssige Erdkern«, sagte Conrad. »Ich glaube, das hier ist ein geothermischer Spalt.« »Ein geothermischer Spalt?« Yeats kniff die Augen zusammen. »So was wie die Dinger im Meer?« Conrad nickte. »Einer meiner Professoren von früher hat eine solche heiße Stelle mal in Ecuador entdeckt, ungefähr fünfhundert Meilen vor der Küste in einer Tiefe von dreihundert Metern. Auf dem Meeresboden gibt es kaum Leben, weil es dunkel ist und die Temperatur um den Gefrierpunkt liegt. Aber dort, wo sich Risse in der Erdkruste befinden, entweicht die Hitze aus dem Erdkern und wärmt das Wasser. Deshalb können bestimmte Arten von Meerestieren – Felskrabben, Muscheln, aber auch bis zu drei Meter lange Würmer – dort überleben.« Conrad sah sich um. Bei dieser geothermischen Kammer musste es sich um so etwas Ähnliches handeln. Blieb nur noch die Frage, ob die Erbauer von Atlantis die P4 über einem bereits existierenden Riss in der Erdkruste errichtet hatten, um die Wärme auszunutzen, oder ob sie über eine derart fortgeschrittene Technik verfügten, dass sie den Erdkern anzapfen konnten und dadurch quasi einen unbegrenzten Energievorrat hatten. »So wie Platon das schildert, wurde Atlantis durch einen gewaltigen Vulkanausbruch zerstört«, sagte Yeats. »Vielleicht war das hier die Ursache.« »Vielleicht ist es aber auch die legendäre Energiequelle von Atlantis«, meinte Conrad. »Die Bewohner von Atlantis nutzten angeblich die Kraft der Sonne. Die meisten Wissenschaftler nahmen daher automatisch an, dass damit die Sonnenenergie gemeint war. Aber diese geothermischen Risse zapfen den Erdkern an – der so heiß ist wie die Oberfläche der Sonne. Bei der Energiequelle von Atlantis könnte es sich also auch im übertragenen Sinn um die Kraft der Sonne handeln.« »Schon möglich«, meinte Yeats. Conrad merkte, dass Yeats an etwas anderes dachte, etwas, das mit dem archäologischen und technologischen Wert der P4 wahrscheinlich nichts zu tun hatte. »Hast du eine andere Theorie?« Yeats nickte. »Eigentlich sagst du, dass die P4 im Wesentlichen eine riesige geothermische Maschine ist, die Wärme aus dem Erdkern ableiten kann, um das Eis der Antarktis zu schmelzen.« Conrad wurde plötzlich ganz still. Er hatte diese katastrophale Konsequenz noch nicht bedacht. Für ihn waren solche Gedanken die Domäne von Unheil verkündenden Umweltaktivisten wie Serena. Er dachte wieder an die Leichen im Eis über der P4 und an Hapgoods Theorie der Erdkrustenverschiebung. Langsam stieg Angst in ihm hoch. Er hatte die Möglichkeit nicht bedacht, dass ein Naturereignis in der Größenordnung einer weltweiten Oberflächenverschiebung der Erde durch gezielte Planung ausgelöst werden konnte. Das wäre das Ende einer 41.000 Jahre alten Erdgeschichte. Yeats hingegen schien diesem Szenario schon ernsthafte Gedanken gewidmet zu haben. Conrad musste zugeben, dass unter der P4 mit Sicherheit genug Wärme aufgestaut war, um so viel Eis zum Schmelzen zu bringen, dass der steigende Meeresspiegel ganze Städte an den Küsten aller Kontinente auslöschen würde. »Ja, diese Maschine könnte die Antarktis erwärmen«, sagte Conrad langsam. »Aber zu welchem Zweck?« »Vielleicht um den Kontinent oder den Planeten für die Menschen bewohnbarer zu machen?«, fuhr Yeats fort. »Ist aber auch egal. Wichtig ist jetzt, dass es hier irgendwo einen Kontrollraum geben muss. Und den müssen wir finden. Bevor uns jemand zuvorkommt.« »Genau.« Conrad fragte sich, warum es ihn überraschte, dass Yeats genauso praktisch veranlagt war wie er. »Dabei müsste es sich um die Hauptkammer handeln, also die mit den zwei verdeckten Himmelsschächten.« »Dann nichts wie raus hier«, sagte Yeats. »Machen wir uns auf die Suche, bevor das Ding hier noch mal losgeht – und zwar richtig.« Sie stiegen wieder zu dem Gang hoch. Conrad hatte Angst, dass er soeben etwas getan hatte, was er bisher nie zugelassen hatte, nämlich die Unversehrtheit eines Fundes zu gewährleisten. Schlimmer noch: Vielleicht hatte er sogar sich und andere zerstört. Er konnte fast das Flüstern hören, das ihn seine ganze Karriere hinweg verfolgt hatte und ihn jetzt den Tunnel hochtrieb: Grabräuber … Schänder unberührter Ausgrabungen … Conrad der Zerstörer. Sie mussten jetzt unbedingt zu Serena zurückkehren und dann die geheime Kammer in der P4 finden, um sicherzustellen, dass dieses kosmische Ventil abgesperrt wurde. Als sie die Gabelung im großen Gang erreichten, zeigte Conrad sich keineswegs erstaunt, dass jetzt drei statt zwei Tunnel vorzufinden waren. »Sag mir jetzt bloß nicht, dass du den vorher schon gesehen hast.« »Nein, der war eindeutig nicht da«, sagte Conrad. »Möglicherweise haben wir von der unteren Kammer aus den Durchgang geöffnet.« Conrad blickte zur oberen Kammer hinauf und sah mehrere Gestalten, die sich nach unten abseilten. Yeats hatte sie auch bemerkt und packte Conrad am Arm. »Zurück«, flüsterte er. »Das ist ein Befehl.« Sie knipsten ihre Stirnlampen aus und zogen sich in den neuen Tunnel zurück, wo sie zu beiden Seiten des Eingangs in Deckung gingen. Conrad presste sich mit dem Rücken fest an die Wand und blickte zu Yeats hinüber. Das matte Glühen unten aus dem Gang tauchte die Umrisse seines Vaters in den Schatten. »Team Phönix, melden!« Yeats sprach in sein Funkgerät, aber es kam immer noch keine Antwort. »Team Phönix, melden!« Wieder nichts. »Verdammter Mist.« Conrad nahm sein Nachtsichtglas heraus und lugte damit um die Ecke. Zwei Gestalten landeten gerade unten im Gang. Ihre durch die Nachtsichtbrillen grünen Augen bewegten sich im Dunkeln auf und ab. Conrad wich zurück und sah seinen Vater an. »Wer ist das?«, flüsterte er. »Weiß nicht. Gehören aber auf keinen Fall zu meinen Leuten. Los, weiter.« Sie machten sich durch den langen dunklen Verbindungstunnel auf den Weg. Der Korridor war zehn Meter hoch, wirkte aber nach den gewaltigen Ausmaßen des großen Gangs, in dem sie noch kurz zuvor gewesen waren, viel kleiner. Nach ungefähr 400 Metern in Richtung Süden bog der Gang scharf in einen größeren Tunnel mit einer doppelt so hohen Decke ein. »Hier entlang.« Yeats richtete die Lampe auf den Boden. Ungefähr 100 Meter vor ihnen musste sich entweder ein Durchgang oder das Ende des Tunnels befinden. Noch war das schwer zu sagen. Aber dann spürte Conrad einen Luftzug. Er sah nach oben und entdeckte einen Schacht in der Decke. Im Boden befand sich im selben Winkel noch ein weiterer solcher Schacht. »Das könnte einer der beiden zusätzlichen Sternschächte zur Geheimkammer sein«, sagte Conrad. »Ich glaube, er kreuzt diesen Korridor. Ich lasse am besten mal ein Seil runter, um ganz sicher zu sein.« »Ich gehe diesen Gang noch ein Stück weiter«, sagte Yeats. »Mal sehen, was ich da finde. Ich komme dann zurück. Vielleicht hast du bis dahin auch was rausgefunden.« Conrad beobachtete Yeats, wie dieser verschwand. Dann ließ er das Seil den Schacht hinunter. Er schielte gerade vorsichtig über den Rand, da hörte er auf einmal ein Stiefelscharren hinter sich. Blitzartig drehte er sich um und blickte in ein Paar grüne Augen, die im Durchgang leuchteten. »Wer zum Teufel sind Sie?« Die Gestalt mit der Nachtsichtbrille hob eine Kalaschnikow hoch. »Dein schlimmster Feind«, sagte sein Gegenüber mit starkem russischem Akzent und fingerte an seinem Funkgerät herum. »Hier spricht Leonid. Oberst Kowitsch, bitte melden. Ich habe einen Amerikaner gefangen genommen.« »Das könnte dir so passen.« Conrad schlug Leonid die Kalaschnikow mit dem Fuß aus der Hand und hob dann schnell das abgebrochene Laservisier auf. Leonid zückte eine Pistole, aber da richtete Conrad auch schon mit dem Laser einen roten Punkt auf die Stirn des Russen. Hoffentlich merkte dieser Leonid im Dunkeln nicht, dass das Gewehr nicht mehr dran war. »Runter damit, sofort.« Der Russe ließ die Pistole fallen, und Conrad atmete erleichtert auf. »Gut so.« Aus dem rechten Ärmel des Russen glitt ein Jagdmesser mit Horngriff. Es klickte, als er mit dem Daumen den Verschluss löste. Sein Arm schoss hoch, und die Klinge streifte Conrad an der Gurgel. Als Conrad das Klicken gehört hatte, war er auch schon auf den Angriff gefasst gewesen. Er blockte den Arm ab, griff mit beiden Händen nach dem Handgelenk des Russen und drehte es, bis dieser vor Schmerz aufschrie und das Messer fallen ließ. Conrad bog den Arm des Mannes auf dessen Rücken und hielt ihn fest. Es musste scheußlich wehtun. Der Russe schrie auf, weil bereits einige Muskelfasern rissen. Conrad stieß ihn mit dem Kopf voran gegen die Wand und warf ihn dann den Schacht hinunter. Conrad blickte ihm in der Dunkelheit hinterher, als er Schritte hörte. Er schnappte sich die Kalaschnikow, schaute hoch und sah Yeats auf sich zurennen. »Sackgasse«, sagte Yeats. »Aber was zum Teufel ist hier passiert?« Conrad wollte es gerade erzählen, da spürte er einen Ruck am Fußgelenk. Er sah nach unten und merkte – eine Sekunde zu spät –, dass sein Nylonseil fest um seinen Stiefel geschlungen war. Der Russe war dabei, Conrad mit in die Tiefe zu ziehen. »Halt das fest!« Conrad warf Yeats das andere Ende des Seils zu, bevor er in den Schacht abtauchte. »Bloß nicht loslassen!« Conrad stürzte durch die Dunkelheit und versuchte verzweifelt, das Seil an seinem Geschirr zu befestigen. Er fiel durch die verschiedenen Ebenen, ohne dass ein Ende abzusehen war. Er spannte die Muskeln an und versuchte, sich irgendwo festzuklammern. Das um sein Bein geschlungene Seil gab nach, während sich das Seil an seinem Geschirr spannte. Schließlich landete er in einem großen Raum. Das Seil zog sich fest, und er blieb in der Luft hängen, wo er hilflos hin und her baumelte. »Dad!«, brüllte er. »Hörst du mich?« Zuerst kam nichts, dann war eine schwache Antwort zu hören. Conrad fingerte eine Taschenlampe aus seiner Gürteltasche und machte sie an. Den Schock über das, was er sah, musste er erst einmal verarbeiten. Er schwang wie ein Pendel in einer prachtvollen Kammer, die die Form einer Kuppelhalle aufwies. Seine Finger kribbelten vom Adrenalin, als er die Decke mit dem Lichtstrahl abtastete. Das Gewölbe befand sich ungefähr 70 Meter über ihm. Auf den zusammenlaufenden Wänden waren zahlreiche Sternbilder zu sehen. Das Ganze wirkte wie eine Art kosmisches Observatorium. Er senkte den Lichtstrahl. Ein altarähnliches Gebilde mit einem etwa 60 Zentimeter großen Obelisken ragte aus der Mitte des Steinbodens. Darauf lag aufgespießt der Russe. »Dad!«, schrie Conrad. »Ich habe die Kammer gefunden!« 18 Abstieg, 8. Stunde Conrad löste sich vom Seil und fiel auf den Boden der Halle. Er sah zu dem in Stein gehauenen Sternenhimmel auf, der sich über die Kuppel erstreckte. Er konnte keinen anderen Eingang in die Kammer entdecken. Es gab nur den Schacht über ihm. Es war ein unberührter Fund, sein Fund. Er war der erste Mensch, der seit mehr als 12.000 Jahren einen Fuß in diese Kammer setzte. Wenn er sich nicht irrte, war er der erste Mensch überhaupt, der das tat. Außer natürlich dem Russen, der auf den Obelisken gespießt mitten im Raum lag. Conrad brauchte all seine Kraft, um die Leiche vom Obelisken zu hieven und aus dem Weg zu räumen. Conrad wischte sich das Blut von den Händen und ging langsam um den Altar mit dem Obelisken herum. Er wollte die Zeit nutzen, bis Yeats seinen Weg in die Kammer fand. In prickelnder Erwartung richtete er seine Taschenlampe auf die vier Ringe, die auf dem Altar leuchteten. Dann führte er den Strahl nach oben, bis der Obelisk in Licht getaucht war. Er sah wie ein klassischer Obelisk aus. Zehn Mal so hoch wie breit. Bis auf den runden Sockel hätte es sich um ein Modell im Maßstab eins zu sechzig des Obelisken in Washington handeln können. Auf allen Seiten befanden sich spezielle Inschriften, bisher die einzigen in der ganzen Pyramide. Um sie zu entziffern, würde er schließlich doch Serenas Hilfe in Anspruch nehmen müssen, stellte er fest. Er zog seine Digitalkamera heraus und machte Bilder. Inzwischen hatte er nämlich auf einer der vier Seiten des Obelisken eine Reihe von sechs Ringen bemerkt. Auf einer anderen eine Abfolge von vier Sternbildern: Skorpion, Schütze, Steinbock und Wassermann. Am wichtigsten erschien es ihm, dass der Obelisk genauso aussah wie das Zepter des Osiris im königlichen Siegel, das er im Boden der geothermischen Kammer entdeckt hatte. Historisch gesehen, bedeutete das Königszepter Ehrfurcht gebietende Macht, genau die Macht, die sein Vater, der General, suchte und von der dieser befürchtete, dass jemand sie ihm nehmen könnte. Das ist das Zepter des Osiris. Das ist der Schlüssel zur P4, ging es Conrad durch den Kopf, zum geothermischen Spalt und zu allem anderen. Er beugte sich gerade vor, um den Obelisken zu berühren, da öffnete sich auf einmal mit einem Krachen eine verborgene Tür – genau genommen handelte es sich um mehrere Türen. Im Boden taten sich vier große Granitplatten auf. Conrad trat zurück, als sich die letzte Tür aufschob. In dem Korridor, der zum großen Gang zu führen schien, sah er eine einzelne Gestalt stehen. »Conrad.« Noch bevor Serena die Kammer betrat, wusste er, dass sie es war. Hinter ihr tauchte ein kräftiger Russe auf, der eine Kalaschnikow mit leuchtendem Laservisier im Anschlag hielt. »Sie sind vermutlich Doktor Yeats«, sagte der Mann mit starkem russischem Akzent. »Ich bin Oberst Kowitsch. Wo ist Leonid?« Kowitsch stieß Serena zu ihm hin, und Conrad fing sie in den Armen auf. »Gott sei Dank ist dir nichts passiert«, flüsterte er und zog sie näher an sich heran. Ihr geschäftsmäßiger Gesichtsausdruck ließ ihn jedoch erstarren. Nun erst erblickte sie den Obelisken. Sie sah auch den Toten auf dem Boden liegen und erkannte – zu Conrads Schrecken – sogleich den Zusammenhang mit dem Blut, das er an den Händen hatte. »Heureka! Du hast es also gefunden«, sagte sie. »Hoffentlich war es den Preis wert.« »Ich kann dir alles erklären.« »Sie haben Leonid umgebracht«, sagte Kowitsch. »Er hat versucht, mich umzubringen«, sagte Conrad. »Kurz bevor er unangeseilt den Schacht hinunterfiel. In Sachen Ausrüstung scheinen Ihre Soldaten ja nicht gerade Weltspitze zu sein, falls Ihnen das selbst noch nicht aufgefallen sein sollte.« In diesem Augenblick war hinter dem Russen eine barsche Stimme zu vernehmen: »Sag das ruhig noch mal.« Conrad sah Yeats, der eine Kalaschnikow auf Kowitsch gerichtet hielt, in den Raum marschieren. »Dieser Scheißkerl hat schon zweimal Probleme gemacht. Jetzt lass deine Knarre fallen, Kowitsch.« Kowitsch runzelte die Stirn und legte seine Kalaschnikow neben den toten Leonid auf den Boden. »Ich bitte Sie, General Yeats«, sagte Kowitsch ruhig. »Wir sind schließlich Soldaten.« Yeats ging zu ihm hin und rammte ihm blitzschnell das Knie in den Unterleib. Der Russe wand sich vor Schmerzen. »Setz dich auf den Boden«, befahl Yeats. »Im Schneidersitz! Und mach keinen Scheiß, sonst geht's dir wie deinem Genossen hier.« Kowitsch starrte das riesige Loch in Leonids Brust an und ließ sich dann mit dem Rücken an der Wand zu Boden gleiten. Yeats schlug dem Russen mit dem Gewehrkolben auf den Schädel. Conrad hörte es krachen: Kowitsch stöhnte vor Schmerz auf und brach auf dem Boden zusammen. »Der wird schon nicht krepieren«, sagte Yeats. »Aber da kriechen noch Dutzende bewaffneter Iwans rum. Wir haben also keine Zeit zu verlieren. Was hast du rausgekriegt?« »Der Obelisk ist der Schlüssel zur Pyramide«, sagte Conrad. Yeats besah sich die Inschriften an den Seiten. »Wissen Sie, was die zu bedeuten haben, Doktor Serghetti?« »Da steht, dass Osiris die Pyramide gebaut hat«, sagte Serena. Conrad war überrascht, wie mühelos sie die Inschrift übersetzen konnte. »Der Obelisk ist sein Zepter. Es gehört zum Heiligtum der Ursonne.« »Und was ist das?«, wollte Yeats wissen. »Das ist der Ort der Urzeit, von dem ich in der Eisstation schon erzählt habe«, sagte Conrad aufgeregt. Er erkannte jetzt die Zusammenhänge, weil die Osiris-Figur, die er in der geothermischen Kammer gesehen hatte, auf einer Art Sitz oder Thron gesessen hatte. Der Thron des Osiris befand sich offensichtlich in diesem Heiligtum der Ursonne – zusammen mit dem Geheimnis der Urzeit selbst. »Dann nehmen wir also das Zepter des Osiris und stellen es wieder da hin, wo es hingehört, also in das so genannte Heiligtum der Ursonne«, sagte Yeats. »Das halte ich für keine gute Idee, General.« Serena deutete auf die Zeichnungen auf der Südseite des Obelisken, die eine Reihe von sechs Ringen enthielten. »Die Inschriften unter den sechs Ringen besagen, dass die Maschine, die von der Pyramide gesteuert wird, von Osiris in Bewegung gesetzt wurde, um die Menschheit unter Kontrolle zu halten – eine Art kosmischer Reset-Mechanismus, mit dem man noch vor dem Ende unserer Zeit sechs Mal reinen Tisch machen kann.« »Kontrolle über die Menschheit?«, sagte Yeats. »Was soll das heißen?« »Das heißt, dass die Bewohner von Atlantis die Pyramide bauten, um uns an einem zu großen Fortschritt zu hindern«, sagte Serena. »Das ist so ähnlich wie mit dem Turm zu Babel in der Schöpfungsgeschichte. Dahinter steckt die Vorstellung, dass technischer Fortschritt ohne moralisches Fortschreiten bedeutungslos ist. Die Menschheit wird also ständig auf ihren Wert und ihre Gesinnung geprüft.« »Sechs Mal? Du hast gesagt, dass die Menschheit sechs Mal die Chance kriegt, von vorn anzufangen, bevor sie zu Grunde geht? Woher willst du das wissen?« »Die sechs Sonnen, Conrad.« Sie las die Inschriften in den Ringen. »Die Ursonne, die Erste Sonne, wurde durch Wasser zerstört. Die Zweite Sonne endete, als die Erdkugel aus der Achse geriet und alles mit Eis bedeckt wurde. Die Dritte Sonne wurde als Strafe für menschliches Fehlverhalten zerstört, und zwar mit einem alles verzehrenden Feuer. Diese Pyramide wurde am Anfang der Vierten Sonne erbaut, die in einer weltweiten Sintflut endete.« »Dann sind wir die Kinder der Fünften Sonne, genau wie es die Mythen der Mayas und Azteken besagen?«, fragte Conrad. »Soll das also heißen, dass wir dazu verdammt sind, die Sünden unserer Vorväter zu wiederholen?« »Nicht ich, dein wertvoller Obelisk sagt das. Und was die Sünden unserer Vorväter angeht: Orientiert man sich am letzten Jahrhundert der Menschheitsgeschichte, dann haben wir sie schon massenweise wiederholt.« Conrad dachte nach. Sie hatte nicht Unrecht. Schließlich fragte er: »Und wann genau endet die Fünfte Sonne? Wann beginnt die Sechste Sonne?« »In dem Augenblick, in dem du das Zepter des Osiris aus dem Sockel nimmst.« »Im Ernst?« »Im Ernst.« »Sie lügt«, sagte Yeats. »Nein, das tue ich nicht.« Serena blickte Yeats ernst an. »Hier steht: ›Nur derjenige, der sich würdig erweist, zur rechten Zeit und am rechten Ort vor den Leuchtenden zu stehen, kann das Zepter des Osiris entfernen, ohne Himmel und Erde auseinander zu reißen.‹ Jeder andere also, der dem nicht würdig ist, wird unvorstellbare Konsequenzen auslösen.« »Vor den Leuchtenden? Wer soll das denn sein?«, sagte Yeats. »Sterne«, sagte Conrad. »Die Leuchtenden sind die Sterne. Die Erbauer konnten die Sterne deuten, die einen bestimmten Augenblick im Raum-Zeit-Kontinuum vorhersagen – einen ›ehrwürdigen‹ Augenblick, wie es heißt. Nennen wir ihn mal die ›Befreiungsklausel‹ der Menschheit, das Geheimnis, das den Fluch der Vorväter ein für alle Mal bricht.« »Das würde dir so passen, Conrad«, sagte Serena. »Die Antwort steht in den Sternen, und du deutest sie so, wie du willst.« »Wie die drei Weisen aus dem Morgenland bei Christi Geburt?« Serena biss nicht an. »Das ist was völlig anderes.« Conrad setzte ihr weiter zu. »Oder wie das Fischsymbol der frühen Christen, das zufällig mit dem Zeitalter der Fische zusammenfiel und das, wieder reiner Zufall, gerade aufhört, um vom neuen Zeitalter des Wassermanns abgelöst zu werden.« »Was willst du damit sagen, Conrad?« »Ich will damit sagen, dass das Glaubenszeitalter vorbei ist und dass diese Tatsache dich und deine Freunde im Vatikan höchst beunruhigt.« »Du irrst dich, Conrad.« »Die Sterne geben mir Recht.« Yeats deutete auf eine Seite des Obelisken. »Meinst du Sterne wie diese vier Konstellationen auf dem Zepter?« »Nein, wie die da oben.« Conrad zeigte auf die Gravierungen in der Kuppel. »Die Kammer hier ist eine Art Himmelsuhr. Seht her.« Er berührte den Obelisken und hörte, wie Serena nach Luft schnappte, während er ihn wie einen Joystick hin und her schob. Ein dumpfes Rumpeln war zu vernehmen, und gleichzeitig fing das Gewölbe an, sich zu bewegen. »Wenn wir den Sternenhimmel auf eine bestimmte Zeit einstellen wollen, fangen wir mit dem kosmischen ›großen Zeiger‹ beziehungsweise dem entsprechenden Zeichen des Tierkreises an«, erklärte er. »Wir sind am Anfang des Wassermannzeitalters, deshalb steht dieses Sternbild im Osten.« Während er sprach, drehte sich die Kuppel wieder in die Ausgangsstellung. »Der ›kleine Zeiger‹ der Uhr bezeichnet die Position, also südliche oder nördliche Hemisphäre.« Conrad bewegte den Obelisken, und eine völlig neue Sternenkonstellation erschien. Er drehte die Kuppel jedoch weiter, bis oben wieder hörbar das ursprüngliche Schema einrastete. »Zu einer dritten, genaueren Einstellung werden die verschiedenen Tagundnachtgleichen des Jahres herangezogen.« Conrad nahm die letzte Einstellung vor und beendete seine Vorführung dann damit, dass er alles wieder auf den Ausgangspunkt zurückbrachte. Das Rumpeln verebbte. »Der Obelisk und der Altar, um den herum wir jetzt stehen, stellen also die Erde in einer festen Position dar. Die Konstellationen in der Kuppel sind der Himmel. Beide sind auf einen zeitlichen Fixpunkt eingestellt.« Serena, die von dem, was sie offensichtlich als seinen ›rücksichtsloser‹ Umgang mit einem Kunstwerk bewertete, anscheinend noch ganz durcheinander war, fragte: »Und wie sind die Sterne in dieser Kammer momentan ausgerichtet?« »Sie stehen zum Obelisken genau so wie der Himmel über der Antarktis zum gegenwärtigen Zeitpunkt«, sagte er so überzeugt, als ob keinerlei Zweifel darüber bestünde. »Das ist vermutlich der bedeutendste Moment in der Menschheitsgeschichte: der große Entdecker Conrad Yeats.« Conrad lächelte. »Endlich sind wir uns mal einig.« Serena blickte ihn verächtlich an. »Ist dir noch nicht der Gedanke gekommen, dass du vielleicht der größte Dummkopf aller Zeiten bist und dass wir uns im unwürdigsten Augenblick seit Menschheitsgedenken befinden, wenn du den Obelisken jetzt entfernst?« Natürlich hatte er selbst auch schon darüber nachgedacht. Serena ging ihm allmählich auf die Nerven. »Denk doch mal nach, Serena«, sagte er. »Wenn das, was du sagst, stimmt, dann waren sich die Erbauer der P4 darüber im Klaren, dass nur eine fortgeschrittene Kultur mit technischem Wissen die Pyramide überhaupt finden könnte, ganz zu schweigen vom Eindringen. Unser Fortschritt macht uns dessen würdig. Deshalb muss der jetzige Augenblick einfach der bedeutendste Zeitpunkt sein. Und dieser Obelisk ist der Schlüssel zu den Ursprüngen der menschlichen Zivilisation.« »Vielleicht ist er auch nur ein Trojanisches Pferd. Vielleicht ist der Obelisk wie der große Zeiger einer Uhr, der Sicherungsstift in einer Handgranate. Entfernt man das eine oder das andere, so sind die Tage gezählt, Conrad.« »Du hast ja nur Angst, dass die Kirche ihren Platz als Gebieterin über die Schöpfung verliert«, sagte er. Es reichte ihm jetzt mit ihrer Hysterie. »Aber vielleicht sollten wir die Unwissenheit und die Angst jetzt aufgeben, um den Weg für ein neues Zeitalter der Erleuchtung zu ebnen.« Conrad sah Yeats an, der auf den Obelisken deutete. »Nimm das verfluchte Zepter, mein Sohn. Wenn nicht, tun es die bewaffneten Russen, die vor der Tür stehen. Und Gott allein weiß, wer von der UNACOM noch alles oben auf dem Eis ist.« Conrad blickte Serena an und ging dann auf das Zepter des Osiris zu. Er konnte Serenas Angst geradezu spüren, als er die Hand auf den Obelisken legte. Er fühlte sich glatt an, so als ob die Inschriften unter der Oberfläche versiegelt wären. »Du träumst, wenn du dir einbildest, dass dein Vater dich mit dem Zepter einfach so aus der P4 marschieren lässt«, sagte Serena. Conrad zögerte. Er spürte etwas Unheimliches in sich hochsteigen, etwas, für das er keine Erklärung hatte. Er griff nach dem Obelisken und fühlte, wie feine Schwingungen von diesem ausgingen. Er zog die Hand wieder zurück. »In Gottes Namen, worauf wartest du noch?«, sagte Yeats. Conrad war verunsichert. Es war die Gelegenheit, eine, die es nur einmal in einem Jahrtausend gab. Mit dieser aufsehenerregenden Entdeckung würde er seine Spuren in den Sand der Zeit schreiben und die Geschichtsschreibung auf den Kopf stellen. Er hatte die einzigartige Möglichkeit, unsterblich zu werden. »Hör auf mich, Conrad. Übereile nichts«, drängte ihn Serena. »Du löst damit womöglich etwas aus, das du nicht mehr rückgängig machen kannst.« »Sie wissen ja nicht, wovon Sie reden, Schwester«, mischte sich Yeats ein. »Irgendjemand wird den Obelisken auf jeden Fall entfernen, und da ist es besser, wenn Conrad derjenige ist. Er ist der Einzige, der das kann. Wenn jemand dessen würdig ist, so ist es Conrad.« »Da liegen Sie meiner Meinung nach völlig falsch«, sagte Serena. »Nur weil er Ihr Sohn ist, heißt das noch lange nicht …« »Conrad ist nicht mein Sohn.« Conrad zuckte zusammen. Serena auch. Selbst der Russe hielt die Luft an. Ein drückendes Schweigen breitete sich im Raum aus. »Mag sein, aber Sie sind sein Ziehvater«, sagte Serena ruhig. Ihr war bewusst, dass Conrad sehr empfindlich auf dieses Thema reagierte. »Nicht mal das.« Yeats nahm seinen Rucksack ab und kramte darin herum. Conrad starrte seinen Vater an und fragte sich, welche Enthüllung dieser jetzt wohl vorbringen würde. Warum ausgerechnet jetzt?, dachte Conrad. Warum um alles in der Welt gerade hier? »Das ist dein Vater.« Yeats hob die Digitalkamera hoch. »Du hast ein Bild von ihm?« Conrad sah auf das Display. Es war das Foto des Osiris-Siegels, das er in der geothermischen Kammer aufgenommen hatte. »Das ist dein Vater«, wiederholte Yeats. Conrad starrte auf die Gestalt des bärtigen Mannes auf dem Thron. In seinem Innersten spürte er ein Kribbeln, das ihn von einer ihm bislang unbekannten Stelle aus durchströmte. »Was hast du gesagt?« »Ich habe dich vor mehr als fünfunddreißig Jahren in einer Kapsel im Eis gefunden«, sagte Yeats in einem bitteren Ton, der Conrad durch Mark und Bein ging. »Damals bist du höchstens vier Jahre alt gewesen.« Conrad schwieg. Dann hörte er Serena kichern. »Du meine Güte, General Yeats«, sagte sie. »Für wie blöd halten Sie uns eigentlich?« Aber Yeats verzog keine Miene. Conrad hatte diesen Blick in den Augen seines Vaters noch nie gesehen. »Mein Sohn, dir braucht niemand zu erzählen, was die Wahrheit ist. Du weißt es selbst.« In Conrads Kopf raste alles durcheinander. Yeats musste einfach lügen. Schließlich hatte Conrad einen DNS-Test machen lassen, um die Vaterschaft zu bestimmen. Nichts hatte darauf hingewiesen, dass er kein rotblütiger Amerikaner war. Andererseits – mal abgesehen von der absoluten Unwahrscheinlichkeit dieser Behauptung, – brachte das endlich Klarheit über seine ersten Lebensjahre. »Wenn das eine Lüge ist, bist du ein widerlicher Scheißkerl«, sagte Conrad zu Yeats. »Aber wenn es wahr ist, war mein ganzes Leben eine Lüge, und ich habe dir nur als Wissenschaftsobjekt was bedeutet. So oder so bin ich verflucht.« »Dann rette dich jetzt, Conrad«, sagte Yeats. »Als Vater Staat die Mars-Mission strich und mir alle meine Träume nahm, war ich so alt wie du jetzt. Ich hatte damals keine Wahl. Du aber hast sie. Mach es anders als ich, sonst bereust du dein ganzes Leben lang, dass du die Chance nicht ergriffen hast.« Der üble Trick funktionierte. Als Conrad nun Yeats anstarrte, sah er in diesem seine Zukunft vor sich, eine aufgrund der nicht genutzten Gelegenheit verpatzte Zukunft. Der Anblick ließ ihn schaudern. Serena spürte, dass sie die Schlacht verloren hatte. »Bitte, Conrad«, sagte sie leise. »Es tut mir Leid, Serena«, sagte Conrad, während er den Obelisken bewegte. Das Gewölbe der Halle drehte sich, und die Sternbilder änderten sich. Mit einem dumpfen Rumpeln rotierte auch der Boden. »Wir brauchen mehr Zeit, um alles richtig zu begreifen«, schrie Serena nun und machte einen Satz auf ihn zu. »Du kannst nicht einfach für die ganze Welt entscheiden. Warte doch.« Yeats hielt ihr abrupt den Lauf seiner Glock ins Gesicht. »So wie Eisenhower 1945 an der Elbe Halt machte, statt die Russen aus Berlin zurückzudrängen?«, fragte er. »Oder wie Nixon, der die Mars-Mission 1969 den Bach runtergehen ließ? Da bin ich anderer Meinung. Damals hätte man Entscheidungskraft gebraucht, genau wie jetzt. Ich bleibe nicht auf halbem Weg stehen.« Conrad blickte zu Serena, die sich aus Yeats' Griff zu befreien versuchte. »Tu's nicht, Conrad. Ich schwöre …« »Schwör lieber nicht, Serena«, sagte er. »Sonst brichst du noch dein Gelübde.« Er griff mit beiden Händen nach dem Obelisken, überzeugt, dass er eine so einmalige Chance einfach wahrnehmen musste. Wenn er diesen Augenblick nicht nutzte, würde sein Leben fortan nichts mehr wert sein. »Bitte, Conrad.« Der Obelisk ließ sich ganz einfach aus dem Altar lösen. Conrad hob ihn hoch und lächelte Serena triumphierend zu. »Siehst du«, sagte er erleichtert. »Das war doch alles gar nicht so …« Das Ende des Satzes wurde durch einen ohrenbetäubenden Lärm abgeschnitten. »O mein Gott«, hauchte Serena, während das Donnern über ihr immer stärker wurde. Die gewölbten Wände der Halle drehten sich in atemberaubender Geschwindigkeit wie eine kosmische Spirale kurz vor dem Zerbrechen. Dann hörte das Kreisen plötzlich auf. Die Sternbilder kamen zum Stillstand, und eine explosionsartige Druckwelle erschütterte die Pyramide. Abstieg, 9. Stunde 19 Eisstation Orion Oben in der Eisstation Orion spielte O'Dell mit Wladimir Lenin und zwei anderen Russen gerade Poker, da fing der Wodka in ihren Plastiktassen zu zittern an. Die Sirenen heulten auf. O'Dell sah den verblüfften Wladimir an. Diesmal konnten es nicht die Russen sein. Er raste aus dem Bereitschaftsraum hinaus. Wladimir folgte ihm. Als O'Dell in die Kommandozentrale gerannt kam, stand bereits eine Gruppe Amerikaner und Russen dicht gedrängt um den Hauptmonitor herum. Auf dem Display blinkte das Wort sonnenereignis. »Da kann was nicht stimmen«, sagte O'Dell, als er zu den Leuten trat, die mit betroffener Miene dastanden. Einer der Lieutenants holte das Kontrollsystem CELSS, das Controlled Environmental Life Support System, auf den Bildschirm, das im Weltraum wie in der Antarktis lebensnotwendig war. Der Lieutenant lokalisierte den Sensor, der diese anormale Anzeige ausgelöst hatte. »Die Messungen kommen von unten, Sir«, sagte er. Weil die Erschütterungen stärker wurden, musste er sich am Kontrollpult festhalten. »Die einzig mögliche Erklärung, die mir einfällt, ist das SP-100.« Unwillkürlich warf O'Dell seinem russischen Kollegen einen nervösen Blick zu. Gott sei Dank verstand dieser nicht, was der Lieutenant gesagt hatte, handelte es sich bei dem SP-100 doch um das kompakte Atomkraftwerk der Eisstation Orion, ein 100-Kilowatt-System, das ein paar hundert Meter entfernt unter einer Schneedüne verborgen war. »Mein Gott.« O'Dell holte tief Luft. »Was sagen die Messdaten?« »In die äußeren Offiziersgebäude ist eine Strahlung von 270 rem eingedrungen, Sir. Hier in der Kommandozentrale sind es 65 rem, wobei unsere Leute 15 rem aufnehmen. Wir sind immer noch unter dem Grenzwert.« Es war eher das Beben, das O'Dell und die Russen beunruhigte. »Und jetzt?« »Wir haben keine andere Wahl mehr, Sir«, sagte der Lieutenant. »Wir müssen uns in die Hundehütte zurückziehen.« Die ›Hundehütte‹ war ein mobiles Schutzmodul unter der Kommandozentrale und den Versorgungsspeichern, das durch die Lufthülle der Kommandozentrale vor den SP-100-Protonen geschützt war. »Sorgen Sie dafür, dass möglichst die ganze Mannschaft hineinkommt«, befahl O'Dell. Die amerikanischen Soldaten führten den Befehl sofort aus und verließen die Kommandozentrale in Reih und Glied. Die Russen hingegen rasten angesichts der nun leeren Zentrale in entgegengesetzter Richtung zu den äußeren Luftschleusen, um zu ihren Charkowtschankas zu gelangen. »Warten!«, rief O'Dell und rannte hinterher. Aber sie hatten schon die Türen des inneren und äußeren Bereichs aufgebrochen, und als er die Luftschleuse erreichte, waren sie weg. Eisiger Wind schlug ihm ins Gesicht. Er schnappte sich einen Polaranzug, Schutzbrille und Handschuhe aus dem nächsten Lagerraum und rannte raus. Die Russen starteten gerade ihre Charkowtschankas. O'Dell lief auf die bereitstehenden Hägglunds-Transporter zu und griff nach der erstbesten Kabinentür. Glauben die vielleicht, sie könnten einfach so abhauen?, dachte er. Er wollte mit einem der Hägglunds hinterher, um sie zurückzuhalten. Es würde ihm jetzt gerade noch fehlen, dass Yeats oder Kowitsch oder die Vereinten Nationen ihn für den Tod weiterer Russen verantwortlich machten. Er wollte gerade in den Hägglunds klettern, da verspürte er einen Ruck. Er sah auf den Boden. Im Eis schoss ein Riss an seinen Füßen vorbei. Etwas Spitzes klammerte sich an seinen Handschuh, und er erstarrte vor Entsetzen. Es war Nimrod, Yeats' Hund, der ihn wie wild geworden wegzuzerren versuchte. »Verschwinde!«, brüllte er und öffnete die Tür, aber Nimrod sprang vor ihm in die Kabine. O'Dell hörte noch weitere donnernde Explosionen, dann sah er die Basis wie einen Eisberg abbrechen. Es krachte, und zu seinem Schrecken riss das Eis unter ihm wie ein Spinnennetz auf. Das Eis schmolz! Er sprang ins Führerhaus. Kaum hatte er die Tür geschlossen, machte der Hägglunds einen Ruck vor und zurück. Überall waren jetzt Risse im Eis zu sehen. Das ist jetzt das Ende, dachte er, als die Fiberglas-Kabine in das strudelnde Eiswasser fiel und weggespült wurde. Er merkte, wie der Transporter sich auf und ab bewegte. Ihm blieb vor Freude fast die Luft weg. »Das verdammte Ding schwimmt!«, rief er Nimrod zu, der wie verrückt über die Sitze sprang. Die russischen Charkowtschankas jedoch verschwanden wie Steine in den sprudelnden Wassermassen. Verzweifelt machte O'Dell die Scheibenwischer an. Als die Wasserfluten kurz weggewischt wurden, erblickte er eine aufgewühlte Landschaft. Die Eisstation Orion war verschwunden. Im Himmel hatte sich eine pilzförmige Wolke gebildet. In Panik dachte er erst, der Reaktor wäre in die Luft gegangen, aber der SP-100 hatte nicht die Kapazität, eine derartige Zerstörung auszulösen. Eine Druckwelle warf ihn mit dem Kopf auf den Boden, direkt unter das Armaturenbrett. Er hörte, wie sein Schädel auf etwas Spitzes krachte, als die Kabine wild herumwirbelte. Nimrod bellte unaufhörlich. 20 Abstieg, 9. Stunde Das Donnern in der Kammer mit dem Obelisken wurde so laut, dass Serena das eigene Wort kaum verstand. Sie brüllte Conrad an, der wie angewurzelt mit dem Zepter des Osiris in der Hand dastand. »Stell es zurück!«, rief sie. Conrad ging gerade auf den Altar zu, da öffnete sich der Boden unter ihm plötzlich, und eine lodernde Feuersäule schoss hoch, die Oberst Kowitsch sofort in einen glühenden Klumpen verwandelte. Conrad sprang von dem klaffenden Loch zurück. Der Altar verschwand in einem rot glühenden Schacht. Ganze Fetzen des Russen flogen als Staubwolke durch die Luft. Der Obelisk fiel auf den Boden. Serena beugte sich, um ihn aufzuheben, griff aber zu weit nach vorn und hing plötzlich gefährlich über der Kante. Furchtbare Sekunden lang schwebte sie über dem Höllengrund und spürte, wie die sengende Hitze auf ihren Wangen brannte. Schließlich zog Conrad sie mit einem Ruck vom Rand zurück. Für einen kurzen Augenblick lag sie geborgen in seinen Armen und blickte dankbar in seine besorgten Augen. Noch bevor sie richtig Luft holen konnte, erschütterte jedoch ein Beben die Kammer und riss ihnen den Boden unter den Füßen weg. Der Obelisk glitt über den Boden. »Das Zepter!«, rief sie. Yeats stürzte los, um es zu retten. Weil die Erschütterungen stärker wurden, knickte ihm aber das rechte Bein ein, und er stürzte rückwärts in den Schacht, der sich im Boden aufgetan hatte. In letzter Sekunde gelang es ihm, sich an der Kante festzuhalten. Serena sah die Finger über den Rand ragen. Er klammerte sich mit aller Kraft am Steinboden fest. Conrad hob den Obelisken auf und ergriff Serenas Hand. »Versuch ihn zu halten!« Fest an Conrad gekettet, lugte sie über den Rand und sah, wie Yeats über dem Höllengrund schwebte. Ihr war klar, dass sie nicht die Kraft hatte, ihn hochzuziehen, aber sie rief Conrad zu: »Vielleicht kann ich ihn mit einem Ruck etwas hochziehen, damit er es dann alleine schafft herauszuklettern.« Sie streckte die Hand aus, da bebte es erneut. Leonids Leiche glitt in den Schacht und schlug gegen Yeats. Seine Finger verschwanden vom Schachtrand, und Conrad stieß einen Schrei aus. »Dad!«, brüllte er. Conrad schob Serena zur Seite und sah nun selbst in den Schacht. Wie gelähmt stand er da und versuchte zu begreifen, dass sein Vater nun wirklich weg war. Serenas Blick streifte durch die Kammer. Alles um sie herum bebte. Irgendwie wollte sie hier nicht raus. Aber sie wollte auch nicht bleiben, um dann jämmerlich zu verglühen. Sie legte Conrad eine Hand auf die Schulter und sagte: »Wir sollten jetzt nicht zu lange um die trauern, denen wir in Kürze folgen werden.« Das reichte, um Conrad aus seinen Gedanken zu reißen. »Die Kammer wird sich in ein paar Minuten in einen Schmelzofen verwandeln«, sagte er, hob Yeats' Rucksack auf und warf ihn sich über die Schulter. »Zurück zum großen Gang!« Sie rannten zum Außengang. Das Rumpeln war da weniger laut, wie Serena bemerkte, als sie den langen Tunnel hinter Conrad herlief. Als sie im großen Gang ankamen, blieb Conrad stehen und sah nach oben. »Jetzt wäre es an der Zeit für ein kleines Stoßgebet«, sagte er. »Wieso?« »Ich glaube, die P4 lässt heiße Dämpfe durch die Schächte ab. Das Eis draußen müsste daraufhin schmelzen. Und das Wasser wird dann durch das Gangsystem hier geschleust.« Jetzt blickte auch sie blinzelnd den Gang hoch. In einiger Entfernung wirbelte oben ein Schatten. Sie spürte die ersten Wasserspritzer auf der Wange. Sie wusste, was jetzt kommen würde. »O mein Gott!«, schrie sie, als das Wasser auf einmal in riesigen Kaskaden den Gang herabstürzte. »Wir müssen irgendwo Deckung finden!« Sie zerrte ihn zur Kammer zurück. »Warte noch«, sagte er. »Jetzt würden wir darin verschmoren.« Das Wasser im Tunnel stand schon kniehoch. Auf halbem Weg zurück in die Kammer reichte es ihnen bereits bis zur Hüfte. Sekundenschnell schwoll das Wasser zu einem reißenden Sturzbach an und spülte sie mit. Serena wollte sich an Conrad festhalten, bekam ihn aber nicht mehr zu fassen. Sie geriet in Panik und schlug verzweifelt um sich, schluckte Wasser und rang nach Luft. Sie würden ertrinken. Sie würden weggespült werden und ertrinken. Gott hatte ihr bestimmt einen anderen Tod zugedacht, ging es ihr durch den Kopf. Aber dann erinnerte sie sich an das Mädchen im Eis und wurde sich bewusst, dass sie auf der Welt schon zu viele Schreckensmienen gesehen hatte, um sich noch sicher zu sein, was Gott wirklich mit ihr vorhatte. Sie wusste nur, dass sie leben wollte und auch wollte, dass Conrad am Leben blieb. »Gott steh uns bei«, betete sie. Ein Schatten legte sich über sie, und als sie aufblickte, sah sie Conrad im Tunnel am Eingang zur Sternenkammer stehen, wo ihm das strudelnde Wasser bis zu den Knien ging. In einer Hand hielt er den Obelisken. »Halt dich daran fest«, brüllte er gegen das rauschende Wasser an. Sie griff hoch, umklammerte den Obelisken und ließ sich von Conrad hochziehen. Sie spürte ein Ziehen am Fußgelenk und sah ein blutverschmiertes Gesicht aus dem Wasser auftauchen. Es schrie ihr etwas Unverständliches zu, und sie versuchte, das Zerren abzuschütteln. Aber es zog fester an ihrem Bein. Plötzlich erkannte sie das entstellte Gesicht von einem von Kowitschs Leuten aus der oberen Kammer. »Zieh fester!«, schrie sie Conrad zu. Als sie über den Rand war, drehte sie sich um und wollte dem Russen helfen. Kaum hatten die verbrannten Beine des Soldaten die Kante erreicht, hörte sie Conrad rufen. »Beeil dich!« Sie sah noch, wie sich ein Teil des Zugangs zur Sternenkammer hinter Conrad schloss. Eine gewaltige Granitplatte hatte sich von der Decke gelöst. Conrad duckte sich mit dem Obelisken in der Hand in die Kammer hinein, die sich in der Zwischenzeit offensichtlich abgekühlt hatte, und winkte sie zu sich. Serena schleppte den Russen gerade durch den Eingang, da erschütterte ein gewaltiges Krachen den Tunnel. Sie blickte zurück und sah, wie sich die Fallsteintür hinter ihnen schloss und das Wasser abschnitt. Sie blieb stehen, schnappte nach Luft und hörte Conrad ihren Namen rufen. Er deutete zur Decke. Drei weitere Türplatten, größer als die zuvor, lösten sich. Die zweite direkt über ihr. Sie taumelte vorwärts. Ihr voll gesogener Parka zog sie wie Beton nach unten. Sie schleppte den Russen, der sich jetzt nicht mehr bewegte, mühsam weiter. »Serena!«, rief Conrad. Die dritte Tür fiel herunter. Auf allen vieren zerrte sie den Russen über den Boden. Conrad umklammerte ihre Füße wie Eisenfesseln und zog. Die Knie rutschten ihr weg, und sie landete flach auf dem Bauch. »Lass ihn los«, rief Conrad. »Nein!« Serena umklammerte die kalten Hände des Russen, während Conrad sie hereinzog. Der Russe war schon halb durch, da schnitt ihn die steinerne Falltür in zwei Teile. Plötzlich merkte Serena, dass sie nur noch die Hälfte des Russen festhielt. Dennoch fiel es ihr schwer loszulassen, zu akzeptieren, dass sie ihn nicht mehr retten konnte. Mit einem knirschenden Geräusch fiel die vierte und letzte Tür. Sie versuchte angestrengt, sich aus dem kalten Griff des nun beinlosen Körpers zu lösen. Schließlich öffnete sich die Hand, und in letzter Sekunde zog sie jemand hinein, kurz bevor die Granittür mit einem dumpfen Knall niederging. Serena drehte sich zu Conrad um, um ihm zu danken. Er lag der Länge nach auf dem Boden. Seine Haare waren voller Blut. Beim Ziehen musste er wohl mit dem Hinterkopf gegen die Falltür geschlagen sein. »Conrad!«, rief sie. »Conrad!« Sie kroch zu seinem bewegungslosen Körper. Er lag ganz ruhig da. Die Kammer bebte nun so stark, dass sie seinen Puls nicht fühlen konnte. Der Obelisk lag neben seinem Rucksack – vielmehr neben Yeats' Rucksack –, und sie hob ihn auf. Wieder ein Beben. Sie suchte an der wackelnden Wand Halt, bis diese glühend heiß wurde. Sie löste sich von der Wand, stolperte zitternd weiter und gab sich alle Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Sie war jetzt auf sich allein gestellt. Sie fiel mit dem Obelisken im Arm auf die Knie und betete zu Gott, dass das Beben aufhören möge. Sie versuchte krampfhaft, nicht an das Mädchen im Eis zu denken. Ein Krachen erfüllte den Raum, und als sie aufsah, schien sich die Kammer um 180 Grad zu drehen. Abstieg, 9. Stunde 21 U.S.S. Constellation Als der gewaltige Gletscher ins Wasser stürzte, dröhnte es wie bei einer Bombenexplosion. Admiral Warren wurde umgeworfen, und das Glas des Ruderhauses der U.S.S. Constellation zersprang. Sekunden später donnerte es erneut, und Warren hörte, wie die riesigen Wellen über den Bug krachten. Glasstücke lagen überall auf dem Flugzeugdeck verstreut, wo 76 Kampfjets an ihren Ketten zerrten. »Admiral?« Warren drehte sich um. Es war der Funker. »Eine Blitzmeldung.« Der untergeordnete Offizier reichte ihm das Klemmbrett und hielt eine rote Taschenlampe über die Meldung, sodass Warren sie lesen konnte. »Du meine Güte«, sagte Warren. »Die geologischen Überwachungssensoren von McMurdo haben gerade ein Beben der Stärke elf registriert.« »Admiral!«, rief ein Lieutenant. Warren blickte gerade noch rechtzeitig auf, um zu sehen, wie sich eine schlammgrüne Wand aufbäumte, auf den Bug herabschoss, das Flugzeugdeck überspülte, die Kampfjets wie Spielzeugflieger umherschleuderte und in die Insel donnerte, in der er sich gerade befand. Ein ohrenbetäubendes Krachen ließ sein Trommelfell platzen. Die Wassermassen zerstörten die Kommandobrücke. Verzweifelt hielt er nach etwas Ausschau, woran er sich festhalten konnte. Die ganze Abteilung lief mit Wasser voll. Warren klammerte sich an eine Stange des Kontrollpultes und drückte den Rücken fest an die Wand, um sich Halt zu verschaffen. Bei ruhiger See ragte der über 80.000 Tonnen verdrängende Flugzeugträger 70 Meter aus dem Wasser. Aber diese Wogen hoben das Schiff wie eine leere kubanische Zigarrenschachtel. Warren hustete Wasser aus und rief seinen Leuten zu: »Drehen und auf die Wellen zuhalten, sonst kentern wir!« Er lauschte angestrengt, um das »Aye, Sir!« vom Steuermann zu vernehmen, aber es ging im Krachen der Wassermassen unter. Als die Welle brach, sah er über die Brücke und sichtete zwei auf dem Wasser treibende Körper. Die anderen waren ins Meer geschwemmt worden. Er rannte die Treppe zum Ruderhaus runter und hielt sich dabei an der Reling fest. Das Ruderhaus war leer. Er blickte zur Küste und sah, wie sich die graue Masse wieder auftürmte, eine Welle so hoch wie ein Kliff. Er griff nach der Kette, die eigentlich für eines seiner 27 Tonnen schweren Flugzeuge reserviert war, hievte sie sich auf die breiten Schultern und lief damit zum Flugzeugdeck. Menschen und Flugzeuge schleuderten über das schräg liegende Deck. Eine weitere Welle schien den Flugzeugträger in den Himmel zu heben. Die Kette fest umklammernd, flog Warren durch die Luft. Das Wasser krachte auf das Deck und zwang ihn zu Boden, aber er hatte die rettende Reling fest im Blick. Wenn er den Abstand zwischen den Wellen nutzte, um das Geländer zu erreichen, konnte er sich möglicherweise dort anketten. Die nächste Woge zerstörte den JSF-Kampfjet mit dem doppelten Seitenleitwerk vor ihm. Warren duckte sich, um nicht von dem abgebrochenen Flügel durchschnitten zu werden. Mit wackeligen Beinen zwang er sich, zunächst stehen zu bleiben, und raste dann zwischen zwei Wellen durch das spritzende Wasser auf die Reling zu. Irgendwie wollte er sich am liebsten fallen lassen, sodass er nicht mehr kämpfen musste, sondern einfach sterben konnte, aber er hielt sich auf den Beinen, bis er an der Reling anlangte. Er griff mit beiden Händen nach der schweren Kette, die er auf den Schultern mitgeschleppt hatte, und machte sich damit an der Reling fest, bevor die nächste Welle herankrachte. Der Wind und der Gischt fegten über das Deck. In Todesangst klammerte Warren sich an die Reling. Die Welle brach über dem Bug, und in dem Augenblick, als Warren mit voller Wucht hochgeschleudert wurde, rastete die Kette ein. Sie hielt. Eine Weile stand er so da und war sich sicher, dass sein Arm abreißen und er selbst wie die restlichen Flugzeuge weggespült würde. Aber mit Gottes Hilfe, schwor er sich, würde er diese verheerende Flut überleben, sei es auch nur, um es Yeats heimzuzahlen. Dann, ganz langsam, neigte sich das Schiff, und er hörte das Knirschen der massiven Eisenträger. In der gewaltigen Woge war das ganze Schiff kurz davor zu kentern. »Yeats, du verdammter Mistkerl!« Teil Drei. Tagesanbruch Tagesanbruch 22 minus 15 Stunden Der Whiskey brannte in seiner Kehle. Conrad, der sich in der Sternenkammer der P4 befand, musste husten. Er sah Serena an, die neben ihm saß. Sie hatte das nasse Haar nach hinten gestrichen und sah blass aus. »Jack Daniel's?«, fragte er heiser. »Habe ich in Yeats' Rucksack gefunden.« Sie berührte sein Gesicht. Die Berührung schien seine Lebensgeister zu wecken. »Du bist ganz heiß.« »Ist überhaupt ziemlich heiß hier.« Conrad stöhnte auf. Unter schrecklichen Schmerzen oben am Kopf setzte er sich auf. »Wo ist der Obelisk?« »Weiß ich nicht«, sagte Serena. »Er war vorhin noch hier.« Hastig suchte Conrad die Sternenkammer ab. Der leere Altar stand mitten auf der Kartusche. Ihm wurde schwindlig, weil ihm der Albtraum wieder ins Gedächtnis kam: der Boden, der sich geöffnet hatte. »Wo ist Yeats?« »Im Bodenschacht verschwunden.« Der Schacht unter dem Altar hatte sich eindeutig wieder geschlossen. Er ist tot, dachte Conrad. Er merkte, wie er zitterte und sein Herz schneller schlug. »Das mit deinem Vater tut mir Leid.« Er sah Serena in die Augen. Sie meinte es ernst, dachte er. Aber es lag auch etwas Sonderbares in ihrem Blick. Etwas war anders. Es war nicht unbedingt Angst, eher Distanz. Sie hatte hoffentlich nicht Yeats' bizarre Enthüllung über seine Herkunft ernst genommen. Das war eindeutig eine psychologische Masche gewesen. »Du glaubst doch nicht etwa …« »Wer immer du auch sein magst, Conrad, du stehst jedenfalls nicht auf der Liste der Auserkorenen, nicht auf der Gottes, nicht auf der von den Atlantiserbauern und auch nicht auf meiner«, sagte sie. »Du wirst genauso wie andere für deine Sünden büßen. Diesmal sieht es allerdings so aus, als ob du uns alle schnurstracks mit in die Hölle nimmst. Das und nichts anderes glaube ich.« Conrad starrte sie fassungslos an. »Du hörst wohl nie auf, was? Du musst wohl immer das letzte Wort haben.« »Genau.« Conrad bemerkte auf einmal, dass auf dem Boden etwas leuchtete. Er wollte es berühren. War das etwa Sonnenlicht? Er blickte zur Decke und blinzelte. Die zwei verborgenen Schächte, die er dort zuvor schon vermutet hatte, waren jetzt weit geöffnet. Sonnenstrahlen zwängten sich durch den Südschacht und trafen genau dort, wo der Obelisk gestanden hatte, auf den Boden. Ob die Eisschlucht oben in sich zusammengestürzt ist?, fragte er sich beunruhigt. Was war mit der Eisstation Orion? Ein schrecklicher Gedanke schoss ihm ins Bewusstsein: Hatten die geothermischen Winde der P4 das Eis zum Schmelzen gebracht oder womöglich sogar die Erdkruste verschoben? Er wischte den Gedanken sofort beiseite. Wäre wirklich eine solche Katastrophe geschehen, wären Serena und er schon längst tot. Conrad reckte den Hals zu den Schächten hin, die sich nun in der Krümmung der Süd- und der Nordwand befanden. Er könnte einen der Schächte hochklettern, nur so gelangte man nach draußen. Aber die Schächte schienen steil zu sein. Sie führten mindestens 300 Meter hoch, Gott weiß wohin. »Ich muss mir das draußen ansehen«, sagte er zu Serena. Sie nickte bedächtig, als ob sie, schon lange bevor er aus der Ohnmacht erwacht war, zum gleichen Schluss gekommen wäre. »Um den Schacht hochzuklettern, wirst du die hier brauchen.« Sie hielt ihm an Händen und Knien zu befestigende Saugnäpfe hin. »Wo hast du die denn her?« »Alles aus dem Rucksack deines Vaters. Er schien für jede Situation gerüstet zu sein.« »Für jede wohl doch nicht«, sagte Conrad und blickte zum Altar hinüber, unter dem sein Vater im Schacht verschwunden war. Conrad stand auf, nahm die Kletterhilfen und ging quer durch den Raum zum Südschacht. Er sah direkt in die Sonne und musste blinzeln. »Sieht so aus, als ob sich der Polarsturm verzogen hätte.« »Ja, scheint so zu sein.« Serena klang nicht sehr überzeugt. Sie wollte es vielleicht auch gar nicht wissen. »Wenn die Rettungsmannschaften nach uns suchen, müssen wir uns mit einem Signal bemerkbar machen«, sagte er und befestigte die Kletterhilfen mit den Saugnäpfen. »Ich muss den Schacht hochklettern. Ich nehme ein Seil mit, falls es der einzige Weg nach draußen ist und du nachkommen musst. In der Zwischenzeit versuchst du mit Yeats' Funkgerät die Eisstation zu erreichen und sagst denen, was passiert ist.« Er merkte, wie sie in seinen Augen nach Hinweisen suchte. »Was genau ist denn passiert, Conrad?«, fragte sie. Hätte sie es zugelassen, hätte er sie in die Arme genommen und ihr gesagt, dass alles wieder gut werden würde. Obwohl sie beide wussten, dass dem nicht so war. »Ich werde es herausfinden«, versicherte er ihr. »Ehrenwort.« *** Die Lichtquelle wurde größer, je weiter Conrad sich dem Ende des Schachts näherte. Der Schacht war steiler gewesen, als er vermutet hatte, und die Saugnäpfe, die er für den Halt allerdings brauchte, hatten den Aufstieg verlangsamt. Er war außer Atem. Der Wind pfiff, als er sich am äußeren Rand des Schachts festhielt und sich zum Tageslicht hochzog. Das grelle Licht ließ ihn blinzeln. Seine Augen mussten sich erst an die Helligkeit gewöhnen. Er konnte nicht fassen, was er dann sah, und blinzelte wieder. Unter ihm lagen die Ruinen einer alten Stadt. Tempel, Zikkurats und zerbrochene Obelisken lagen verstreut mitten in einer Anlage, die einmal ein tropisches Paradies gewesen sein musste. Er nahm eine Reihe von Wasserläufen wahr, die in konzentrischen Kreisen um die Pyramide herum angelegt waren. Hier war wohl das Stadtzentrum gewesen, folgerte er. Es war ein hoch entwickeltes Raster einer Stadt aus einer anderen Welt, die 12.000 Jahre unter einer zwei Meilen dicken Eisschicht versteckt gelegen hatte. Bis heute. Conrad hielt sich die Hand über die Augen. Um die Pyramide herum, unter dem Eis, erstreckte sich sechs Meilen weit eine tropische Insel im Eismeer. In einiger Entfernung konnte er die schneebedeckten Gipfel der Berge jenseits der Antarktis sehen. Die Luft war klar und frisch, und er hörte das entfernte Rauschen von Wasserfällen. Angesichts der Erhabenheit der Stätte waren seine Befürchtungen, seine Zweifel und sein kleinlicher Ehrgeiz wie weggefegt. Und als er seine Blicke über die neue Welt schweifen ließ, fragte er sich plötzlich, was wohl aus der alten geworden war. Tagesanbruch minus 15 Stunden 23 U.S.S. Constellation Admiral Warren durchschritt platschend das Hangardeck der U.S.S. Constellation und begutachtete den Schaden. Der Flugzeugträger war zwar nicht gekentert, aber er hatte so viel Wasser abbekommen, dass die Titanic damit zweimal gesunken wäre. Aber der alte Kasten schwamm noch und tuckerte mit Notstrom dahin. Die ersten Meldungen von der US-Erdbebenwarte in Golden, Colorado, und von einem japanischen Erdbebenzentrum machten ein Beben in der Ost-Antarktis – 11,1 auf der Richter-Skala – für die Flutwelle verantwortlich. Aber Warren konnte von McMurdo oder Amundsen-Scott keine Bestätigung bekommen. Sämtliche Verbindungen zu den amerikanischen Stationen waren wegen des Zusammenbruchs des EMP-Systems unterbrochen. Das alles schienen die Meldungen aus Moskau und Peking zu bestätigen, die besagten, dass es sich bei dem ›seismischen Zwischenfall‹ in der Antarktis in Wirklichkeit um eine geheime, von den Vereinigten Staaten ausgelöste Atomexplosion handelte – eine eklatante Verletzung des internationalen Antarktisvertrags. Der elektromagnetische Puls hatte auch die Satelliten funktionsuntüchtig gemacht. Warren wurde mitgeteilt, dass er mindestens sechzehn Stunden warten müsse – wenn er nicht selbst einen Erkundungsflug über das Epizentrum machen könne –, bis die US-Luftwaffe an Ort und Stelle sei, um entweder festzustellen, dass die Anschuldigungen falsch waren, oder um Yeats' Schurkerei zu decken. Yeats, du verdammter Mistkerl, brummelte Warren vor sich hin, während er die schwimmenden Teile einer zerbrochenen Tragfläche umrundete. Sah aus wie von einer F/A-18 Hornet. Der Rest lag übel zugerichtet zusammen mit den Überbleibseln einer S-3B Viking herum. Warren schüttelte den Kopf. Sechsundzwanzig Verletzte, davon drei in kritischem Zustand, und neun Vermisste. Und das allein auf der Constellation. Die Nachrichten meldeten, dass ein Drittel von Male, der Hauptstadt der Malediven, unter Wasser stand. Selbst ein geringes Ansteigen des Meeresspiegels könnte jetzt den ganzen Inselstaat auslöschen – alle etwa 1.200 Inseln. Die gesamte Bevölkerung von 340.000 Einwohnern war in Gefahr. Die einzig positive Nachricht, die Warren nach Washington melden konnte, war, dass seine Mannschaft die Greenpeace-Aktivisten von deren Schiff, das in der Zwischenzeit gesunken war, hatte retten können. Diese Unruhestifter halfen jetzt immerhin bei der Versorgung der Verletzten und machten zudem einen verdammt guten Kaffee, den besten, den Warren jemals getrunken hatte. Er war gerade bei seiner vierten Tasse, als einer seiner Funkoffiziere durch das Wasser zu ihm kam. »EAM kommt über Milstar, Sir.« Warren sah, wie eine Socke an ihm vorbeischwamm. Das Milstar-System gewährleistete die Nachrichtenverbindung des Präsidenten zu den höheren Militärbefehlshabern. Das 17 Milliarden Dollar teure Milstar-Satelliten-System, das Military Commanders' Voice Conference Network, war errichtet worden, um den Befehlshabern die Fernkonferenz darüber zu ermöglichen, ob eine Rakete Nordamerika bedrohte und, wenn das der Fall war, welche geeigneten Maßnahmen ergriffen werden sollten. »Oberste Dringlichkeitsstufe, Sir.« »Bin schon da.« Warren nahm einen letzten Schluck Kaffee, als er den mit Radar ausgestatteten Black-Hawk-Hubschrauber in der Ecke erblickte, an dem einige Leute seiner Wartungsmannschaft auf seinen Befehl hin arbeiteten. Dann zerdrückte er die Styropor-Kaffeetasse und warf sie auf den Hangarboden. Sie wurde sofort weggespült. In den Räumen des Krisenstabs der Constellation war das Wasser nur knöchelhoch. Warren watete hinein. McBride, dienstältester Offizier, saß schon am Konferenztisch. Zu Warrens' Bestürzung saß neben McBride der ungepflegte Greenpeace-Freak von der Arctic Sunrise, der in der CNN-Sendung dabei gewesen war. Er fummelte an einem bonbonfarbenen Laptop herum, der wie ein Spielzeug aussah. Warren runzelte die Stirn. »Was macht diese Zivilperson hier, McBride?« »Das ist Thornton Larson, Doktor der Geophysik vom Massachusetts Institute of Technology«, sagte McBride. »Er hat die Milstar-Berichte runtergeladen und will Ihnen was zeigen.« »Hätten das nicht auch Ihre Offiziere gekonnt, McBride?« »Sir, die Daten sind dermaßen außerhalb der Norm, dass wir eine zweite Meinung einholen wollten. Dr. Larson hat da außerordentliche Fähigkeiten.« Warren setzte sich und beobachtete den zerzausten Larson. Dieser Klugscheißer weiß noch nicht mal, was Rasierklingen sind, dachte er, und McBride erörtert mit ihm Sicherheitsfragen, die der nationalen Geheimhaltung unterliegen. »Schießen Sie los, Larson.« »Ich konnte das letzte Bild retten, bevor der EMP die Eingeweide des Satelliten verbrutzelt hat«, sagte Larson aufgeregt. »Ich hab es gefiltert. Schauen Sie mal.« Warren blickte auf den großen Bildschirm an der Wand. Ein blau getöntes Bild der Antarktis kam zum Vorschein, das Warren nur allzu bekannt vorkam. Aber in der Mitte, beziehungsweise knapp neben dem Zentrum der Ost-Antarktis, befand sich ein bräunlich gelber Fleck. »He, Mann, ist das nicht Klasse?« Larson war voller Bewunderung für sein Werk. »Mein Gott, hoffentlich ist das irgendein Sturm und nicht Ground Zero«, sagte Warren. »Beides zusammen kommt nicht ansatzweise an das hier ran.« Larson wandte den Blick nicht vom Bild auf dem Schirm ab. »Also, Mr. Ground Zero, sind Sie für die Großaufnahme bereit?« Der bräunlich gelbe Fleck vergrößerte sich zu grobkörnigen Rastern, bis Warren einen Krater im Eis erkennen konnte. Auf dem Grund befanden sich ein Pyramidenkomplex, Tempel und Wasserläufe. Dieser junge Hupfer will uns eindeutig verarschen, dachte Warren. »Sie finden das wohl ziemlich lustig, was, Larson?«, sagte Warren und wollte aufstehen. »Mal sehen, wie urkomisch es in der Arrestzelle ist.« »Einen Moment, Sir«, sagte McBride. »Wir haben das alles geprüft. Der Typ hier hat nichts manipuliert.« Warren setzte sich langsam wieder hin. Er musste unweigerlich an Yeats denken. Dieser Scheißkerl hatte es schon die ganze Zeit gewusst. »Wollen Sie mir etwa erzählen, dass das auf dem Bildschirm echt ist?« »Was Sie da sehen, ist sozusagen eine Hinterhofband kurz vor dem Berühmtsein«, sagte Larson. »Das ist praktisch die erste Single aus einem Album, das ich mal Mutter Naturs Kakophonie zum Weltuntergang nennen würde.« Warren sah McBride augenrollend an, was sein Erster Offizier still zur Kenntnis nahm. »Kinder, aufgepasst!«, sagte Larson. Warren sah auf den großen Wandbildschirm. Das Bild der Stadt im Eis war weg. Stattdessen drehte sich in der Mitte so etwas wie ein Thermobild der Sonne. Bei jeder Stromschwankung des Notaggregats des Flugzeugträgers flackerte das Bild. »Larson, können Sie mir vielleicht sagen, was ich da sehe?« »Den Erdkern, mein Lieber«, sagte Larson. »Den Kern! Eine neue Technik, so etwas Ähnliches wie die Sonografie in der Medizin, macht es möglich, ein Bild vom Inneren des Planeten zu erzeugen. Ich habe die neueste Version von Powerpoint auf meinem G5 benutzt, um …« Warren machte eine ungeduldige Handbewegung. »Zur Sache.« »Die Erde ist wie eine Zwiebel, Mann, und besteht aus verschiedenen Schichten«, sagte Larson. »Und die Zwiebel rotiert. Sie wirbelt Orkane und Stürme in der Atmosphäre auf. Aber der Erdkern dreht sich unabhängig davon. Wenn sich da was ändert, kann das an der Oberfläche des Planeten bedeutende Folgen haben. Ich spreche von echten Konsequenzen.« »Sie denken da an Erdbeben und Flutwellen?«, fragte Warren. »Ganz große Nummer«, sagte Larson. »Albert Einstein, Dr. Relativität persönlich, hat sogar die Theorie aufgestellt, dass sich die äußere Kruste, die Lithosphäre, in Abständen über der Asthenosphäre verschiebt, was auf die Eisbildung an den Polen zurückzuführen ist.« »Was erzählen Sie da?« »Mein Lieber, ich sage Ihnen gerade, dass wir Zeugen einer so genannten Erdkrustenverschiebung geworden sind.« Warren hatte keine Ahnung, wie bekifft dieser Typ war, aber er musste unbedingt rauskriegen, was es mit dieser Theorie auf sich hatte. »Und was bewirkt diese Erdkrustenverschiebung?« »Also, hier wird's ziemlich krass«, sagte Larson. »Die Antarktis wird zum Äquator geschoben und Nordamerika in Richtung Polarkreis.« Auf dem Bildschirm erschien ein weiteres Computerbild, diesmal von der Erde. Warren wurde ganz heiß, als er sah, wie sich die Antarktis – ohne Eis – zur Mitte der Erde hin bewegte und Nordamerika an das obere Ende der Weltkugel geschoben wurde. »Wollen Sie damit sagen, dass wir lieber hier bleiben und uns an den Stränden der Antarktis sonnen sollen«, sagte er, »statt uns in den USA, die dann unter einer zwei Meilen dicken Eisschicht liegen, die Ärsche abzufrieren?« »Bingo!«, sagte Larson. »Bingo! Eine Erdkrustenverschiebung würde in unterschiedlichem Maße auf verschiedenen Kontinenten größere Gebiete auslöschen, was wiederum von allen möglichen Veränderungen der Breitengrade abhängt. Ich habe die von einer eventuellen Zerstörung betroffenen Gebiete mal hervorgehoben. Also, vor denen muss man sich höllisch in Acht nehmen. Das kann ich Ihnen verklickern.« Larson zog auf dem Bildschirm durch den Nordpol und den Südpol eine Linie um die Erdkugel. »Die Linie der größten Verschiebung verläuft durch Nordamerika, den Westen von Südamerika, halbiert die Antarktis, geht durch Südostasien bis nach Sibirien und dann nach Nordamerika zurück. Alle Kontinente, die sich auf dieser Linie befinden, stehen kurz vor der totalen Vernichtung.« »Niemand kann die Zukunft voraussagen«, wandte Warren ein, der die Bestimmtheit, mit der der grüne Aktivist sprach, beklemmend fand. »Wenn Sie die alten Fünfjahresvorhersagen des Pentagons gelesen hätten, wüssten Sie das. Und wie lange soll dieser angebliche Todesring brauchen, um uns alle auszulöschen?« »Das kann ich nur schätzen, aber meine Hochrechnungen sagen eine Erdkrustenverschiebung innerhalb der nächsten paar Tage voraus, die binnen einer Woche abgeschlossen sein wird.« Warren war fassungslos. »Diese ganze Zerstörung soll in ein paar Tagen stattfinden?« »O Mann, laut Schöpfungsgeschichte hat Gott schließlich auch nur sechs Tage gebraucht, um die Welt zu erschaffen«, sagte Larson. »Warum sollte eine Erdkrustenverschiebung länger brauchen, um sie zu zerstören? Es ist wie mit einer Spule, die sich, wenn sie erst einmal angefangen hat sich zu drehen, mit unaufhaltsamer, verheerender Schnelligkeit abrollt.« Warren lehnte sich vor. »Ist so was schon einmal passiert?« »Ja, mehrere Male.« »Und Sie waren vermutlich dabei, um alles genau zu protokollieren, ja?« »Schön wär's«, sagte Larson. »Die letzte Verschiebung liegt ungefähr 11.600 Jahre zurück, also etwa um das Jahr 9600 vor unserer Zeitrechnung. Den geologischen Aufzeichnungen nach haben damals gewaltige Klimaveränderungen den Planeten überzogen. Ganze Eisplatten schmolzen weg, und der Meeresspiegel stieg. Massenweise sind riesige Säugetiere verschwunden. Es gab eine gigantische Völkerwanderung in Richtung Mittel- und Südamerika. Ehrlich, da war schwer was los.« »Und das passiert alle 12.000 Jahre?« »Nein, alle 41.000 Jahre«, sagte Larson, dem plötzlich die Luft auszugehen schien. Er ließ sich in einen Sessel plumpsen. »Die nächste Verschiebung dürfte also eigentlich erst in 30.000 Jahren stattfinden. Irgendwie wurde der Kreislauf beschleunigt. Keine Ahnung, wie.« Warren konnte sich noch weniger einen Reim darauf machen. Aber er war sich verflucht sicher, wer für das Ganze verantwortlich war. »Und wann ist es so weit?«, fragte er. »Wie schnell läuft der Countdown ab?« »Die Verschiebung müsste uns morgen bei Tagesanbruch erreichen.« Mit glasigen Augen fing Larson an, mit den Fingern abzuzählen. »Mist, das sind weniger als fünfzehn Stunden. Nur noch eine Nacht für die Freuden dieser Welt, und dann ist alles futsch.« Admiral Warren starrte den Knaben fassungslos an und hoffte, dass dessen Doktortitel nichts als fauler Zauber war. Sonst säßen sie übel in der Tinte. Tagesanbruch 24 minus 14 Stunden Serena lief in der Obelisken-Kammer auf und ab, während sie auf Conrad wartete. Irgendetwas musste gründlich schief gelaufen sein. Sie konnte es in der Luft riechen und in ihren Knochen spüren. Etwas von gigantischem Ausmaß, etwas außerordentlich Bedeutendes war geschehen. Ihr war schrecklich flau im Magen, so als ob sie stundenlang nichts gegessen oder getrunken hätte, außer einen Espresso nach dem anderen zu sich zu nehmen. Hätte sie doch nur schon früher auf ihre Zweifel reagiert oder Conrad weiter zu überreden versucht, oder Yeats länger hingehalten. Während sie umherwanderte und nachdachte, blickte sie beklommen auf den leeren Altar in der Mitte. Einen schrecklichen Augenblick lang hatte er sich wie ein Höllenschlund geöffnet und dabei Kowitsch eingeäschert und Yeats verschlungen. Vielleicht war es so etwas wie ein geothermischer Wind gewesen, etwas, was die Hitze in der Erdmitte anzapfen und die Energie nutzen konnte. Schließlich produzierten Brennstoffzellen die Nebenprodukte Hitze und Wasser. Und von beiden gab es in der P4 wahrlich genug. Auf jeden Fall befolgte die P4 die vorprogrammierten Anweisungen ihrer Erbauer, wer immer diese auch gewesen sein mochten. Es war eindeutig beabsichtigt, eine Art weltweite Zerstörung zu inszenieren, falls die Menschheit nicht rechtzeitig ihr Dasein rechtfertigte, indem sie sich als ›ehrwürdig‹ erwies. Serena sah sich nach allen Seiten um und zog dann das Zepter des Osiris aus ihrem Rucksack. Sie hielt den leuchtenden Obelisken in der Hand. Intuitiv hatte sie Conrad angelogen und ihm verschwiegen, dass sie sich den Gegenstand unter den Nagel gerissen hatte. Sie ging zum Altar hinüber und setzte dort das Zepter behutsam in den runden Sockel. Rumpelnd drehte sich die gewölbte Sternendecke. Serena gab sich Mühe, die Gestirne so zu stellen, wie sie positioniert waren, bevor Conrad den Obelisken entfernt hatte. Die Drehbewegung stoppte. Serena wartete. Nichts geschah. Was auch immer Conrad ausgelöst hatte, es konnte offenbar nicht rückgängig gemacht werden. Von wegen Jungfräulichkeit. Sie war eindeutig genauso wenig ›ehrwürdig‹ wie er. Sie nahm den Obelisken wieder vom Altar und spürte gleich darauf, wie die Wand hinter ihr erzitterte. Sie drehte sich um und sah, wie sich die vier Türen der Kammer nacheinander öffneten. Eine ganze Zeit lang stand sie wie angewurzelt da und wusste nicht, was sie tun sollte. Dann betrachtete sie den Obelisken in ihrer Hand. Irgendetwas war anders. Die Seite mit den vier Sonnen hatte sich verändert. Jetzt waren da sechs Sonnen, wobei die sechste die größte war. Ihre schlimmsten Befürchtungen hatten sich bewahrheitet: Ein neues Zeitalter war angebrochen, was nur bedeuten konnte, dass das alte unweigerlich zu Ende ging. Gleich geblieben war die Inschrift, die besagte, dass das Zepter des Osiris zum Heiligtum der Ursonne gehörte. Daneben war jetzt eine Konstruktion wie die P4 zu erkennen, ein Denkmal seiner Zeitepoche. Wenn die P4 die Pyramide der Vierten Sonne war, dann musste das Heiligtum der Ursonne während der Ersten Zeit, der Schöpfung, der Urzeit gebaut worden sein. Sollte Conrad Recht haben, konnte die biblische Genesis nichts anderes als die entsprechende ›ehrwürdige‹ Zeit sein. Serena kam zu dem Schluss, dass sie dieses Heiligtum der Ursonne finden und dessen Geheimnis lüften musste. Erst dann konnte sie die Sternenkammer auf die ›ehrwürdige‹ Zeit einstellen, um dadurch das, was auch immer gerade geschah, anzuhalten. Aber wo befand sich dieses Heiligtum, und wie würde sie es überhaupt erkennen? Conrad würde das können. Sie ging zu dem Lichtrechteck unter dem Südschacht und verfolgte mit den Augen Conrads Seil, das den Schacht hochlief. Am anderen Ende flimmerte Tageslicht. Warum blieb er so lange weg? Serena wandte sich vom Schacht ab und blickte durch die leere Kammer. Yeats' Rucksack lag immer noch da. Sie hatte ihn schon einmal durchwühlt, aber erst jetzt merkte sie, dass an dem Futter an der Rückenseite etwas nicht stimmte. Bei näherer Untersuchung stellte sie fest, dass dort ein flacher Gegenstand eingenäht war. Sie zog ein Militärmesser aus Yeats' Rucksack und schlitzte das Futter auf. Ein gefaltetes Papier mit einer Zeichnung darauf kam zum Vorschein. Es sah wie der Konstruktionsentwurf einer Art Säule aus. Mit einem Schlag erkannte sie dann die ›Säule‹. Es war eine originalgetreue Abbildung des Obelisken, den sie in der Hand hielt. Wie sie schon vermutet hatte, wussten die Amerikaner also mehr über diesen Ort, als Yeats zuzugeben bereit gewesen war. Yeats hatte die Zeichnung eindeutig schon gehabt, bevor sie die P4 betreten und den Obelisken gefunden hatten. Noch bevor Yeats das Zepter des Osiris mit eigenen Augen gesehen hatte, musste er gewusst haben, dass es sich hier unten befand. Natürlich war die verrückte Geschichte, wie er Conrad angeblich im Eis gefunden hatte, nicht wahr, sagte sie sich. Die hatte nur dazu gedient, in einer Krisensituation mit Conrads Gefühlen zu spielen. Nicht anders hatte das auch Conrad gesehen. Aber da war etwas gewesen, bevor Conrad aus seiner Bewusstlosigkeit aufgewacht war. Er hatte etwas gemurmelt, und das wollte ihr nicht aus dem Kopf gehen. Es hatte wie ein schmerzvolles Stöhnen geklungen. Aber in der Wortstruktur und in der Aussprache war es ihr eigenartig bekannt vorgekommen. Jetzt, wo sie wieder daran dachte, wurde ihr bewusst, dass Conrad ständig das Wort ›Mama‹ in einer Vorstufe der Aimara-Sprache wiederholt hatte. Ein Wort, das Conrad aber auf keinen Fall hätte wissen können. Ihr lief es eiskalt den Rücken hinab. Ob Conrad vielleicht doch ein Atlanter war? Vielleicht war sie auch nur einfach verrückt. Sie besah sich den Obelisken genauer und verglich ihn mit dem Entwurf. Bis auf die Gravierungen, die, wie sie soeben selbst gesehen hatte, die Fähigkeit besaßen, sich zu verändern, sahen sie völlig gleich aus. Serena nahm die Thermosflasche aus ihrem Rucksack. Sie drehte die Ummantelung, bis sie sich entriegelte, und nahm sie dann wie eine Hülle ab. Dann rollte sie die Zeichnung um das Innere der Thermosflasche und schob den Mantel wieder darüber, bis er einrastete. Auf dieses Versteck hatte sie auf ihren Reisen bereits öfter einmal zurückgegriffen. Schließlich verstaute sie die Flasche wieder im Rucksack. Sie blickte wieder den Südschacht hoch. Es war wohl nicht ratsam, sich ohne Conrad von hier zu entfernen, aber er war jetzt schon sehr lange fort. Ewig konnte sie nicht warten. Und außerdem: Konnte sie sich wirklich sicher sein, dass Conrad sie mit seinem eigenmächtigen Erkundungsgang nicht im Stich ließe? Ihr hingegen war völlig klar, was sie tun musste. Sie musste das Zepter zum Heiligtum der Ursonne bringen. Dort hoffte sie, das so genannte Geheimnis der Urzeit zu enthüllen, um dadurch das zu stoppen, was gerade geschah. Was Conrad betraf, konnte sie ihm einfach nicht trauen, genauso wenig, wie sie das bei Yeats hatte tun können. Wenn es darauf ankam, konnte sie sich nicht einmal auf den Papst oder Gott verlassen. Wie konnte Er das alles überhaupt zulassen – und auch noch zum wiederholten Mal? Sie musste an das Mädchen im Eis denken. Sie konnte den Gesichtsausdruck nicht vergessen. Gott konnte Derartiges jederzeit noch einmal geschehen lassen. Sie würde das aber nicht zulassen. Sie steckte den Obelisken in ihren Rucksack, hievte ihn auf ihre Schultern und ging dann durch den inzwischen wieder geöffneten Durchgang hinaus. Der Tunnel brachte sie zu einer Gabelung am Ende des großen Gangs. Sie nahm den Mittelgang, der nach unten führte, aus der P4 hinaus. *** Als Serena aus der dunklen Pyramide ins Tageslicht eintauchte, kam ihr die Sonne so strahlend vor wie noch nie. Es war heiß, aber die Hitze war von jener trockenen Beschaffenheit, die sie mochte. In der Antarktis herrschte eben Wüstenklima, ob nun mit oder ohne Eis, dachte sie, während sie die Hand vor die Augen hielt. Wahrscheinlicher rührte die Hitze von der gewaltigen geothermischen Maschinerie her. Nachdem sich ihre Augen kurz darauf an das Licht gewöhnt hatten, merkte sie, dass sie sich auf dem Grund eines riesigen Kraters im Eis mitten in einer Stadt befand. Weiter hinten ragten Eiswände in die Höhe und bildeten einen spektakulären Hintergrund für diese Wüstenlandschaft mit ihren Pyramiden, Obelisken, Tempeln und Wasserläufen. Sie konnte das Rauschen eines entfernten Wasserfalls hören. Sie schloss die Augen und atmete tief durch. Die frische, sauerstoffreiche Luft überwältigte ihre Sinne. Genau wie die Erkenntnis, dass es hier unten wahrscheinlich jahrhundertelanger Forschung bedurfte und dass, selbst wenn sie tausend Leben hätte, sie gerade mal anfangen könnte, die Geheimnisse dieser Stadt aufzudecken. Was auch sonst noch geschehen sollte, diese Entdeckung veränderte die Menschheitsgeschichte von Grund auf. Während sie die Augen noch geschlossen hielt, glaubte sie einen Hund bellen zu hören. Das ist doch lächerlich, dachte sie. Eigentlich sollte sie jetzt beten und auf eine innere Botschaft des Heiligen Geistes oder eine Anweisung Gottes lauschen. Aber außer dem Bellen, das immer lauter und aufgeregter wurde, war nichts zu hören. Sie blinzelte und sah nun, wie Nimrod, Yeats' Husky, auf sie zutrottete. Serena war über die Freude, die daraufhin in ihr aufkam, selbst erstaunt und rief ihm zu: »Ja, komm schon!« Nimrod sprang in ihre Arme und leckte ihr Gesicht ab. »Alles in Ordnung mit dir?«, fragte sie ihn. »Ist mit den anderen auch alles okay?« Nimrod drehte sich sofort um, rannte in die andere Richtung und blickte immer wieder zu ihr zurück. »Du willst wohl, dass ich dir folge, was?« Nimrod bellte und rannte jetzt weiter, ohne noch einmal zurückzuschauen. Eine halbe Stunde lang folgte Serena dem Hund den Hauptwasserweg der verlassenen Stadt entlang. Je länger sie liefen, desto weniger kam sie sich wie in einer Stadt vor. Nichts wies darauf hin, dass hier jemals Menschen gelebt hatten. Es gab keine Straßen, nur Wasserläufe. In einigen glitzerte das Wasser, andere waren trocken. Auch der Boden zwischen den einzelnen Gebäuden war trocken. Keine Pflanze, nichts. Was sich natürlich innerhalb ein paar Tagen ändern konnte. Möglicherweise lagen die Wohnhäuser ja außerhalb, wo sie noch unter dem Eis begraben waren. Diese von einer kalten Pracht geprägten Gebäude erinnerten sie an jene Stadt voller aufgelassener Ölfördertürme, die sie am Kaspischen Meer in der ehemaligen Sowjetunion einmal bereist hatte: meilenweit nichts als verrostete Rohrleitungen, durch die man mit einem Lastwagen hätte fahren können, und gespenstische Raffinerien, die sich wie Müllberge am Horizont erstreckten. Sie hatte auch das ungute Gefühl, beobachtet zu werden, obwohl sie wusste, dass es absurd war. Weit und breit war niemand, der sie hätte sehen können. Natürlich war Nimrod hier. Vielleicht gab es da auch noch andere Lebewesen. Manchmal verlor sie den Hund aus dem Blickfeld, blieb aber immer in Hörweite des Bellens. Dann wurde das Bellen lauter. Er wartete wohl auf sie, um ihr etwas zu zeigen. Aus der Ferne sah sie etwas in der Sonne blinken. Bald erreichte sie am Rand der Wasserstraße einen zerstörten Hägglunds-Transporter. Der hintere Kabinenaufsatz war völlig zersplittert. Die Fiberglasscherben glitzerten überall auf dem Boden. Das Führerhaus schien jedoch noch intakt zu sein. Serena ging zur Fahrertür, die einen Spalt offen stand, und riss sie ganz auf. Sie schnappte nach Luft, weil ihr Colonel O'Dells Leiche vor die Füße rutschte. Sein Kopf war ein einziger Blutklumpen, und an den Haaren klebten noch Teile des Armaturenbretts. Nimrod schnüffelte winselnd an dem leblosen Körper. Der arme O'Dell. Sie würde ihn wohl beerdigen müssen. Das war das Mindeste, was sie tun konnte. Aber zuerst einmal musste sie prüfen, ob der Sender des Hägglunds funktionierte und ob es Lebensmittel oder Wasser gab. Sie kletterte ins Führerhaus und suchte systematisch nach einem Satellitentelefon, nach Waffen und Essbarem, nach allem, was eventuell gut zu verwenden war. Aber die Kabine war wie leer gefegt. Sie fand lediglich ein einziges Fertiggericht und einen Kurzwellensender. Sie riss den Essensbeutel auf. Nimrod gab ihr unmissverständlich zu verstehen, dass er auch einen Teil abhaben wollte, und kam schnuppernd in die Kabine. »Ist ja schon gut«, sagte sie. »Komm nur rein.« Sie teilten sich die Mahlzeit. Je länger sie kaute, umso mehr wurde ihr bewusst, dass sie eigentlich eher nach Nachrichten hungerte. Sie blickte zum Kurzwellengerät und fragte sich, ob es wohl funktionierte, hoffte aber komischerweise, dass das nicht der Fall war. Sie hielt es nicht mehr aus und stellte den Sender an. Er funktionierte. Ein lautes Rauschen war zu hören. Sie suchte die Frequenz der BBC. Sie fand den Sender und hörte die angespannte Stimme des Sprechers. »Die Massenevakuierungen der Küstenstädte in den USA sind in vollem Gang«, berichtete der Sprecher. »Die Regierung hat den Flüchtlingen nach eigener Aussage fast drei Millionen Quadratkilometer Land zur Verfügung gestellt. Das entspricht annähernd dreißig Prozent der US-Landfläche.« Stück für Stück wurden die Einzelheiten genannt: der gewaltige ›seismische Zwischenfall‹ in der Antarktis, der einen Gletscher in der Größe von Texas abgespalten hatte, die Überflutung der Malediven und anderer Inseln im Pazifik, die Zusammenkunft des UN-Sicherheitsrates in New York und die Schuldzuweisungen bezüglich geheimer amerikanischer Atomwaffentests in der Antarktis. Mein Gott, was haben wir da angestellt? Serena hatte plötzlich keinen Appetit mehr. Sie überließ Nimrod den Rest der Mahlzeit. Diverse Kommentatoren, Situationsanalytiker und Wissenschaftler von internationalem Rang meldeten sich zu Wort. Einige befürchteten, dass die Eiskappe ganz zusammenbrach, andere glaubten, dass der Meeresspiegel ganze Küstenregionen auslöschte und tief liegende Gebiete wie Florida im Meer versinken ließ. Diejenigen, die Zugang zu den entscheidenden Stellen besaßen, gaben zu, Gerüchte von einer potenziellen Erdkrustenverschiebung und einer weltweiten geologischen Katastrophe gehört zu haben. Serena schaltete den Sender aus und nahm das Zepter des Osiris wieder aus ihrem Rucksack. Sie starrte es an, und es drehte sich ihr der Magen, als sie daran dachte, was dieses Zepter bisher alles angerichtet hatte. Sie öffnete die Beifahrertür. Nimrod sprang hinaus, rannte zum Kanal hinüber und schlabberte das Wasser. Sie ging zu ihm, kauerte sich neben ihn und sah zum anderen Ufer. Es war ungefähr 170 Meter weit entfernt. Nimrod schien das Wasser gut vertragen zu haben. Sie holte eine leere Wasserflasche aus dem Rucksack und tauchte sie ein. Die Strömung war so stark, dass sie die Flasche sofort mitriss. Serena hielt nun einfach die hohle Hand ins Wasser und schlürfte daraus. Sie spritzte gerade etwas Wasser auf ihr ölverschmiertes Gesicht, als sie ein Jaulen vernahm. Sie drehte sich um. Nimrod lag mit aufgerissenen Augen auf der Seite und hechelte. Sie spuckte das Wasser aus und untersuchte ihn. »Stimmt was nicht, alter Junge?« Sie machte sich Sorgen und kraulte ihn an den Ohren. »Sag bloß nicht, dass es am Wasser liegt.« Es war nicht das Wasser. Aus Nimrods Bein sickerte Blut. Sie schaute genauer hin. Es sah wie ein Einschussloch aus. »Mein Gott«, wollte sie gerade sagen, da erschien auf Nimrods Fell in Brusthöhe ein leuchtend roter Fleck. Eine Sekunde später schoss das Blut nur so heraus. Sie sprang auf und schrie. Ein Dutzend arabische Soldaten in UNACOM-Uniformen umstellten sie und hielten ihre Kalaschnikows im Anschlag. Ihr Befehlshaber machte einen Schritt aus dem Kreis heraus und sprach in sein Funkgerät. »Jamil hier«, sagte er auf Arabisch. »Wir haben einen Überlebenden gefunden. Eine Frau.« Serena glaubte, dass er mit ägyptischem Akzent sprach. Die Antwort, die aus dem Funkgerät drang, bestätigte ihre Vermutung: »Bring sie zu mir.« »Jawohl.« Bevor sich Serena rühren konnte, gab Jamil einem seiner Männer ein Zeichen, worauf sie dieser übereifrige Grünschnabel auf den Boden warf, um sie mit beachtlichem Kraftaufwand unten festzuhalten. Er riss ihren Overall auf, griff hinein und tastete sie überall ab. »Was haben wir denn hier?«, sagte der Soldat mit saudiarabischem Akzent und zog ein Schnappmesser heraus. Der Saudi hielt das Messer hoch und ließ die Klinge aufspringen, worauf prompt das Gelächter seiner Kameraden einsetzte. Dann schleuderte er das Messer durch die Luft. Es grub sich in den Boden. Seine Augen schienen Feuer zu versprühen, während er nun mit in die Hüften gestemmten Armen über Serena stand. Jetzt reichte es ihr. Der Saudi wollte gerade weggehen, da trat sie ihm mit voller Wucht in den Unterleib. Er wich vor Schmerz zurück. Serena sprang auf und wollte ihr Knie gerade in sein gebeugtes Gesicht stoßen, da zeichneten sich plötzlich rote Punkte auf ihrem Oberkörper ab. Beim Aufschauen sah sie, wie zahlreiche Kalaschnikows auf sie gerichtet waren. Serena streckte die Arme hoch und ergab sich. Sie blickte zu dem Saudi hinüber, den sie getreten hatte. Er kroch auf allen vieren auf dem Boden. Ein anderer Araber, seinem Akzent nach ein Afghane, stellte sich hinter sie und führte sie vor Jamil. Jamil schien von ihrer Vorstellung begeistert zu sein. »Na, was haben wir denn da?« »Zeig ich Ihnen gleich«, sagte Serena auf Arabisch. Mit ihrem Ellenbogen stieß sie dem Afghanen hinter ihr ins Gesicht. Er schrie auf und ließ seine Waffe fallen. Serena brachte die Kalaschnikow an sich und richtete es auf den verwundeten Soldaten. »Lassen Sie mich gehen«, sagte Serena zu Jamil, wobei sie dem Afghanen das Gewehr in den Rücken drückte. »Oder ich töte diesen Mann.« »Sie könnten keiner Fliege etwas zuleide tun, Mademoiselle.« Jamil zog einen Colt mit Perlmuttgriff heraus, richtete ihn auf Serenas Geisel und erschoss sie. Serena sah fassungslos zu, wie der Afghane zu Boden sackte. Jetzt war sie Jamil schutzlos ausgeliefert. »Mademoiselle, bitte geben Sie das Zepter des Osiris heraus, oder ich muss sie ebenfalls erschießen.« »Sie wissen über das Zepter Bescheid?« »Erschießt sie«, sagte einer der Soldaten zu Jamil. Jamil lächelte. »Nicht bevor sie mir alles erzählt hat.« Der Wind nahm zu. Serena blickte nach oben und sah, wie sich ein Hubschrauber näherte. Es war ein französisches Modell, ein AS365 Dauphin. Sie selbst hatte diesen Eurocopter auch schon mehrmals geflogen. Er gehörte offensichtlich den Leuten von der UNACOM, jedenfalls schien sich Jamil nicht besonders darum zu scheren. »Das Zepter, sagte ich.« »Ich habe es an einem sicheren Ort versteckt«, antwortete Serena. »Lassen Sie mich gehen, dann führe ich Sie hin.« Einer von Jamils Leuten, der Serenas Rucksack durchwühlte, rief plötzlich zu ihnen herüber und zog den Obelisken heraus. Jamil nahm den Obelisken in die Hand, begutachtete ihn kurz, sah dann Serena an und lachte los. »Sagen Sie Oberst Zawas, dass wir das Zepter des Osiris gefunden haben.« Tagesanbruch 25 minus 13 Stunden Am späten Nachmittag blickte Conrad von seinem Hochsitz auf dem Gipfel der P4 aus der Vogelperspektive über die verlorene Stadt. Wenn Dad das alles sehen könnte, dachte er, während er aus der Schachtöffnung schaute. Die Stadt lag mit ihren konzentrisch angelegten Wasserwegen wie zu einem Gitter zusammengefügt da. Breite Straßen mit kleinen und größeren Tempeln an den Seiten liefen strahlenförmig vom P4-Komplex nach außen. Die inselartige Ansiedlung erinnerte ihn an die Straße der Toten im mexikanischen Teotihuacan. Irgendwie aber auch an die National Mall in Washington. Die Totenstadt war ungefähr eine Meile lang, und die P4 bildete das Zentrum. Im Osten schloss eine sphinxartige Konstruktion die Anlage ab, im Westen eine Stufenpyramide mit tosenden Wasserfällen, die im Sonnenlicht glitzerten. Die Ausmaße waren gigantisch. Am erstaunlichsten war, dass sich die verschiedenen Gebäuderinge langsam verschoben, um an bestimmten Stellen einzurasten. Oder drehte sich etwa die P4? Conrad konnte es nicht sagen. Auf jeden Fall hatten die Erbauer damals, noch bevor eine Erdkrustenverschiebung den Kontinent bewegt hatte, mehr als nur eine auf die Sterne abgestimmte Stadt konstruiert. Sie hatten eine Stadt erbaut, in denen die Bauwerke immer wieder neu angeordnet werden konnten, möglicherweise mithilfe von Hydraulik. Genug Wasser floss ja durch die Venen der Stadt. Conrad bemühte sich, diese entrückte Landschaft in sich aufzunehmen, um das Bild in seinem Gedächtnis zu speichern, damit er es niemals vergesse. Die Dimension der Anlage jedoch trotzte jedem Begriffsvermögen. Die Stadt umfasste sicherlich eine Fläche von 25 Quadratkilometern, die es in diesem Krater, dessen Eiswände um die Stadt herum dreitausend Meter in den Himmel ragten, zu erforschen galt. Und das bezog sich lediglich auf den sichtbaren Teil der Stadt. Conrad nahm an, dass er nur den Bruchteil einer größeren Metropole vor sich hatte. Die Versuchung war groß, sofort wieder den Schacht hinunterzurutschen, um Serena von seinem Fund zu berichten. Aber er wollte zuerst ein Bild einfangen. Er zog seine kleine Digitalkamera heraus und schwenkte sie über das Tal. Was immer er sonst noch aus dieser Stadt mitnähme, das Foto sollte der Beweis dafür sein, dass er der erste Mensch seit 12.000 Jahren war, der einen Blick auf die früheste Epoche der Menschheit warf. Vielleicht war er sogar der Erste, der eine völlig fremde Zivilisation sah. Womöglich sogar eine Zivilisation, die sein eigener Ursprung war, wenn man Yeats Glauben schenken konnte. Yeats' Enthüllung hatte mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet. Zumindest hatte sie die Mauer zwischen ihm und Serena vergrößert. Er hatte die Verunsicherung in ihren Augen lesen können, als sie ihn unten in der Sternenkammer betrachtet hatte. Er wusste nicht, ob es an seiner vermeintlichen Herkunft gelegen hatte oder an dem, was er getan hatte. Die Schuldgefühle darüber, dass der einzige Mensch, der ihm seine Fragen hätte beantworten können, nämlich Yeats, wegen einer fixen Idee sein Leben hatte lassen müssen, wollten ihn jedoch nicht loslassen. Tatsache war, dass der einzige Vater, den er jemals gekannt hatte, nun tot war. Er hat mich geliebt, dachte Conrad. Er hat sein Bestes gegeben. Auf seine Art hat er mir das sogar vermitteln können. Jetzt war er nicht mehr da, und sie würden sich niemals mehr wie Vater und Sohn versöhnen können. Dabei hätte Yeats es verdient. Conrad wurde auf einmal übel. Er atmete die frische Antarktisluft tief ein und fragte sich, was Yeats ihm wohl raten würde. Die Antwort, die ihm dazu einfiel, war eindeutig. Yeats hätte zweifelsohne eine Militärpersönlichkeit wie Admiral Mahon, seines Zeichens Admiral der Navy während der amerikanischen Revolution, zitiert und gesagt: »Wenn du dich einmal entschlossen hast, etwas zu erreichen, musst du dir von Anfang an über dein höchstes Ziel im Klaren sein. Und hast du dieses Ziel einmal bestimmt, verlier es niemals aus den Augen.« Conrads Ziel war klar: Er musste einen Plan der Stadt erstellen und das Heiligtum der Ursonne finden, das mit Sicherheit ein Denkmal aus der Urzeit war. Im Inneren des Heiligtums würde sich der Thron des Osiris befinden, jener, der auch auf dem königlichen Siegel zu sehen gewesen war. Wenn es ihm gelänge, das Zepter aus der Sternenkammer in das Heiligtum zu bringen, um dann auf dem Thron des Osiris Platz zu nehmen, würde er das Geheimnis der Urzeit erschließen. Conrad hielt die Kamera hoch und schwenkte sie von rechts nach links, in den Himmel und auf den Boden. Dann holte er mit dem Zoom verschiedene Konstruktionen heran, angefangen mit der einer sphinxähnlichen Begrenzung im Osten bis hin zur Stufenpyramide mit den Wasserfällen im Westen. Er war zufrieden, alles eingefangen zu haben, und spielte ein paar Bilder auf dem Display noch einmal ab, um sicher zu sein, dass er nicht träumte. Dabei entdeckte er am Boden einen Punkt, der sich bewegte. Er machte ihn bei der großen Wasserstraße aus, die durch das Stadtzentrum schnitt. Conrads Herz pochte vor Angst und Aufregung, als er die Kamera auf den Punkt hielt und langsam die Vergrößerung einstellte. Da war es, ein verschwommenes Bild, auf dem sich eindeutig etwas bewegte. Moment mal: Es waren zwei verschwommene Gestalten zu erkennen! Er stellte schärfer. Plötzlich sprang etwas ins Bild. Es war Nimrod, der Husky aus der Eisstation Orion. Und neben ihm ging Serena. Kurz darauf brach der Hund plötzlich zusammen, und Serena wurde von einem Dutzend Männer umstellt, bevor ein Hubschrauber neben der Gruppe landete. Es schien keine freundliche Zusammenkunft zu sein. Conrad ließ die Kamera sinken. Mehrere Kampfhubschrauber schwirrten über ihn hinweg. Bevor er winken konnte, entleerte sich ein Maschinengewehr in seine Richtung. Die Salve streifte die Pyramide. So schnell er konnte, rutschte er in die Sternenkammer hinunter, die jetzt völlig leer war. Die Türen, die zum Gang hinausführten, standen weit offen. Über ihm klapperte etwas, und als Conrad den Schacht, den er gerade herabgerutscht war, hochsah, fiel ein brennender Kanister herunter. Conrads Augen fingen an zu schmerzen. Es war Tränengas. Er rannte aus der Kammer hinaus. An der Gabelung, unten im großen Gang, schaute er durch den Tunnel zum Eingang der P4, den Serena genommen haben musste. Mehrere leuchtend grüne Augen schwebten auf ihn zu. Als einzige Chance blieb ihm, sich in den Schacht fallen zu lassen, der zum Heizkessel führte. Er landete in reißenden Wassermassen, die den unterirdischen Tunnel, der aus der P4 hinausführte, durchspülten. Jetzt wurde er in rasendem Tempo durch den Kanal getrieben. Er war in einer derart starken Strömung gefangen, dass er nichts tun konnte, außer den Kopf mühsam über Wasser zu halten. In was war er da nur reingeraten?, fragte er sich. Dann sah er, wie eine Tunnelöffnung bedrohlich auf ihn zuschoss. Kurz darauf wurde er von der Dunkelheit verschluckt. Tief unter der Stadt schnappte Conrad verzweifelt nach Luft, während er durch die finsteren unterirdischen Kanäle mitgerissen wurde. Im eisigen Wasser verlor er die Orientierung. Von überall her hörte er bedrohliche Sauggeräusche. Als sich der Kanal mit einem größeren Tunnel vereinte, prallte er von der Wand ab und wurde im Kreis herumgewirbelt. Die überwältigende Kraft der Wassermassen verwandelte den rasenden Fluss in einen Whirlpool. Eine weiße Schaumkrone brach in der Dunkelheit über ihm zusammen. Er dachte schon, sie würde ihn umbringen, aber die Welle hob ihn über ein Steinufer auf einen Weg. Er rang nach Atem, als er aus dem Wasser war. Aber schon flutete die nächste Woge heran, umspülte seine Knie und wollte ihn mit ihrem Sog erfassen. Aber sie wich schnell zurück. Er war schon auf den Beinen und ging den Weg hinunter. Ein flüchtiger Blick sagte ihm, dass dieser Tunnel mindestens zweimal so hoch war wie die Gänge in der P4. Als Conrad sich nun durch das Labyrinth bewegte, das kreuz und quer unter der Stadt verlief, erfasste ihn Ehrfurcht, aber auch Hilflosigkeit angesichts des Ausmaßes der unterirdischen Infrastruktur des Bauwerks. Er könnte wohl eine Ewigkeit damit verbringen, diese Stadt zu erforschen, und wenn er nicht bald einen Ausgang fand, würde er das wohl oder übel sogar müssen. Außerdem war er wütend auf Serena, auch jemand, der für ihn ein Geheimnis des Lebens darstellte, das er nie würde ganz ergründen können. Offensichtlich vertraute sie ihm nicht. Warum sonst hätte sie ihn in der P4 zurückgelassen und sich allein vorwärts gewagt? Sie hatte ihren eigenen Überlebenskampf gewählt und – soweit er das beurteilen konnte – ihn als Feind betrachtet. Und doch machte er sich, nachdem er Zeuge ihrer Gefangennahme gewesen war, um ihre Sicherheit Sorgen. Nach ein paar Minuten gelangte er an eine Gabelung im Tunnel und blieb dort stehen. Zwei kleinere Kanäle tauchten auf, jeder ungefähr zwölf Meter hoch und sechs Meter breit. Er hörte ein schwaches Grollen, das aus dem rechten Kanal kam. Er starrte in die Dunkelheit und sah einen Lichtschimmer. In dem Maße, wie das Grollen lauter wurde, vergrößerte sich auch der Lichtschimmer. Ein Wasserschwall schoss heran, und in wenigen Sekunden würde ihn seine Wucht an die Tunnelwand schleudern und dabei womöglich umbringen. Es gab nur einen Ausweg, nämlich in den linken Kanal zu laufen. Er tauchte ein, bevor eine Wasserwand, die aus der rechten Öffnung herausbrach, den breiteren Tunnel durchflutete. Er stand im linken Kanal bis zu den Knien im Wasser und sah zu, wie die Flut ganze drei Minuten lang dahindonnerte, bis sie nachließ. Als alles vorbei war, merkte er, wie er zitterte. Das war knapp, dachte er, als er aufstand. Kaum hatte er einen Schritt in den Kanal gemacht, da hörte er ein entferntes Platschen. Er rechnete mit einer weiteren Sturzflut, die ihm schließlich den Garaus machen würde. Aber sie blieb aus. Er spitzte die Ohren. Das Platschen hatte einen gleichmäßigen Rhythmus. Er stierte in die Dunkelheit. In der Entfernung hörte er Schritte, die auf ihn zukamen. Es mussten mehrere Personen sein, denn jetzt hörte er auch das raue, immer lauter werdende Gemurmel. Sie sprachen arabisch. Conrad wich zurück. Das Geräusch seiner Stiefel im Wasser war lauter als beabsichtigt. Er erstarrte. Einen Moment lang hörte er nichts. Dann nahmen die Schritte wieder ihr platschendes Geräusch auf. »Stehen bleiben!«, rief jemand auf Englisch. Conrad blickte über die Schulter und sah zwei leuchtend grüne Augen aus der Finsternis auftauchen. Er rannte zum großen Tunnel zurück. Ein Schuss fiel, er duckte sich, und die Kugel prallte an der Wand ab. An der Gabelung vor den beiden Kanälen blieb er wie erstarrt stehen. Er drehte sich langsam um und sah einen roten Punkt auf seiner Brust. Nein, zwei Punkte. Conrad stand bewegungslos da, als die beiden mit ihren Nachtsichtbrillen aus dem Tunnel auftauchten. Sie trugen UNACOM-Uniformen. Ihre Kalaschnikows waren auf seine Brust gerichtet. Sie sahen wirklich nicht wie UN-Waffeninspekteure aus. »Abdul, funke Zawas an«, sagte der Mann zur Rechten. Abdul versuchte die Verbindung herzustellen, aber es kamen nur Störgeräusche. »Wir müssen an die Oberfläche«, sagte er frustriert. »Die Wände hier lassen das Signal nicht durch.« Abduls Partner ging auf Conrad zu, als es in der Ferne wieder zu grollen anfing. Conrad bewegte sich auf den rechten Kanal zu. »Stehen bleiben!«, befahl Abdul. »Wo wollen Sie hin?« »Nach oben, genau wie Sie gesagt haben«, antwortete Conrad, ohne sich umzudrehen. Als er sich der Öffnung des rechten Kanals näherte, konnte er eine kühle Brise im Gesicht spüren. Das entfernte Tosen wurde lauter. Dann pfiff eine Kugel an seinem Ohr vorbei. Er blieb stehen und drehte sich um. Abdul und sein Begleiter waren fast zwanzig Meter hinter ihm im großen Tunnel und blickten mit wachsendem Interesse in seine Richtung. Sie sagten etwas, aber Conrad konnte es nicht hören, weil das Grollen hinter ihm zu laut war. Mit einem Mal – Conrad konnte schon die ersten Wasserspritzer am Nacken fühlen – ließen sie ihre Waffen fallen und rannten davon. Conrad hechtete gerade rechtzeitig in den linken Tunnel, bevor die Wasserwand aus dem Kanal hinter ihm herausschoss und die Soldaten wegspülte. Urplötzlich verwandelte sich der gewaltige Wasserschwall wieder in ein dünnes Rinnsal, so als ob eine automatische Zeituhr den Hahn abgedreht hätte. Die beiden UNACOM-Soldaten waren verschwunden. Conrad stand bewegungslos da und hörte nur das Tröpfeln des Wassers und seinen schweren Atem. Hinter ihm platschte es plötzlich. Er wirbelte herum und sah eine Gestalt, groß wie ein Kleiderschrank, im Dunklen auf sich zukommen. Sie wurde immer bedrohlicher, bis sie ganz aus der Dunkelheit trat und die Nachtsichtbrille herunterriss. »Ich habe dich gesucht«, sagte Yeats. »Dad!« Conrad wollte seinem Vater in die Arme fallen. Aber Yeats beugte sich nach unten und hob einen leuchtenden Gegenstand auf, der im Wasser trieb. Conrad erkannte, dass es sich um einen ägyptischen ›Ankh‹ handelte, den einer der Soldaten um den Hals getragen hatte. Der Kettenanhänger in Form eines Henkelkreuzes war ein Symbol des Lebens, was dem toten Soldaten jetzt natürlich nichts mehr half. Yeats hielt das Ankh-Zeichen ins Licht seiner Stirnlampe. »Zumindest fängst du jetzt an, jemandem einen dicken Strich durch die Rechnung zu machen, Conrad«, sagte er. Tagesanbruch 26 minus 12 Stunden Serena fühlte sich unwohl, und ihr war heiß in dem Helikopter, der ruckartig ohne ersichtliches Ziel über die Ebene flog. Der ägyptische Pilot hatte Schwierigkeiten, den überladenen Hubschrauber ruhig zu halten. Jedes Mal, wenn er absank, fluchten hinten die UNACOM-Soldaten. In dem voll gestopften Raum war Jamils Körpergeruch mittlerweile unerträglich geworden. Sie merkte, wie seine grausamen Augen bei jedem Absinken auf ihren Busen starrten. »Ihnen macht der Flug anscheinend Spaß«, sagte er auf Arabisch. »Nicht so wie Ihnen«, erwiderte sie. »Vielleicht sollte Ihr Pilot lieber mich ans Steuer lassen.« Jamil sah sie wutentbrannt an. »Werden Sie nicht unverschämt.« Serena biss sich auf die Zunge. Sie widmete sich nun ganz der spektakulären Stadt und dem Kanalsystem unter ihr und fragte sich, was wohl mit Conrad geschehen war, wer diese UNACOM-Soldaten wirklich waren und welche Absicht sie verfolgten. Sie wusste, dass Oberst Ali Zawas sich im Auftrag der Vereinten Nationen in der Antarktis aufhielt und dass diese Männer eindeutig unter seinem Befehl standen. Zweifelsohne brachte man sie jetzt zu ihm. Möglicherweise war der UNACOM-Auftrag jedoch lediglich ein Deckmantel, um eigenmächtige Ziele zu verfolgen. Möglicherweise hatten die Soldaten die ganze Zeit schon darauf gelauert, den Amerikanern ihren Fund im Eis abzuluchsen. Jamil schien über das Zepter des Osiris im Bilde zu sein. Aber woher wusste er davon? Was ihr dazu einfiel, war alles andere als erfreulich: Die Amerikaner in der Eisstation Orion waren alle vernichtet worden, die russischen Waffeninspekteure ebenso, und jetzt kontrollierten Zawas und seine bewaffnete Truppe die Stadt, bis amerikanische Unterstützung anrückte. Dann war es aber zu spät, um Zawas daran zu hindern, seine fragwürdige Mission auszuführen. Ganz zu schweigen von der weltweiten Naturkatastrophe, die bevorstand. Der Hubschrauber legte sich nach rechts, sodass Serena die große Wasserstraße unten sehen konnte und dahinter, am Ende einer erhöhten Tempelanlage, eine riesige Stufenpyramide, die wie eine dunkle Festung aufragte. Jamil nannte sie in einem Gespräch mit dem Piloten ›Tempel des Wassermanns‹, und sie erwies ihrem Namen alle Ehre. An den Seiten stürzten zwei Wasserfälle herab, die so groß wie die Niagarafälle waren. Auf einem Vorsprung dazwischen war eine Art Lager errichtet. Sie flogen über die abgeflachte Ostseite des Tempels zwischen den beiden gewaltigen Wasserfällen hindurch und setzten auf dem Landeplatz eine Stufe weiter unten auf. Als die Tür sich aufschob und die Soldaten ausstiegen, stellte Serena fest, dass die Wasserfälle die Ursache für das leise Grollen waren, das sie die ganze Zeit über in der Stadt gehört hatte. Die vibrierende Kraft des Wassers verursachte bei ihr ein unbehagliches Gefühl. Sie ahnte nichts Gutes. Serena kletterte hinaus und blickte sich um. Auf beiden Seiten wanden sich zwei schmale, mit Stufen versehene Rampen nach unten. In der Mitte standen Kisten mit Ausrüstungsgegenständen. Weiter hinten, vor dem Eingang zum Tempel, befand sich ein Eisentor. Auf der Pyramidenspitze standen ein Kontrollturm und eine Flugabwehrkanone. Weiter oben musste es noch einen weiteren Landeplatz geben. Sie sah die Rotoren eines Hubschraubers über den Rand hervorstehen. Sie spähte über die Kante. Tief unter ihr standen Sandbuggys, und beim Wasserfall war sogar ein Schlauchboot mit Außenbordmotor festgebunden, wie es die SEALs der Navy benutzten. Wer auch immer diese Leute waren, sie waren gut vorbereitet und hatten offenbar genügend Geldmittel zur Verfügung. Das behelfsmäßige Eisentor wurde geöffnet, und ein Mann kam lässig auf sie zu. Wie die anderen Soldaten trug auch er einen Kampfanzug der Vereinten Nationen. Der einzige Unterschied war, dass er keinen Helm und keine Rangabzeichen trug. Dennoch erkannte sie ihn sofort. Es war Ali Zawas, Oberst der ägyptischen Luftwaffe, und Spross einer der bekanntesten Diplomatenfamilien des Landes. In New York geboren und aufgewachsen, hatte er seine Ausbildung an der U. S. Air Force Academy absolviert und war dann nach Kairo zurückgekehrt. Er war mehr Amerikaner als Ägypter. Sie war ihm gelegentlich bei UNO-Konferenzen und einmal auch an der Amerikanischen Universität von Kairo begegnet. Bei diesen offiziellen Anlässen war er allerdings immer in Paradeuniform aufgetreten und nicht in dem bedrohlichen Kampfanzug, den er jetzt trug. Normalerweise hatte er auch dunkles, lockiges Haar, jetzt aber einen kahl geschorenen Schädel. Zawas blieb in der Mitte des Vorsprungs vor einer Gruppe Soldaten stehen. Jamil trat beflissen vor und salutierte. Zawas hob kurz die Hand. Er sah gut aus, hatte tief liegende Augen. Sie sprachen arabisch miteinander. Serena konnte nicht alles verstehen, aber Zawas verächtlicher Gesichtsausdruck sprach Bände. Sein Blick schweifte über die Männer und blieb schließlich auf ihr ruhen. Schweigend starrte er sie an und sagte dann etwas zu Jamil, der daraufhin zu ihr kam, sie am Arm griff und sie vor sich herschubste. Sie kämpfte mit der aufkommenden Panik. Angst war das Letzte, was sie jetzt brauchen konnte. Sie nahm sich zusammen und versuchte, möglichst cool zu wirken. Sie hielt den Kopf gesenkt, aber Zawas fasste sie am Kinn, sodass sie in seine dunklen Augen blicken musste. »Sollten Sie eine Atlantin sein«, sagte er auf Englisch, »dann befinden wir uns in der Tat im Paradies. Aber ich gehe mal davon aus, dass Sie Amerikanerin sind.« Sie schüttelte den Kopf und sagte leise: »Nein, Oberst, ich bin aus Rom.« Er brauchte eine Weile, um ihren Akzent zu registrieren. Er war sichtlich bewegt, als er sie schließlich erkannte. Ein aufrichtiges Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Schwester Serghetti? Was um alles in der Welt machen Sie denn hier?« »Für Sie, Oberst, immer noch Doktor Serghetti. Ich wollte Ihnen gerade dieselbe Frage stellen«, sagte sie und blickte auf die Soldaten. »Sie glauben doch nicht etwa, ich nehme Ihnen ab, dass Sie im Auftrag der Vereinten Nationen hier sind?« Zawas grinste. Es amüsierte ihn offensichtlich, dass sie die Fragen stellte. »Betrachten Sie uns als Abgesandte der arabischen Ölproduzenten, die durch alternative Energiequellen am meisten zu verlieren haben.« Er nahm sie am Arm und sagte beiläufig über seine Schulter hinweg: »An die Arbeit, Jamil.« Jamil wartete, bis sie sich entfernt hatten, rief dann etwas Unverständliches, das sofort im Lärm der Soldaten unterging, die mit dem Aufbrechen der Kisten beschäftigt waren. Bohrer, Seismografen, Metalldetektoren, Sprengstoff. Sie kamen zu der Treppe, die zur Eisentür und zum Tempeleingang führte. Zawas blieb stehen und wandte sich ihr stirnrunzelnd zu. »Ich habe Sie zuerst tatsächlich nicht erkannt«, sagte er wie zur Entschuldigung. »Es ist schon lange her, dass wir uns gesehen haben, und auf den Titelseiten der Zeitschriften sehen Sie, nun ja, deutlich gepflegter aus.« »Tut mir Leid, wenn ich Sie enttäusche.« »Ich bitte Sie. Das bisschen Schmutz steht Ihnen gut.« Sie betrachtete ihn genau. Gut aussehend und clever wie er war, konnte er, wenn er wollte, sicher auch nett sein. »Wie soll ich das verstehen?« »Es macht sie menschlicher.« Er lächelte, öffnete das Tor und ließ sie hinein. Der Raum war spärlich möbliert. Tisch, Stühle, ein Computer, ein Feldbett. Nachdem er die Tür zugemacht hatte, nahm er ihr den Rucksack ab und ließ ihn auf einen der Stühle fallen. »Nehmen Sie doch Platz.« Er rückte ihr den Stuhl zurecht und setzte sich dann ihr gegenüber hin. Sie verschwendete keinen Augenblick. »Alternative Energie. Die wollen Sie also hier finden?« »Nicht irgendeine Energiequelle, Doktor Serghetti, die Quelle! Die legendäre Sonnenenergie, die die Bewohner von Atlantis angeblich genutzt haben. Worauf sollten General Yeats und Doktor Yeats denn sonst aus sein?« Das konnte Serena auch nicht sagen. Ihr Blick streifte unwillkürlich ihren Rucksack. Sie dachte an die Zeichnungen vom Obelisken, die sie in der Thermosflasche versteckt hatte. Sie musste unbedingt herausbekommen, warum Zawas glaubte, dass es sich bei der Antarktis um Atlantis handelte, und woher er von der kraftvollen ›Energiequelle‹ wusste. »Dann sind Sie also aus reiner Machtgier hier, genau wie die anderen«, sagte sie. »Dabei haben Sie bei der UNO einen ganz anderen Ruf.« »Im Gegenteil. Ich mache mir Sorgen wegen der instabilen Wirtschaftslage im Nahen Osten, die es immer einflussreicher werdenden Mullahs ermöglicht, Unruhe zu stiften, um an die Macht zu kommen. Dass ich mich mit Bestien wie Jamil abgeben muss, um seinen Artgenossen Einhalt zu gebieten, gehört nun mal zur Ironie der weltweiten Politik.« »Dann hab ich wohl was nicht richtig kapiert. Sie sind gar kein Terrorist. Sie sind in Wirklichkeit ein Patriot, den man lediglich falsch verstanden hat?« »Sie denken zu viel über den Charakter von Menschen wie mich oder Doktor Yeats nach«, sagte er. »Ja, ich kenne ihn durch und durch. Vielleicht sogar besser als Sie. Wenn er noch lebt, werden wir ihn finden. Sie sollten sich allerdings selbst einmal fragen, was Sie hier wollen. Mit Sicherheit geht es Ihnen nicht um den Schutz der Umwelt. Es ist Ihnen bestimmt nicht entgangen, dass sich seit Ihrer Ankunft einiges verändert hat.« »Also gut«, sagte sie und verschränkte die Arme vor der Brust. »Dann sagen Sie mir doch, warum ich hier bin.« »Sie sind hier, weil ich Sie habe kommen lassen.« Ihr Mund wurde ganz trocken. »Sie?« »Na ja, nicht unbedingt Sie persönlich. Ich wusste, dass ich jemanden brauchen würde, der die Zeichen entschlüsseln kann, um das Heiligtum der Ursonne zu finden. Warum sonst hätte ich dem Vatikan den Tipp wegen Yeats' Expedition geben sollen?« Serena blieb das Herz stehen. Auf was wollte Zawas hinaus? Was wusste er, das sie nicht wusste? »Was genau soll ich denn entschlüsseln?« »Eine Karte.« Zawas rollte ein altes Pergament aus. Serena sah sofort, dass es sich um einen Stadtplan handelte. Die Schrift bestand aus Hieroglyphen, die aus vorägyptischer Zeit zu stammen schienen. Deutlich erkannte sie den Tempel des Wassermanns und die anderen Gebäude. Es war die Erdkarte, das Pendant zu der Himmelskarte, die Conrad auf dem Zepter entdeckt hatte. »Wir haben sie vor ein paar Jahren in einer Geheimkammer unter der großen Sphinx in Gise gefunden. Sie wurde von jenem alten ägyptischen Priester Sonchis erstellt, der quasi der Gewährsmann für Platons Atlantisbericht war. Natürlich konnten wir nicht wissen, ob es die Stätte wirklich gab und wenn ja, wo. Bis zu dem Zeitpunkt, als die Amerikaner die P4 in der Antarktis entdeckten.« »Und woher wussten die Amerikaner, wo die P4 war?« »Soweit ich weiß, kamen die gar nicht wegen der hierher«, sagte Zawas. »Der eigentliche Grund waren Beben in der Ost-Antarktis. Und erst nachdem sie etwas unter dem Eis gefunden hatten, kam der Vatikan ins Spiel.« »Der Vatikan?« Serena zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Das kann ich mir nicht vorstellen.« »Der Vatikan besitzt auch eine Atlantis-Karte«, sagte Zawas. »Zur Zeit Alexander des Großen befand sie sich in der Bibliothek von Alexandria. Dann haben die Römer sie während ihrer Besetzung Ägyptens gestohlen. Später, nach dem Untergang des Römischen Reichs, wurde sie nach Konstantinopel gebracht. Als während des vierten Kreuzzugs Konstantinopel eingenommen wurde, schmuggelte man die Karte nach Venedig. Im 17. Jahrhundert wurde sie dort von einem Jesuitenpriester wiederentdeckt.« Serena bebte innerlich vor Wut. War sie auf Zawas wütend, weil er ihr das erzählte, oder auf den Papst, weil er ihr nichts davon gesagt hatte? »Ich glaube Ihnen kein Wort.« »Warum sollte Rom Sie sonst geschickt haben? Sie glauben doch nicht etwa, um das intakte Ökosystem in der Antarktis zu retten?« »Warum denn sonst?« »Zur Aufrechterhaltung der Macht. Die Kirche ist auch nicht edler als die imperialistische Weltmacht USA. Sie befürchtet jede echte göttliche Offenbarung, die ihren Einfluss auf die Menschheitsgeschichte untergräbt. Darum geht es nämlich, Doktor Serghetti. Um etwas, das älter ist als der Islam, das Christentum und sogar das Judentum. Unsere Kirchenfürsten hegen ihre Befürchtungen zu Recht. Und Sie haben allen Grund, ihnen und anderen zu misstrauen – außer dem, der sich die Mühe gemacht hat, Ihnen die Wahrheit zu erzählen. Also kommen Sie schon, helfen Sie mir, das Heiligtum der Ursonne zu finden. Es birgt das Urwissen.« »Und was ist, wenn ich Ihnen nicht helfe?« »Dann werden Sie untergehen wie alle auf dieser Welt«, erwiderte Zawas. »Was wollen Sie damit sagen?« »Ach, Sie haben ja die Nachrichten noch nicht gehört. In McMurdo ist die Landebahn verschwunden. Und der US-Flugzeugträger vor der Küste fährt mit halber Kraft und kämpft noch mit den Auswirkungen der Flutwelle. Mein Kombinationsvermögen sagt mir, dass die Amerikaner noch mindestens sechzehn Stunden brauchen, bis sie hier sind. Bis dahin habe ich die alleinige Verfügungsgewalt über Atlantis.« »Und dann?« »Ist es schon zu spät.« Zawas dunkle Augen blitzten entschlossen auf. »Bis dahin werde ich den Mechanismus des Heiligtums der Ursonne erkannt haben, und die Machtverhältnisse auf der Welt werden sich verlagert haben. Die Vereinigten Staaten sind dann ausgelöscht, Opfer der selbst verursachten Erdkrustenverschiebung. Atlantis hingegen gehört dann uns.« »Sie sind also auch noch Wahrsager?« »Es geht um unser Schicksal.« Er beugte sich vor und lächelte. »Wissen Sie, Schwester Serghetti, endlich hat mein Volk das Gelobte Land gefunden.« Tagesanbruch 27 minus 11 Stunden Conrad machte den Reißverschluss der UNACOM-Uniform auf und bemerkte grimmig das Namensschild Capt. Hassein an der linken Brusttasche. In dem Raum, in den Yeats ihn gebracht hatte, lagen mehrere dieser Uniformen, und Conrad konnte nur raten, woher sein Vater sie hatte. Der Raum war bis zum Rand voll mit Computern, Sturmgewehren und Sprengstoff. »Was soll das hier sein?« »Ein Waffenversteck.« Yeats war damit beschäftigt, Plastiksprengstoff in seinen Rucksack zu stopfen. »Ich bin hier gelandet, nachdem du mich wie einen Scheißhaufen den Schacht in der P4 hinuntergespült hast. Ich bin rausgekrochen, habe mich erst einmal orientiert und mich dann an die Arbeit gemacht, um alles, was ich Nützliches finden konnte, einzusacken.« »Und keiner dieser Schlägertypen da draußen hat das Versteck bewacht?« »Da ist niemand mehr.« Yeats' Überlebenswille war selbst für Conrad, der in den letzten paar Stunden ja auch um sein Leben gekämpft hatte, wirklich erstaunlich. Wie hatte er den Sturz nur überlebt? Er wusste nicht, ob er seinem Vater einen Orden oder einen Tritt verpassen sollte. Dieser Mann hatte weder Erleichterung gezeigt, seinen einzigen Sohn lebend wiederzusehen, noch hatte er sich wegen seiner Herkunft geäußert. »Woher willst du wissen, ob das nicht alles wieder weggeschwemmt wird?« »Gar nicht.« Yeats überprüfte die Zeitzünder für den Sprengstoff. »Immerhin gibt's keine Verbindung zu den unterirdischen Gängen. Wir bleiben sowieso nicht lange hier.« »Offensichtlich.« Conrad blickte auf den dicken Packen Sprengstoff, den Yeats sich auf die Schulter geschnallt hatte. »Du kennst also diese Typen?« »Ihr Befehlshaber, Oberst Zawas, hat seine Ausbildung bei mir gemacht.« Ungläubig starrte Conrad seinen Vater an. »Du hast ihn ausgebildet?« »Ja. Ende der Achtzigerjahre auf der U. S. Air Force Academy in Colorado Springs, und zwar im Rahmen eines amerikanisch-ägyptischen Militäraustauschprogramms«, erklärte Yeats. »Hat sich ein paar Jahre später im Golfkrieg, als die Alliierten den Irak bombardierten, als ganz praktisch erwiesen. Ein arabischer Pilot, der zwei irakische Kampfjets außer Gefecht setzt, war für uns kostenlose PR und legitimierte den Bombenangriff als multinationale Leistung.« »Du hast ihm also beigebracht, wie man andere Araber tötet?« »Schön wär's«, erwiderte Yeats. »Nein, ich habe ihn in Kriegsführung ausgebildet. Bei dem Konzept der ›Decisive Force‹ geht es um den Einsatz des richtigen Angriffspotenzials, das den Feind entweder gleich vernichtet oder ihn zur Kapitulation zwingt. Da kennt sich Zawas jetzt besser aus als unser oberster Stabschef in Washington.« »Dann ist das mit den UNO-Waffeninspekteuren nur Tarnung?« Yeats nickte. »Offensichtlich hat Zawas da seine eigenen Leute eingeschleust. Wahrscheinlich hat er die anderen internationalen Truppen ausgeschaltet und hat vor, uns die Schuld zuzuschieben. Es würde mich auch nicht wundern, wenn er uns die Russen auf den Hals gehetzt hat, um dann abzuwarten, bis wir für ihn die Drecksarbeit erledigt haben.« »Willst du damit sagen, Zawas hat nur eigene Verbündete mitgebracht?« »Ja, und jede Menge Waffen. Normalerweise können ein paar Terroristen einer Supermacht nichts anhaben. Aber die Antarktis ist ein spezieller Kriegsschauplatz. Auf dem unbewohnten Kontinent ist es kein Kunststück, ein kleines amerikanisches Team zu überwältigen.« »Jedenfalls haben seine Leute deinen Hund erschossen und Serena entführt.« Conrad bemerkte, wie Yeats' Halsadern anschwollen. »Also wo ist der Obelisk?« Conrad gab keine Antwort. Yeats sah Conrad mit einem dieser vernichtenden Blicke an, unter denen dieser schon als Kind gelitten hatte. »Verfluchter Mist. Willst du etwa sagen, dass Zawas nicht nur meinen Hund erschossen hat, sondern auch noch das Zepter des Osiris im Besitz hat?« »Ich habe lediglich gesagt, dass er Serena entführt hat.« »Das ist ein und dasselbe. Mach doch endlich mal deine Augen auf. Du hast doch gehört, was Miss Rette-die-Erde in der P4 gesagt hat. Das Zepter des Osiris gehört in das Heiligtum der Ursonne. Und genau dahin wird sie Zawas führen.« »Das traust du ihr zu?« »Darum geht's hier gar nicht.« Yeats sah ihm direkt in die Augen. »Unser Auftrag ist es, alles zu tun, um zu verhindern, dass Zawas an hochentwickelte Waffen und Technologien kommt, die das Gleichgewicht der Mächte in der Welt empfindlich stören könnten. Ungleiche Machtverhältnisse. Verstanden? Krieg das mal in deinen Kopf rein.« »Ach, Dad, und ich dachte schon, wir würden jetzt endlich klären, wer ich bin und wo ich herkomme«, konterte Conrad. Yeats überlegte. Conrad hörte förmlich, wie es im Kopf seines Vaters auf der Suche nach einer passenden Antwort arbeitete. »Wir müssen dazu als Erste im Heiligtum der Ursonne sein, um Zawas dort eine Falle zu stellen. Falls Serena ihn überhaupt dorthin führt.« Yeats klopfte auf den Packen Sprengstoff und ging los, als ob nun alles gesagt wäre. »Das Problem dabei ist nur, dass wir das Heiligtum finden müssen, bevor wir entdeckt werden. Bis Zawas merkt, dass ein paar seiner Leute fehlen, haben wir noch Zeit. Da oben alles kontrolliert wird, sollten wir, bis es dunkel wird, lieber im unterirdischen Teil bleiben.« »Wir müssen uns aber an den Gestirnen orientieren«, sagte Conrad und zog seine Digitalkamera mit den Bildern des Obelisken hervor. »Das Zepter sagt uns nämlich, dass der künftige Sonnenkönig Himmel und Erde zusammenfügen muss. Erst dann werden die ›Leuchtenden‹ den Ort des Heiligtums der Ursonne preisgeben.« Yeats blickte Conrad in die Augen. »Davon hat Serena nichts gesagt.« »Ich weiß. Das Zepter selbst hat's mir offenbart.« »Ich dachte, du kannst derartige Inschriften nicht entziffern.« »Sagen wir mal: Einiges davon kam mir sehr bekannt vor.« »Du glaubst mir inzwischen also? Dass ich dich in jener Kapsel gefunden habe?« »Dir werde ich niemals etwas glauben«, sagte Conrad. »Ich will mir erst noch mein eigenes Urteil bilden. Die Inschrift unter den vier Konstellationen ist jedenfalls fast identisch mit der Inschrift, die Serena vorgelesen hat.« »Und worin unterscheiden sie sich?« »Die Inschrift unter den sechs Ringen – also den Sonnen – warnt davor, das Zepter zu entfernen. Den ›Leuchtenden‹ zufolge darf nur jemand, der sich dessen als würdig erweist, das Zepter nehmen, sonst werden Himmel und Erde auseinander gerissen«, erklärte Conrad. »Was ja wohl gerade geschieht«, fügte Yeats hinzu. »Sieht ganz so aus. Aber die Inschrift unter den vier Tierkreiszeichen auf der anderen Seite teilt dem künftigen Sonnenkönig mit, wie er das Heiligtum der Ursonne mithilfe der ›Leuchtenden‹ findet, um Himmel und Erde wieder zusammenfügen zu können.« »Und was in aller Welt sind die ›Leuchtenden‹?«, fragte Yeats. »Jedenfalls nichts Irdisches. Wahrscheinlich wird damit irgendein astronomisches Phänomen bezeichnet. Ich werd's wissen, sobald ich es sehe.« »Wahnsinn! Es sieht tatsächlich so aus, als ob du der Sonnenkönig wärst.« Zum ersten Mal seit Jahren klopfte Yeats ihm auf die Schulter, und Conrad gestand sich ein, dass es ihm gut tat. »Aber wo sollen wir die ›Leuchtenden‹ finden?«, sagte Yeats. »Wo unter all den Millionen Sternen?« »Wir folgen einfach dem Plan auf dem Zepter.« »Welchem Plan?« »Den vier Sternenbildern.« Conrad zeigte Yeats seine 360° Digitalaufnahme vom Obelisken. »Es handelt sich um die Tierkreiszeichen Skorpion, Schütze, Steinbock und Wassermann.« Yeats sah sich die Aufnahme genauer an. »Und weiter?« »Wenn diese Stadt nach den Sternen konzipiert ist, dann haben diese Himmelskoordinaten vielleicht eine Entsprechung auf der Erde.« »Was heißt hier vielleicht. Das sollten wir schon noch genauer rauskriegen.« »Wir wissen ja, dass die P4 auf den mittleren Stern des Orion-Gürtels, den Al Nitak, ausgerichtet ist«, erklärte Conrad, und Yeats nickte. »Genauso gut könnten wir strategisch platzierte Heiligtümer in der Stadt finden, die dem Skorpion, Schützen, Steinbock und Wassermann zugeordnet sind.« Yeats runzelte die Stirn. »Soll das heißen, wir folgen wie bei einer Schatzsuche den Tempeln, die diesen Zeichen entsprechen?« »Genau.« »Wir gehen also einfach den Himmelszeichen zum Wassermann nach. Und stoßen dann automatisch auf den irdischen Gegenpol.« »Ganz genau«, sagte Conrad. »Draußen wird es jetzt schon dunkel. Bald werden die Sterne zu sehen sein. Sie werden uns wie eine Karte zu einem Bauwerk leiten, das dem Wassermann gewidmet ist. Und dort finden wir dann die ›Leuchtenden‹, die uns zum Heiligtum der Ursonne führen.« Yeats nickte. »Danach haben wir unser ganzes Leben gesucht.« Tagesanbruch 28 minus 6 Stunden Im Tempel des Wassermanns sickerte Sternenlicht in die Kammer, in der sich Serena an einen Pfosten gefesselt befand. Es war die Strafe dafür, dass sie Oberst Zawas nicht geholfen hatte, seine Atlantiskarte zu deuten. Ihm bei der Suche nach dem Heiligtum der Ursonne zu helfen wäre einem Verrat an Conrad gleichgekommen. Sie ging davon aus, dass Conrad trotz seiner Fehler immer noch ihre größte Hoffnung war, um die Katastrophe zu verhindern. Aber selbst wenn Conrad das Heiligtum als Erster fand, hätte Zawas natürlich immer noch das Zepter. Irgendwie musste sie einen Weg finden, es wieder an sich zu bringen. Draußen hörte sie Stimmen. In der Tür zeichneten sich kurz darauf die dunklen Umrisse dreier Gestalten ab, die den Sternenhimmel verdeckten. Es war Jamil in Begleitung zweier Ägypter. Serena wurde starr vor Schreck, weil er nun ein Tuch mit einem ganzen Sortiment an Messern und Nadeln auf dem Tisch ausrollte. »Schwester Serghetti, Oberst Zawas bedauert es zutiefst, dass er Sie nicht zum Kooperieren bewegen konnte«, sagte er. »Jetzt werde ich mein Glück versuchen.« »Was Sie nicht sagen.« Sie starrte auf die grausamen Werkzeuge. »Übertreiben Sie da nicht ein wenig? Ich habe Zawas schon gesagt, dass ich nicht weiß, wo das Heiligtum ist. Ehrlich. Wenn ich es wüsste, hätte ich es längst gesagt.« »Sie tun ganz schön tapfer, Schwester Serghetti. Ich bin schwer beeindruckt.« Jamil betrachtete seine Utensilien, bei denen es sich in erster Linie um Spritzen, Messer verschiedenster Art und Elektrostäbe handelte. »Ach, ist das schön. Das haben wir alles von eurer Inquisition abgeschaut.« Er nahm eine ellenlange schwarze Stange. Blitzartig wurde sie lebendig. Es war ein Elektroschockstab. »Mein Lieblingsstück«, sagte er und wedelte damit vor ihr herum. An der Spitze sprühten blaue Funken. »Jeder Schlag hat etwa 75.000 Volt. Nach ein paar Stößen sind Sie bewusstlos. Ein paar mehr – und Sie sind tot.« »So weit wollen Sie es kommen lassen, Jamil?« Jamil fluchte und riss ihr den Mund auf. Sie versuchte, sich ihm zu entwinden, aber der Metallstab steckte schon in ihrem Mund. Sie musste würgen, weil Jamil ihn tief hineinschob. »Die Chinesen rammen ihn den Gefangenen in den Rachen und laden ihn erst dann auf«, sagte er, während sie würgte. »Der Stromschlag zischt durch den Körper, und man liegt im eigenen Blut und den eigenen Exkrementen da. Äußerst schmerzvoll!« Sie spürte die heißen Metallspitzen im Hals und stöhnte. Jamil zog den Stab heraus und drückte noch einmal auf den Knopf, sodass sie die blauen Elektroströme aufleuchten sah. »Ich könnte ihn natürlich auch noch woanders hineinrammen.« Serena drückte unwillkürlich die Schenkel zusammen. »Also gut«, sagte Jamil lächelnd und legte den Elektrostab auf den Tisch. »Sie haben offensichtlich verstanden.« Dann nahm er eine Spritze und schlug mit dem Finger kurz an die Nadel. Eine gelbliche Flüssigkeit spritzte heraus. »Dann wollen wir mal.« *** Nach ein paar Stunden kam Serena wieder zu Bewusstsein. Sie starrte auf eine improvisierte Lampe, die Jamil an der Decke befestigt hatte – der Elektrostab schwang an einem Seil und gab bei jedem Aufblitzen ein makabres Zischen von sich. Sie schloss die Augen. Das Gezische schien immer lauter zu werden. Vielleicht war sie auch nur von den Drogen benommen, die man ihr verabreicht hatte. Sie spürte, dass noch jemand in der Kammer war, und öffnete die Augen. Sie sah einen langen Schatten an der Wand. Und blickte zur Tür, konnte aber nicht genau erkennen, wer da hereinkam. »Conrad?« »Schön, dass Sie noch träumen können, Schwester Serghetti.« Es war Zawas. Serena ließ den Kopf wieder hängen, während er zu dem kleinen Tisch ging, auf dem Jamil seine Folterinstrumente ausgebreitet hatte. »Ich habe gehört, dass Sie nicht sonderlich kooperativ waren«, sagte er und prüfte Jamils Spielzeug. »Ich konnte Jamil gerade noch davon abhalten, Ihr Gedächtnis mit seinen chemischen Substanzen für immer auszulöschen. Er ist eine Bestie. Er versaut überall den guten Ruf der Araber. Ehrlich, die meisten von uns sind da ganz anders. Ausnahmen gibt's immer. In Ihrer Kirche gibt es schließlich auch Priester, die sich an Kindern vergehen. Trotzdem geben Sie Ihren Glauben nicht auf. Mir geht es genauso.« Serena schwieg, während er sich im Raum umsah. Der Rucksack auf dem Boden schien seine Aufmerksamkeit zu erregen. Er ging um ihn herum und beobachtete sie dabei. Dann stellte er den Rucksack auf den Tisch und machte den Reißverschluss auf. Er fing an, den Inhalt zu durchwühlen, und begutachtete ihre Sachen – Desinfektionstabletten für Wasser, Flaschen, ein Leuchtsignal und so weiter. Dann kam ihre Thermosflasche an die Reihe. Als er den Verschluss aufdrehte, bekam sie ein beklemmendes Gefühl. Sie betete, dass er die Zeichnung in der Ummantelung nicht entdecken würde. Ihr war klar, dass die Karte genügend Informationen enthielt, um jene unerschöpfliche Energiequelle im Heiligtum der Ursonne zu finden. »Zawas, Sie erinnern mich an den Pharao«, sagte Serena. »Sie wissen schon, den aus der Bibel.« Der Vergleich schien Zawas zu belustigen. Er stellte die Thermosflasche auf den Tisch. »Dann wissen Sie also, dass mich die Götter höchstpersönlich beauftragt haben und Sie mir jetzt antworten müssen.« »Die ägyptischen Götter sind schon einmal besiegt worden. Das kann jederzeit wieder passieren.« »Die Geschichte wird gerade neu geschrieben, Schwester Serghetti. Aber zuerst muss ich das Heiligtum der Ursonne finden. Ich weiß immer noch nicht, wo es sich befindet. Doktor Yeats übrigens auch nicht. Ja, er lebt noch. Ich weiß das, weil ich ein paar meiner Leute vermisse«, sagte er. »Er hat sie getötet, so wie einige andere auch. Immer auf der egoistischen Suche nach den Ursprüngen der menschlichen Zivilisation. Ich kenne diesen Mann nur zu gut. Er schert sich recht wenig um die Folgen seiner Forschungen für die betroffenen Länder, die Völker und die Ausgrabungsstätten selbst. Sie können froh sein, dass ich Sie und das Zepter des Osiris vor ihm bewahrt habe.« Serena schwieg, weil sie Conrad gegen Zawas' Anschuldigungen nicht verteidigen konnte. Er hatte Recht. »Anders als der rücksichtslose Doktor Yeats«, fuhr Zawas fort, »schätze ich die Naturschönheiten und möchte sie erhalten, besonders wenn es sich dabei um die weibliche Schönheit handelt. Ich fände es furchtbar, wenn ein Tier wie Jamil Ihnen etwas antun würde.« Natürlich war das gelogen. »Sie sind also ein einzigartiger Gentleman unter lauter Barbaren.« Er sah sie genau an. »Wir scheinen uns gut zu verstehen, Schwester Serghetti. Die katholische Kirche hat sich ja auch immer schon mit Edelmut und sozialer Barmherzigkeit ummantelt, nur um dann einen Pakt mit dem Teufel zu schließen, wenn es die Situation erforderte.« »Dann sind Sie wahrlich ein Held. Nur leider auf der falschen Seite.« »Genau«, sagte Zawas. »Wie der Pharao während des Exodus. Es war einfach sein Pech, dass der Vulkanausbruch von Thera im Mittelmeer die zehn Plagen ausgelöst hat, die Sie so bereitwillig dem Gott Moses' zuschreiben. Das Rote Meer hatte sich gar nicht aufgetan. Die Israeliten durchquerten das Schilfmeer an einer seichten Stelle in knöchelhohem Wasser. Immerhin so tief, dass die Räder der Wagen des Pharao stecken geblieben sind.« »Dann war es ein noch größeres Wunder, als ich angenommen hatte«, sagte Serena. »Man stelle sich vor: Alle Soldaten und Pferde des Pharao sind in knöchelhohem Wasser ertrunken.« Zawas fand ihr Argument offensichtlich gar nicht lustig. Im hellen Licht sah sie, wie seine Miene streng wurde. »Geschichte wird immer von den Siegern geschrieben. Wie könnte man sonst die jüdisch-christliche Begeisterung für einen angeblich barmherzigen Gott erklären, der die Erstgeborenen der Ägypter einfach so umbringen ließ?« »Er hätte alle Ägypter töten können«, sagte sie und erschrak zugleich über ihre Stimme, die so überzeugt klang. Zawas zeigte sich verstimmt. »Dann war es also die Schuld des Pharao?« Serena versuchte, sich zu konzentrieren. Trotz ihrer Schwäche merkte sie, dass jetzt der entscheidende Augenblick gekommen war, um Zawas zu überzeugen. »Sie wissen genau, dass an bestimmten Punkten in der Geschichte alles auf einem Mann oder einer Frau lastet: Noah und die Arche, der Pharao und die Israeliten. Gott gab dem Pharao die Chance, der größte Befreier zu werden. Aber sein Herz blieb störrisch und überheblich. Jetzt ist die Zeit erneut gekommen. Vielleicht sind Sie der richtige Mann.« »Oder Sie die richtige Frau«, erwiderte Zawas. »Wo ist das Heiligtum der Ursonne?« »Ich weiß es wirklich nicht. Ehrenwort.« »Dann muss ich Sie jetzt Jamil überlassen. Ich habe keine andere Möglichkeit mehr. Ich wasche meine Hände in Unschuld.« »Sprach Pontius Pilatus.« »Und ich dachte schon, ich soll ein Pharao sein.« Er schüttelte den Kopf und warf die Arme hoch. »Wollen Sie mich etwa mit den Schurken der Bibel vergleichen? Haben Sie jemals die Möglichkeit bedacht, dass jene Führer die wahren Helden der Menschheitsgeschichte sind und Ihre Heiligen alles nur verändert oder sogar frei erfunden haben?« Er wollte sich gerade umdrehen und gehen, als sein Blick wieder auf die Thermosflasche fiel. »Warum laufen Sie eigentlich immer noch mit solchen altmodischen Thermosflaschen herum?« Serena tat so, als ob sie nichts gehört hätte. Aber Zawas drehte schon an der Ummantelung. Er roch den Kaffee und verzog das Gesicht. »Ich persönlich trinke lieber Tee.« Er schüttete den Kaffee auf den Steinboden und wollte dann alles wieder zuschrauben. Dabei fiel die Zeichnung heraus. Serena hielt die Luft an. Zawas hob sie auf und musste laut lachen. Er zeigte ihr die Zeichnung. »Wissen Sie, was da dargestellt wird?« Geschlagen ließ sie die Schultern hängen. »Das Zepter des Osiris.« »Nein«, erwiderte er. »Das ist die Zeichnung vom Heiligtum der Ursonne.« Sie starrte ihn an. In ihrem Kopf drehte sich alles. »Tja«, sagte Zawas, »jetzt habe ich drei Dinge, auf die Doktor Yeats scharf ist. Und wenn er mich nicht zum Heiligtum der Ursonne führt, dann werden Sie es tun. Ich werde Jamil sagen, dass er noch eine Menge Arbeit vor sich hat.« Tagesanbruch 29 minus 2 Stunden Skorpion. Schütze. Steinbock. Stundenlang führte Conrad sie durch die dunkle Stadt. Er folgte den Himmelskoordinaten zu ihren irdischen Gegenstücken und dann weiter von einem astronomisch ausgerichteten Bauwerk zum anderen. Jeder Tempel oder auch nur Grenzstein für sich genommen war schon den archäologischen Preis des Jahrhunderts wert, aber der Zeitdruck, das Brummen der Hubschrauber und die Suchscheinwerfer ließen sie schnell weitergehen. Schließlich endete die von den Sternen vorgegebene Schatzsuche bei der irdischen Entsprechung des Sternzeichens Wassermann, einem großartigen, dem Wassermann gewidmeten Tempel. Der Tempel in Form einer Sphinx zeichnete sich gegen den Himmel wie ein Schädel ab. Die silbernen Wasserfälle leuchteten im Mondschein. Dahinter ragte die dunkle Spitze der P4 empor. »Wir sind da«, sagte Conrad und reichte Yeats das Nachtsichtglas. Sie duckten sich an den Rand des größten Wasserwegs der Stadt, der direkt aus dem Bauwerk floss. »Der Tempel des Wassermanns.« Yeats sah durch das Fernglas. »Das ist noch lange nicht alles. Schau dir das einmal an.« Conrad richtete das Fernglas auf den Tempel des Wassermanns und sah unten und auf dem Vorsprung plötzlich Licht. »Zawas?« »Sieht so aus, als hätte er dort ein Basislager errichtet.« Conrad ließ das Nachtsichtglas sinken. »Wie haben die das bloß herausbekommen?« Yeats zuckte die Achseln. »Vielleicht hilft ihnen ja Mutter Erde.« »Oder sie haben eine Karte.« »Kaum«, sagte Yeats. »Du hast selbst gesagt, dass die Sterne die Karte sind.« Er überlegte. »Bist du dir ganz sicher, dass wir da rein müssen? Wir sind beide geliefert, wenn Zawas uns entdeckt.« Conrad nickte. »Nur wenn man zur richtigen Zeit am richtigen Ort steht, werden die ›Leuchtenden‹ den Standort des Heiligtums der Ursonne preisgeben.« Yeats kniff die Augen zusammen. »Und wo genau sollen wir die ›Leuchtenden‹ befragen?« Conrad rückte nur zögernd mit der schlechten Nachricht heraus. »Zwischen den Wasserfällen des Tempels des Wassermanns. Mitten in Zawas' Basislager.« »Und dann noch zur richtigen Zeit, ich weiß.« Yeats sah auf die leuchtende Digitalanzeige seiner Armbanduhr. »Schon vier Uhr. Die Sonne geht gleich auf, und es wird hell. Uns bleibt nicht mehr viel Zeit.« Die nächste halbe Stunde verbrachte Conrad damit, den Tempel von weitem zu beobachten, während Yeats eine Planskizze anfertigte. »Der Vorsprung an der Ostwand ist ungefähr fünfzig Meter hoch«, erklärte Yeats. »Auf beiden Seiten führen zwei schmale Treppen nach unten. Ich glaube nicht, dass Zawas mehr als einen Wachposten pro Treppe abgestellt hat. Immerhin braucht er möglichst viele Leute, um das Heiligtum der Ursonne zu suchen.« Mit dem Nachtsichtglas verfolgte Conrad die Ostwand und die Wasserfälle bis zum Boden. Plötzlich konnte er die Wachposten am nördlichen Ende der Ostwand ganz deutlich sehen. Unten bei den Wasserfällen lag ein Schlauchboot. »Ich kann die Wachposten sehen«, sagte er. »Sie haben auch ein Schlauchboot.« »Nur eins?« »Wahrscheinlich suchen sie uns mit den anderen.« »Lass mich mal sehen.« Yeats nahm das Fernglas. »Zawas wechselt die Wachleute alle drei Stunden aus. Zumindest hat er das bei seinen Friedenseinsätzen für die Vereinten Nationen so gemacht. Und so schlapp wie die aussehen, ist ihre Schicht gleich vorbei.« Yeats gab Conrad das Fernglas zurück. »Wir brauchen sie also nur ein paar Minuten früher abzulösen. Dann gebe ich dir Deckung, und wir teilen uns auf.« »Und wie soll das gehen?« Mit einem alten Feuerzeug leuchtete Yeats auf die Skizze, die er im Dunkeln angefertigt hatte. »Du hältst nach den so genannten ›Leuchtenden‹ Ausschau, die uns zum Heiligtum der Ursonne führen«, sagte Yeats und zeigte mit dem Finger auf die Linie zum Vorsprung. »Ich gehe zum Gipfel, wo Zawas' Hubschrauber stehen, und sichere uns einen für den Rückzug. Du hast genau sechs Minuten, um vom Vorsprung zum Gipfel zu kommen, und dann fliegen wir los.« »Einfach so?« »Einfach so«, sagte Yeats. »Ich setze zuvor noch die anderen Hubschrauber außer Gefecht, damit Zawas uns nicht verfolgen kann. Wir brauchen einen Vorsprung, um als Erste zum Heiligtum zu kommen.« Conrad starrte auf das Feuerzeug, mit dem Yeats die Skizze beleuchtete. Ein altes Zippo mit einem NASA-Emblem und einer Widmung für Yeats von Captain Rick Conrad, der zu Yeats' Mannschaft gehört hatte und 1969 in der Antarktis umgekommen war. Und der angeblich Conrads leiblicher Vater war. Damals rauchten Astronauten noch. Conrad hatte sich oft in das Büro seines Pflegevaters geschlichen und mit dem Feuerzeug gespielt. Einmal hatte er dabei fast das Haus abgefackelt. Er hatte immer gehofft, Yeats würde endlich mal kapieren, wie sehnsüchtig er etwas von seinem Vater besitzen wollte, und ihm das Ding schenken. Das hatte er aber nie getan. »Ich dachte, du hast das Rauchen aufgegeben.« »Ich gebe nie etwas auf, mein Sohn.« Yeats machte die Flamme aus und gab Conrad das Feuerzeug. Überrascht hielt Conrad das vertraute Zippo in der Hand und machte es an und aus. »Und was ist mit Serena?«, fragte er. »Und mit dem Obelisken?« »Wenn Zawas einen von beiden vermisst, bevor du weißt, wo sich das Heiligtum der Ursonne befindet, wird er hinter uns her sein, und unsere Mission ist beendet«, sagte Yeats. »Aber wenn wir ohne die Schwester oder den Obelisken abheben, wird er denken, dass wir aufgeben. Bis er merkt, was wir vorhaben, sind wir schon im Heiligtum der Ursonne, nehmen uns, was wir brauchen, und stellen ihm eine Falle. Dann wird Zawas uns sowohl Serena als auch den Obelisken bringen.« »Wenn er sie nicht vorher umbringt.« »Hör mir doch einmal zu«, sagte Yeats ärgerlich. »Sie ist diejenige, die ihn zu uns führt. Glaub mir, Zawas ist auf sie angewiesen. Er wird sie erst umbringen, wenn er sie nicht mehr braucht.« »Wirklich beruhigend.« Conrad wollte seinem Vater das Feuerzeug zurückgeben, aber zu seinem Erstaunen lehnte dieser ab. »Auf geht's!« *** Oben war Licht, und von überall her kam das Tosen der Wasserfälle. Als sie um die letzte Ecke bogen, konnte Conrad die schwarze Silhouette eines Wachposten erkennen, der bei der Treppe stand. Hinter ihm schaukelte das Schlauchboot im Wasser. Der Ägypter rauchte gerade. Conrad wollte einen Schritt nach vorn machen, da kratzte seine Stiefelsohle über den Steinboden. Der Wachposten wirbelte herum. »Jasir?« Conrad nickte und tippte auf die Uhr. Der Mann meckerte auf Arabisch, drehte sich um und ging. Conrad beobachtete, wie der Mann die Stufen hinaufstieg, und sah sich schnell um. In wenigen Minuten würde der Wachposten den echten Jasir treffen. Zufrieden stellte er fest, dass niemand in Sicht war, und stieg die Steinstufen zum Vorsprung hoch. Die Stufen waren schmal und glitschig, aber er war schnell oben. Als er auf den Vorsprung trat, sah er eine Gestalt auf sich zukommen. »Dad, bist du es?«, flüsterte er in sein Funkgerät. »Ich vollführe mit dem Arm einen Kreis«, sagte Yeats. Conrad konnte ihn wegen des Rauschens des Wassers kaum hören. Aber er sah, wie die Gestalt auf der anderen Seite den Arm bewegte. »Okay«, sagte er. »An die Arbeit«, sagte Yeats. »Vergiss nicht: Egal, was passiert, du hältst dich an unseren Plan und an die Verabredung in sechs Minuten.« Dann verschwand er im Dunkeln. Conrad ging an den Rand der Plattform zwischen den Kaskaden und nahm dort eine günstige Stellung ein. Der Boden unter ihm bebte von dem gewaltigen Donnern der Wasserfälle, und er hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Er blickte um sich und fand sofort, was er suchte. In der frühen Dämmerung der Frühjahrs-Tagundnachtgleiche zog im Osten das Sternbild Wassermann auf. Es war perfekt auf das Bauwerk, auf dem er stand, ausgerichtet. Der Wassermann auf der Erde starrte den Wassermann im Himmel an. Und die aufgehende Sonne – die Leuchtende – zeigte die richtige Stelle. Sofort zog er das elektronische Vermessungsgerät heraus, das Yeats ihm eingepackt hatte, und fing mit seinen Berechnungen an. Wenn sie stimmten, lag das Heiligtum der Ursonne 90 Grad südlich. Das hieß, es befand sich direkt unter dem Fluss in etwa 300 Meter Tiefe. Er schwenkte mit seiner Digitalkamera über den Horizont, um den Punkt zu markieren. Conrad blickte wieder zu den Gestirnen. Die erste Morgenröte schimmerte. Bald würde der Wassermann aufgegangen sein; ein Wassermann am Firmament mit seinem Gefäß am Horizont. Gleichzeitig läge die Sonne – und zwar genau auf dem Frühlingspunkt – irgendwo unter dem letzten Stern, der aus dem Gefäß floss. Conrad blickte auf seine Uhr. Fast fünf Uhr; er musste sich beeilen. Als er sich umdrehte, sah er einen Ägypter aus dem Tempel herauskommen und auf ihn zugehen. »Jasir, warum bist du nicht auf deinem Posten?«, brüllte Jamil. »Und warum bist du nicht auf deinem?«, erwiderte Conrad barsch in passablem Arabisch. Sein Arabisch war ein Mischmasch aus allen möglichen Wörtern, die er im Laufe der Jahre aufgeschnappt hatte. Jamil schien sich zu beruhigen. »Ich mache gerade Pause«, sagte er. Zumindest verstand Conrad es so. »Diese Nonnen sind nicht kleinzukriegen. Als wären sie zum Martyrium geboren. Bei der muss ich aufpassen, wo ich sie verletze. Damit ich mich noch an sie ranmachen kann, wenn sie tot ist.« Conrad bemerkte etwas in Jamils Hand. Ein Büschel Haare. Serenas Haare. Am liebsten hätte Conrad ihn auf der Stelle umgebracht und Serena gerettet. Aber ihm war klar, dass Jamil nicht sein Gesicht sehen durfte. Deshalb lachte er einfach über Jamils widerlichen Witz, drehte sich um und blickte über die Wasserfälle. Er merkte, dass jemand ihm einen Gewehrlauf in den Rücken drückte. »Sie haben also das Heiligtum gefunden, Doktor Yeats?« Er drehte sich um und blickte in Jamils glühende Augen. Jamil grinste triumphierend. »Jetzt brauchen wir die Nonne ja nicht mehr«, sagte Jamil. »Also, wo ist es?« »Da drüben.« Conrad ging scheinbar auf die Frage ein. »Sehen Sie den Wassermann?« Er deutete mit der linken Hand, und Jamil folgte ihr automatisch. Sofort stieß Conrad dem Ägypter mit der Rechten das Messer, das er dem Russen in der P4 abgenommen und im Ärmel bereitgehalten hatte, ins Genick. Die Klinge hinterließ eine dünne Blutspur. Jamil wollte schreien, brachte aber nur noch ein Gurgeln heraus, bevor er nach hinten über den Rand taumelte und in der Dunkelheit verschwand. Conrad beobachtete, wie Jamil zweimal von der Wand abprallte und dann in den Fluss stürzte. Conrad machte sich auf den Weg zur oberen Plattform beziehungsweise zum Landeplatz, wo er Yeats treffen sollte. Auf einmal kam ein weiterer Ägypter aus dem Tempel und ging auf ihn zu. Conrad erstarrte. Er erkannte Oberst Zawas am Gang. Ihm war klar, dass es diesmal kein Entrinnen gab. Tagesanbruch 30 minus 1 Stunde Ein paar Minuten nach fünf trat Zawas aus der Kammer, um draußen zu rauchen und sich die Zeichnung vom Heiligtum der Ursonne, die er Serena weggenommen hatte, noch einmal in Ruhe anzuschauen. Jetzt, da er wusste, wonach er suchen musste, ging es nur noch darum, wo er suchen sollte. Unter dem Sternenhimmel nuckelte er an der noch nicht angezündeten Havanna und stellte fest, dass es allmählich hell wurde. Bald würde die Sonne aufgehen, und die Chance, das Heiligtum der Ursonne zu finden, wäre vertan. Auf einmal sah er einen seiner Wachleute – wahrscheinlich Jasir – am Wasserfall stehen. Als er im dämmerigen Licht auf ihn zuging, nahm Jasir eine angespannte Haltung ein. »Stehen Sie bequem, Leutnant«, sagte Zawas, worauf sich Jasir rührte. »So einen Sonnenaufgang gibt's nicht alle Tage, was?« Jasir murmelte etwas Zustimmendes. Zawas stellte fest, dass bei fast allen seinen Leuten Anzeichen von Erschöpfung und Stress zu beobachten waren. Er seufzte und klopfte seine Hosentaschen nach Streichhölzern ab, da streckte Jasir ihm ein altmodisches Zippo-Feuerzeug hin. Zawas hielt die Zigarrenspitze in die Flamme und inhalierte. Welch ein Genuss! »Bleiben Sie auf dem Posten«, sagte Zawas und ging zur Kommandozentrale zurück. Auf halbem Weg kam ihm an der handgerollten Zigarre irgendetwas bekannt vor. Nein, nicht die Zigarre, sondern das silberne Zippo-Feuerzeug weckte eine Erinnerung in ihm. Genau so eines hatte sein Großvater ihm einmal gegeben. Allerdings wunderte es ihn, dass Jasir oder sonst jemand seiner Leute solch ein vorsintflutliches Modell besitzen sollte. Er wollte Jasir fragen, wo er es herhatte. Als Zawas sich umdrehte, war Jasir jedoch nicht mehr auf seinem Posten. Der Oberst fluchte leise und ging auf den Vorsprung zurück. Er blickte über den Rand die Wasserfälle hinab, konnte aber nichts erkennen. Als ob Jasir sich in Luft aufgelöst hatte. War er womöglich hinuntergestürzt? So blöd konnte Jasir doch nicht sein. Zawas zog sein Funkgerät aus dem Gürtel. »Jamil!«, brüllte er hinein. »Trommle deine Leute zusammen. Conrad Yeats ist hier aufgetaucht!« Aber Jamil antwortete nicht. »Jamil«, rief Zawas noch einmal, da hörte er auf einmal, wie hinter ihm etwas explodierte. Es regnete Steinbrocken, und Zawas sah, wie es oben auf der Stufenpyramide grell aufleuchtete. Plötzlich kam der brennende Rumpf eines Eurocopters die Ostfassade herabgestürzt. Stahl schrammte mit ohrenbetäubendem Krach gegen den Stein. Der Hubschrauber kam auf der Plattform auf und explodierte in einem Feuerball. Zawas duckte sich. »Das Zepter!«, fluchte er. Er rannte in die Kammer, wo der Obelisk bewacht wurde. Die zwei Wachposten lagen jedoch tot auf dem Boden. Das Zepter war verschwunden. *** Conrad stürzte mit einer derartigen Wucht in das Wasser unten am Tempel des Wassermanns, dass er glaubte, seine letzte Stunde hätte geschlagen. Kurz darauf kam er wieder an die Oberfläche, rang nach Luft und stellte fest, dass sein Aufprall dank dem tosenden Wasserfall von den Wachposten unbemerkt geblieben war. Er schwamm im Dunkeln zum Schlauchboot hinüber, machte es los, kletterte an Bord und startete den Motor. Bis die Wachen merkten, was passiert war und zu schießen anfingen, war er schon hundert Meter entfernt und raste den Kanal entlang. Er blickte über die Schulter und sah die Explosionen oben auf dem Tempel des Wassermanns. Er sah auch den großen Schatten, der schnell auf ihn herunterkam – einer von Zawas' Hubschraubern. Ohne Licht flog er praktisch im Tiefflug über ihm und verdeckte die Sterne. Conrad warf den höchsten Gang ein, konnte ihn aber nicht abschütteln. Der Hubschrauber flog über ihn hinweg und landete ein paar hundert Meter weiter auf der Randbefestigung des Kanals. Als Conrad näher kam, sah er, wie ihn jemand zu sich winkte. Es war Yeats. In der Hand hielt er das Zepter des Osiris. »Wie hast du mich gefunden?«, fragte Conrad, als er am Ufer anhielt. »Bin den Schüssen gefolgt.« Yeats stieg in das Schlauchboot. »Weißt du inzwischen, wo sich das Heiligtum befindet?« Conrad sah auf den Helikopter und schüttelte den Kopf. »Wie konntest du damit unentdeckt entkommen?« »Ich musste ein Ablenkungsmanöver veranstalten und gleichzeitig Zawas einen Wink geben.« Conrad verspürte das stechende Gefühl des Betrogenseins, das er aus seiner Kindheit kannte. »Du hast das Zepter genommen, aber Serena zurückgelassen?« »Ich hatte kaum eine andere Wahl, nachdem ich dich mit Jamil gesehen habe, mein Sohn«, antwortete Yeats in nüchterner, knapper Militärsprache. »Mir war klar, dass unser Plan gescheitert ist. Deshalb habe ich genommen, was ich kriegen konnte – und dann nichts wie weg. Noch mal: Hast du nun das Heiligtum gefunden oder nicht? Zawas hat die Schnauze gestrichen voll und ist hinter uns her.« Conrad strich sich eine nasse Haarsträhne aus der Stirn. »Ja, ich habe es gefunden. Es liegt direkt vor uns.« »Braver Junge.« Yeats nickte anerkennend. »Also, los geht's.« Sie folgten dem Wasserweg in einen Tunnel. Conrads GPS-Anzeige führte sie durch einen dunklen schmalen Gang, der vom unterirdischen Kanal abzweigte. Am Ende befand sich eine Art Steingitter. »Das ist die Tür zum Heiligtum der Ursonne. Da unten ist es. Ungefähr dreihundert Meter tief.« Sie ließen das Schlauchboot als Köder den Tunnel hinuntertreiben. Conrad sah, wie das Boot in der Dunkelheit verschwand, und blickte auf seine Uhr. Die Zeit drängte. Es war gleich Viertel nach fünf. Über der Stadt waren bereits die ersten Anzeichen des Tagesanbruchs zu sehen. Sie gruben das Steingitter aus und legten eine Einstiegsöffnung in der Größe eines Kanalschachts frei. Sofort ließen sie sich in das Labyrinth unterirdischer Gänge hinunter, das immer tiefer in die Erde führte. Nach einer halben Stunde erreichten sie einen langen dunklen Tunnel, an dessen Ende blaues Licht zu sehen war. »Wir sind da«, sagte Conrad. Yeats zog seine Taschenlampe heraus. Der Lichtstrahl enthüllte eine Tür. Sobald sie unter dem blauen Licht durchgegangen waren, schob sich die Tür auf, und sie konnten in eine dunkle Höhle treten. Dieser Raum war der größte, der ihnen bislang untergekommen war. »Ich zünde eine Leuchtbombe«, sagte Yeats. »Sie explodiert in dreißig Sekunden.« Conrad bedeckte seine Augen, als Yeats die kleine Leuchtbombe in die Kammer warf. Er zählte bis auf zwei Sekunden runter, da wurde auch schon alles in ein grelles Licht getaucht. Den Bruchteil einer Sekunde lang sah er das Unglaubliche: einen in die Höhe ragenden Obelisken. Er sah ähnlich aus wie der in der P4, nur dass er von einem unglaublich großen Zylinder umgeben war und bestimmt 170 Meter in die Höhe ragte. Der Sockel bestand aus einem riesigen Rundbau, in dem der Eingang sein musste. Die abgestuften Schrägen des Zylinders ragten nach oben, bis sie in eine gewölbeartige Decke übergingen. Bevor das Licht erlosch, konnte Conrad noch feststellen, dass sie sich auf halber Höhe befanden. »Unglaublich!« Das laute Echo seiner Stimme hallte zurück. Sie gingen die Stufen hinab, die entlang dem Zylinder spiralenförmig nach unten führten. Sie standen jetzt am unteren Ende des riesigen Obelisken und schauten hoch. Er konnte nur etwa zehn Meter weit sehen. Allerdings blinkten um den Zylinder herum rote Leuchtpunkte – die Fernauslöser für die Sprengstoffplatten, die Yeats unterwegs angebracht hatte. »Was machst du da?« »Ich stelle Zawas eine Falle.« »Vergiss nicht, dass er Serena in seiner Gewalt hat.« »Keine Angst, da sind keine Zeitzünder dran. Ich zünde alles auf Knopfdruck.« Das Ganze beruhigte Conrad nicht im Mindesten. Er war jedoch so im Bann seiner Entdeckung, dass er es nicht auf einen Streit ankommen lassen wollte, bei dem er ohnehin den Kürzeren ziehen würde. Er folgte Yeats also wortlos durch den Rundbau zu einem Durchgang am unteren Ende des Obelisken. Conrad fragte sich, ob das wohl der tatsächliche Eingang war. Dann bemerkte er neben der Tür ein quadratisches Feld, das ungefähr so groß wie der Sockel des Osiris-Zepters war. »Zum Öffnen brauchen wir wahrscheinlich das Zepter.« »Hier, mein Sohn.« Yeats reichte ihm den kleinen Obelisken. Conrad steckte das Zepter in das Quadrat und spürte gleich darauf ein leichtes Vibrieren. Die Tür ging auf, und sie traten in den riesigen Obelisken hinein. *** Zawas knirschte mit den Zähnen, als er die Trümmerhaufen draußen in Augenschein nahm. Er verfluchte Conrad Yeats. Er hatte noch nie das Gesicht dieses Mannes gesehen, aber dennoch war es ihm offensichtlich gelungen, das Zepter des Osiris direkt vor seiner Nase zu stehlen. Zawas schüttelte den Kopf und sah den Wasserfall hinunter auf das ausgebrannte Wrack des Hubschraubers. Er lag zertrümmert unten im Becken, wurde vom Wasser weitergetrieben und zerfiel dabei langsam in seine Bestandteile. Jetzt, da ihm dieser Hubschrauber nicht mehr zur Verfügung stand, blieb ihm nur noch einer übrig. Mit den Augen folgte er einem Teil der Windschutzscheibe, der den Kanal hinunter zum Horizont floss, wo die ersten Sonnenstrahlen des anbrechenden Tages hervorkamen. Die Sterne erloschen allmählich. Etwas an der Anordnung der Sterne erregte seine Aufmerksamkeit. Er machte einen Satz rückwärts und starrte geradewegs auf das Sternbild des Wassermanns. Plötzlich erklärte sich die Skizze wie von selbst. Er lief in das Quartier zurück und sah sich die Sonchis-Karte noch einmal an. Er betrachtete den Tempel des Wassermanns, also das Gebäude, auf dem er sich gerade befand. Dann blickte er auf die Schlüsselsymbole am Rand – die Sternbilder Wassermann, Steinbock und Schütze. Ihm brach der Schweiß aus. Mit zittrigen Händen nahm er die Sonchis-Karte und betrachtete sie, als sähe er sie zum ersten Mal. Dann eilte er in den Raum, wo sich Serena befand, und band sie los. »Ist irgendetwas schief gelaufen, Oberst Zawas?« »Ganz im Gegenteil, Schwester Serghetti«, sagte er und schob sie auf den Vorsprung hinaus. Anscheinend glaubte sie einen Augenblick lang, er würde sie hinunterstoßen, weil sie sich mit aller Kraft sperrte, als er sie auf den Abgrund zuschob. Schließlich forderte er sie aber lediglich auf, mit dem Blick dem Kanal bis zum Horizont zu folgen, wo der neue Morgen schon schimmerte. Sie entspannte sich. Beide standen sie staunend vor dem Sternbild des Wassermanns. »Ich habe das Heiligtum der Ursonne gefunden«, teilte er ihr mit. »Und damit auch Conrad Yeats.« Teil Vier Der Jüngste Tag Tagesanbruch 31 minus 45 Minuten Im dunklen Inneren des Obelisken standen Yeats und Conrad auf einer runden Plattform, die einen Durchmesser von ungefähr anderthalb Metern hatte. Conrad hörte ein leises Summen und spürte einen feuchten, öligen Luftzug auf seinen Wangen. Er knipste seine Halogentaschenlampe an. Der Lichtstrahl schoss etwa 15 Meter weit, bis er auf eine emporragende Säule traf und in Sekundenschnelle an drei anderen glänzenden Säulen, die die große umgaben, abprallte. Das grelle Licht blendete immer stärker. Conrad schloss die Augen. »Mach das Licht aus!«, rief Yeats. Seine Stimme hallte in der Dunkelheit wider. Conrad knipste mit zugekniffenen Augen die Halogenlampe aus. Kurz darauf blinzelte er, sah aber immer noch das blendende Nachleuchten. »Diese Lichtsäulen«, sagte Yeats und rieb sich die Augen, »was ist das?« »Sie haben selbst keine Lichtquelle. Sie reflektieren und vervielfältigen nur das auftreffende Licht. Pass mal auf.« Conrad holte das Zippo-Feuerzeug aus seiner Hosentasche. »Es hat eine ganz niedrige Wattleistung. Bist du bereit?« »Um geblendet zu werden?« »So schlimm wird's diesmal nicht. Immer mit der Ruhe. Schütz deine Augen«, sagte Conrad. Er setzte selbst seine Sonnenbrille auf und wartete, bis Yeats es ihm gleichgetan hatte. Dann zündete er das Feuerzeug. Die Wirkung ließ sich mit einer einzigen Kerze in einer hohen gotischen Kathedrale vergleichen. Im Dämmerlicht waren sie von vier leuchtenden, durchsichtigen Säulen umgeben, jede etwa sieben Meter im Durchmesser, die siebzig Meter in die Dunkelheit ragten und genauso weit in den Abgrund führten. »Das ist also dein so genanntes Heiligtum der Ursonne«, sagte Yeats und starrte nach oben. Conrad sah sich um und kam sich sehr klein vor. Ein Nebelschleier haftete an den leuchtenden Säulen, die oben an der höchsten Stelle zu einem Schornstein zusammenzulaufen schienen. Es roch eindeutig nach Öl. Conrad blickte nach unten und fragte sich, wie tief das Heiligtum der Ursonne wohl in die Erde hinunterging und wie weit sie noch gehen mussten, um das Geheimnis der Urzeit zu erkunden. Ehrfurchtsvoll nahm er das alles in sich auf, war sich aber gleichzeitig bewusst, dass die Zeit ziemlich knapp wurde. »Schau dir das mal an.« Yeats hielt sein Ersatzfeuerzeug ganz dicht an die glatte, glänzende Säule. Die spiegelnde Oberfläche schien die Helligkeit nicht nur um ein Hundertfaches zu vervielfältigen, sondern sie schien auch zu beben. »Ich wette, diese Oberfläche hat mehr als hundert Prozent Spiegelungskraft.« »Und das heißt?« »Mit Aluminium kann man es auf maximal achtundachtzig Prozent bringen.« »Die Säulen sind aber nicht aus Aluminium.« »Stimmt.« Yeats streifte mit der Hand über die Oberfläche. »Die sind aus etwas noch Leichterem.« »Noch leichter?« Conrad berührte die Säule. Sie war mit etwas Glitschigem, fast Flüssigem überzogen. Und doch merkte er, dass sie eine wenn auch undefinierbare Struktur hatte. »Sie fühlt sich so weich wie eine Spinnwebe an und gleichzeitig so hart wie Stahl. Wie federleichte Seide.« »Weil es sich tatsächlich um ein perforiertes Gewebe handelt. Mit Löchern, die kleiner sind als die Wellenlänge des Lichts.« Yeats klang merklich erregt. »Ich würde sagen mit einem Durchmesser um einen Mikrometer. Und jetzt? Gehen wir rauf oder runter?« Gewebe. Conrad merkte, dass er genau dieses Wort gesucht hatte. Überraschend war nur, dass es ausgerechnet von Yeats kam. Aber er hatte Recht. Diese Säulen waren wie riesige Stoffrollen eines dünnen, leichten und spiegelnden Gewebes, so glänzend, dass man sie für das eigentliche Licht halten konnte, obwohl sie es nur reflektierten. »Rauf oder runter, mein Sohn?«, fragte Yeats noch einmal. »Rauf«, antwortete Conrad und war über sich selbst erstaunt. In Wirklichkeit hatte er nämlich keine Ahnung. In den alten Texten über die ägyptischen Pyramiden oder in den Überlieferungen der mittel- und südamerikanischen Kultur war er nie auf Vergleichbares gestoßen. Und er konnte sich auch auf keine Kindheitserinnerungen oder Albträume besinnen. Soweit er das beurteilen konnte, bestand die alleinige Bedeutung des hiesigen Obelisken darin, die lebensgroße Ausführung des Obelisken aus der P4 zu sein. Irgendwo in diesem Obelisken war der so genannte Thron des Osiris, der letzte Ruheplatz für das Zepter und für das Geheimnis der Urzeit. Die Frage war bloß, ob er das alles erkennen würde, wenn er es sah, und ob er wissen würde, was er dann zu tun hatte. »Es geht nach oben.« Tatsächlich. Die Plattform bewegte sich auf einmal wie ein Aufzug nach oben und trug sie zwischen den Lichtsäulen hindurch hoch. »Festhalten«, sagte er angespannt, aber entschlossen. In seinem ganzen Leben war er noch nie so aufgeregt gewesen. Sie mussten nach Conrads Schätzung an zahlreichen Stockwerken vorbeigekommen sein, als er über sich ein winziges Licht sah. Kurz darauf tauchten sie in eine kühle Kammer ein. Plötzlich blieb die Plattform stehen und Yeats fiel auf den Rand der Plattform zu. Conrad packte seinen Vater am Arm und umklammerte ihn ganz fest. »Da wären wir«, sagte er. Conrad versuchte sich zu orientieren. Verglichen mit den hohen Räumen unten, kam man sich hier richtig beengt vor. Es gab kein Echo mehr, und die Luft fühlte sich kühler an. Conrad nahm die Sonnenbrille ab und knipste die Halogenlampe an. Diesmal blendete nichts. Das Licht erhellte die Wand gegenüber. Ein genauerer Blick ergab, dass sich links und rechts jeweils ein Korridor befand. Conrad ging in den rechten. »Hier entlang.« Die Ungeduld, die ihn antrieb, war deutlich spürbar. »Woher weißt du das so genau?« »Du hast doch behauptet, dass ich Atlanter bin. Schon vergessen?« Eine Weile lang ging Conrad mit Yeats wortlos durch den dunklen Gang. An einem Ende befand sich eine zwei Meter hohe Tür, die zu einer Krypta zu führen schien. Daneben war ein quadratisches Feld, das dem unten am Eingang ähnelte. Conrad ließ das Licht auf die Tür fallen. In die metallene Oberfläche waren ungewöhnliche Inschriften graviert, die sich seinem Verständnis zunächst ganz entzogen. Erst als er mit der Hand darüber strich, wurde ihm die Bedeutung klar. »Es ist ein Sternbild«, sagte er, ohne jeglichen Zweifel daran aufkommen zu lassen. Yeats nickte. »Der Stern hier ist der Sirius.« »Die Göttin Isis in ihrer astralen Form.« Voller Ehrfurcht legte Conrad die Hand auf die kalte Metalltür. Ihm wurde eng in der Brust, und sein Herz schlug heftiger. Er bekam nur noch ein Flüstern zustande: »Wir haben die Krypta der Königin gefunden.« »Eigentlich hätte ich die des Königs erwartet.« Yeats klang ganz geschäftsmäßig. »Wetten, dass wir Osiris im Gang gegenüber finden?« Und damit auch den Thron des Osiris und das Geheimnis der Urzeit, dachte Conrad gerade, als er einen roten Punkt auf seiner Hand entdeckte. Blitzartig drehte er sich um. Yeats hielt seine Kalaschnikow mit eingeschaltetem Ziellaser auf die Tür gerichtet. Conrad sprang zurück. »Verdammt noch mal, was machst du da?« »Du wirst jetzt die Tür aufmachen, und wir schauen nach, ob die Lady da noch drin ist.« Mit pochendem Herzen legte Conrad die Hand auf das quadratische Feld und spürte sogleich einen Energiestoß. Er zog die Hand zurück, und die Tür glitt auf. Kühle Nebelschwaden wichen aus der Kammer. »Du hast nicht mal den Obelisken gebraucht«, sagte Yeats fast ehrfurchtsvoll. »Vielleicht erkennt das System einen, wenn man ihn schon einmal benutzt hat«, sagte Conrad. »Oder deine Kennung war bereits vorher schon gespeichert.« Durch den Nebelschwall traten sie in die kleine Kammer. Der rote Laserstrahl fuhr kreuz und quer durch die Zelle und blieb auf einer Art Aushöhlung ruhen. Sie war für einen Menschen unter zwei Meter Größe geschaffen. Der Form nach zu schließen, musste es sich um eine Frau handeln. Sie hatte zwei Arme, zwei Beine, zehn Finger, zehn Zehen und weiche Rundungen. »Mama.« Conrad pfiff, als er die Form betrachtete. »Bist du jetzt zufrieden, Yeats? Endlich weißt du, womit du es zu tun hast. Es hat wie wir menschliche Ausmaße. Vielleicht komme nicht nur ich aus Atlantis. Vielleicht kommen wir ja alle von daher.« »Hoffentlich nicht. Es sei denn, du willst, dass uns dasselbe Schicksal trifft. Jetzt lass uns mal nach ›Papa‹ schauen.« Die Tür zur Osiris-Krypta am anderen Ende des Korridors trug das Sternzeichen des Orion. Diesmal zögerte Conrad nicht. Er legte die Hand auf die Tür, und sie tat sich sofort auf. Auch hier entwich feiner kühler Nebel. Yeats kletterte mit seiner Kalaschnikow hinein, und Conrad folgte ihm dicht auf den Fersen. Er richtete die Lampe auf die hintere Wand und hielt den Atem an. »Conrad, sag deinem Daddy guten Tag«, sagte Yeats. Die Krypta hatte die Maße für ein aufrecht stehendes Wesen, das größer als ein Mensch war. Im Inneren befand sich eine eindrucksvolle Rüstung beziehungsweise Panzerung, die dem Wesen, für das sie entworfen worden war, an geheimnisvoller Komplexität sicher nicht nachstand. Ein durchsichtiger Schultergurt war über dem Mittelring verkreuzt und mit einem Sortiment beeindruckender Gerätschaften glanzvoll bestückt: Werkzeuge und möglicherweise Waffen. »Großer Gott«, murmelte Conrad. »Wenn Mutter Erde Recht hat, ist Gott gar nicht so groß«, sagte Yeats. »Der hier misst ungefähr drei Meter.« Conrad zündete das Zippo-Feuerzeug und hielt es dicht an die Rüstung. Was auch immer das Material sein mochte, es war auf jeden Fall feuerfest. Aber die Rüstung bot ihrem Träger nur teilweise Schutz. Bei der Größe benötigte das Geschöpf wahrscheinlich auch nicht mehr. Ein Geschöpf, dachte er. Das soll sein Vater gewesen sein? War er auch ein Geschöpf? Er hatte mit dem Mann neben ihm mehr gemein als mit dem Geschöpf, für das diese Rüstung gemacht war. »Mit diesem Wesen hier bin ich garantiert nicht verwandt«, sagte Conrad zu Yeats. »Das hätte man in meiner DNS-Analyse sonst auch herausgefunden.« »Wenn das stimmt, was Serena sagt, und die Bewohner von Atlantis die so genannten ›Söhne Gottes‹ aus der Schöpfungsgeschichte sind, dann hat dein biologischer Vater ein oder zwei Generationen später gelebt und war da schon mehr oder weniger menschlich.« »Mehr oder weniger menschlich?«, wiederholte Conrad. »Das klingt ja noch …« »Jetzt zeig mir verdammt noch mal endlich den Thron des Osiris. Wir haben nicht mehr viel Zeit.« Conrad nickte. »Er muss hier irgendwo ganz in der Nähe sein. Wenn wir uns aufteilen, finden wir ihn schneller.« »Dann nimm du das hier.« Yeats warf Conrad das Zepter des Osiris zu, und er fing es mit einer Hand auf. Es vibrierte buchstäblich vor Urkraft. »Stell deine Kopfhörer jetzt auf die Notfrequenz ein«, sagte Yeats. »Da wo der kleine blaue Streifen klebt.« »Hab schon verstanden.« Conrad stellte die Frequenz ein. »Test.« »Test.« Sie fuhren mit ihren Erkundungen fort, und Conrad hörte unterdessen Yeats' raue Stimme in seinem rechten Ohr. Aber schon bald war er außer Reichweite. Nachdem Conrad im oberen Teil des Obelisken alles gründlich untersucht hatte und zur Plattform in der Mitte zurückkehrte, war von Yeats nichts zu sehen. Conrad fühlte sich alleine. Er war enttäuscht, dass er nichts entdeckt hatte, und fragte sich, wo Yeats abgeblieben war und ob er wohl etwas herausgefunden hatte. Conrad stand auf der Plattform oben und dachte über das merkwürdige Innere des Obelisken nach. Auch wenn ihm alles fremd erschien, so gab es an diesem Ort doch etwas, das ihm die innere Gewissheit gab, schon einmal hier gewesen zu sein. Zumindest an einem ähnlichen Ort. Eine innere Stimme drängte ihn, an die Decke zu schauen. Irgendetwas ließ ihm keine Ruhe. Er leuchtete mit seiner Taschenlampe hoch und entdeckte etwas, was ihm zuvor entgangen war: ein kleines quadratisches Feld, das genau dem zuvor glich. Da oben musste es noch eine versteckte Kammer geben, sagte er sich aufgeregt. Das Quadrat befand sich zwei Meter über ihm. Mit dem Kontrollhebel gelang es ihm, die Plattform eine halbe Ebene höher fahren zu lassen, ohne dabei an der Decke zerquetscht zu werden. Er legte die Hand auf das quadratische Feld. Plötzlich erschien der äußere Ring einer Art Bodenluke, die sodann aufbrach und die Sicht in eine weitere Kammer mit einem Gewölbe wie in einer Kathedrale freigab – eindeutig die oberste Kammer des Heiligtums. Conrad fuhr mit der Plattform bis ganz auf die höchste Ebene hoch. Mit seiner Lampe leuchtete er die Kammer aus. Ein großer Thron mit Lehne kam zum Vorschein, der waagerecht auf einer Art Altar lag und auf den höchsten Punkt des Gewölbes ausgerichtet war. Heureka – ich habe ihn gefunden, dachte Conrad. Den Thron des Osiris! »Jawohl!«, rief Conrad laut. Aufgeregt fummelte er an seinem Funkgerät herum. »Yeats, ich habe ihn gefunden.« Keine Antwort. Wo zum Teufel war er nur? »Yeats.« Unheimliches, beunruhigendes Schweigen. Er drehte die Lautstärke auf, bis das Rauschen im Ohr schmerzte, hörte aber immer noch nichts. Er schaltete das Gerät wieder aus und fragte sich, was Yeats wohl vorhatte. Hoffentlich war ihm nichts passiert. Er spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. Er konnte jetzt jedenfalls nicht länger auf ihn warten. Langsam drehte er den leeren Thron und sah sich um. Im Lichtschein war sonst nichts in der Kammer zu entdecken. Weder Artefakte noch Zeichnungen, noch irgendein Hinweis darauf, dass dieser Raum schon einmal betreten worden war. Irgendwie kam ihm trotzdem alles bekannt vor. Es war, als wäre er in eine lebendig gewordene Hieroglyphe getreten. Alte ägyptische Osiris-Reliefs stellten den ›Gott der Ewigkeit‹ – häufig mit seiner Atef-Krone – auf dem Thron sitzend dar, wie beispielsweise im Tempel Sethos' I. in Abydos. Conrad musste auch an eine Skulptur der Olmeken vom Ausgrabungsort in La Venta, Mexiko, denken, die einen Menschen in einem mechanischen Sessel darstellte, der dem Thron hier sehr ähnlich war. Und dann der Deckel des Steinsarkophags im ›Tempel der Inschriften‹ in der Mayastadt Palenque in Chiapas, Mexiko. Auch dort gab es eine Darstellung mit einem Mann, der in einer Art Maschine zu sitzen scheint. Ja, hier war er schon einmal gewesen, dachte er, und spürte die Schweißperlen auf seiner Stirn. Seine Hände fühlten sich feucht und aufgedunsen an. Diesmal war es der richtige Stuhl, der echte Thron des Osiris. Genauso echt war der kleine, einem Altar ähnliche Sockel daneben, eindeutig die Halterung für das Zepter des Osiris. Jetzt brauchte er nur noch das Zepter zu ergreifen und sich auf den Thron zu setzen, um das Geheimnis der Urzeit zu erfahren. Conrad ließ eine Hand über die glatte Oberfläche des Throns gleiten. Er hatte die Form einer Eierschale. Conrad drückte darauf und merkte, wie sie seinem Druck nachgab. Er spürte das Verlangen, sich auf den Thron zu setzen, aber beim Gedanken daran, was mit dem Zepter in der P4 passiert war, zögerte er. Diesmal ist es anders, redete ihm sein Verstand ein. Das erste Mal hatte er einen Fehler gemacht. Das wusste er nur zu gut. Jetzt würde er versuchen, diesen Fehler wieder gutzumachen. Er musste es probieren, sonst konnten Milliarden von Menschen umkommen. Ja, sagte er sich, was auch immer seine Schwächen waren, wie unwürdig er auch war, er musste den Thron besteigen, nicht aus Eigennutz, sondern zum Nutzen der Menschheit. Conrad glitt auf den Thron des Osiris, stellte das Zepter in die Halterung und blickte zur pyramidenähnlichen Decke hinauf. Interessant, dachte er. Er kam sich vor wie einer seiner Studenten bei der Exkursion zu den Nazca-Scharrbildern, wo diejenigen Menschen immer auf eine großartige, aber leider nie eintreffende Offenbarung gewartet hatten. »Wirklich, Conrad«, sagte er zu sich selbst, nur um seine Stimme zu hören. »Endlich hast du was Eigenes vollbracht. Du hast dich selbst verwirklicht und dein astrales Selbst gefunden. Du bist der Sonnenkönig.« Er lachte nervös. Wenn Mercedes jetzt bei ihm wäre, würde sie alles aufnehmen. Er konnte sich die TV-Spots ausmalen: »Live vom Heiligtum der Ursonne! Das Geheimnis von Atlantis gelüftet! Werden Sie Zeuge des Weltuntergangs!« So wie die Dinge liefen, würde es sogar auf Letzteres hinauslaufen. Auf dem Thron des Osiris wurde Conrad plötzlich von einer tiefen Niedergeschlagenheit erfasst. War er so weit gereist und würde die Menschheit so viel ertragen müssen, nur damit er herausfand, dass alles nur ein kosmischer Streich war? Was wäre, wenn hinter dem Geheimnis der Urzeit gar kein Geheimnis steckte? Nein, beschloss er. Es hatte zu viel Mühe gekostet, all das zu bauen. Und außerdem musste es eindeutig weitere astronomische Zusammenhänge geben, die er nur noch nicht kannte. Es musste einfach möglich sein, die Erdkrustenverschiebung zu verhindern. Aber wenn er nicht der Richtige dazu war? Ein Gefühl der Hilflosigkeit übermannte ihn. Er hatte bei Serena versagt. Er hatte der Menschheit gegenüber versagt. Er hatte bei sich selbst versagt, basta. Was konnte er jetzt noch tun? Er war wirklich am Ende. Conrad lehnte sich zurück, schloss die Augen und betete: Gott Noahs, Moses', Jesu und Serenas. Wenn es Dich gibt, wenn Dir an Serena und an allem, was ihr wichtig ist, gelegen ist, dann hilf mir jetzt die Situation zu meistern, bevor Osiris und seinesgleichen Dich und die Deinigen endgültig ins Verhängnis treiben. Conrad öffnete die Augen. Nichts geschah. Er lehnte sich wieder zurück, und sogleich merkte er, wie der Thron mit einem Klicken einrastete. Conrad wollte sich nach vorn beugen, um nachzusehen, aber die eiförmige Kapsel hielt ihn zurück. Was war das für ein surrendes Geräusch? Der Sitz engte ihn ein. Conrad wurde starr vor Schreck, weil der Thron nun seinen ganzen Körper umschlang, sich fest um die Hüfte legte und die Schultern niederdrückte. Eine Konsole aus Metall schob sich vor die Stirn. Er sank immer tiefer in den Thron ein und wurde von der Vorrichtung verschlungen. »Yeats!« Mit einem Piepen erwachte die Konsole über ihm auf einmal zum Leben. Sie glühte in einem unheimlichen Blau. Eine Instrumententafel leuchtete auf. Ein gewaltiges Rütteln ergriff den Obelisken, und Conrad spürte, wie sich in der Lehne Vibrationen aufbauten. »Yeats!« Das grelle weiße Licht, das von oben aus einem Schacht strömte, blendete ihn. »Yeats!« Von unten schoss nun ein Blitz hoch, der die ganze Kammer in Licht tauchte. Conrad merkte, dass aus den Schächten über und unter seinem verstellbaren Sessel Sonnenlicht strömte. Genau wie bei dem Sternenschacht der P4. Sonnenlicht? Woher das wohl kam? Conrad gelang es, seine Schutzbrille aufzusetzen, weil er in die Schächte schauen wollte. Sie rahmten den leuchtenden Himmel wie Fenster ein. Er hatte die Türen der unterirdischen Rampe geöffnet. Wieder ein Rütteln. Schlagartig wurde ihm alles klar. Dieser Obelisk war kein Heiligtum, kein Schrein. Er war ein Schiff, ein Raumschiff! »Dad!« Conrad versuchte wieder, aus dem Sessel herauszukommen. Vergebens. Er machte eine Drehung nach rechts. Kein Erfolg. Nach links. Ja. Jetzt warf er sich mit all seiner Kraft nach vorn und sprang schließlich Funken sprühend heraus. Die Konsole verschwand im Sessel, die Vibrationen versiegten. Der Sessel schnappte hoch und gab ihn ganz frei. Er atmete schwer und versuchte sich zu sammeln. Eine Weile lang saß er ganz benommen auf dem Boden. Aber in seinem Kopf arbeitete es. In der Vergangenheit ließen sich keinerlei Anhaltspunkte für das finden, was er gerade erlebt hatte. Oder doch? Es gab alte ägyptische Trauerreden, die sich auf Himmelsschiffe bezogen, mit denen die Toten die letzte Reise in die Ewigkeit antraten. Es gab zum Beispiel die ›Barke des Osiris‹ und das ›Boot des Re‹. Die Ägyptologen tauften sie ›Sonnenbarken‹. Und 1954 entdeckte Kamal el-Mallakh in einem Graben an der Südseite der Cheopspyramide in Gise ein fünfzig Meter langes Zedernholzboot. Die darauf folgenden Ausgrabungen brachten in der gleichen Gegend ähnliche Boote zutage – Symbole der Sonnenbarken, in denen die Seelen der verstorbenen Könige ins Jenseits reisten. Conrad stellte fest, dass sich die unterirdische Abschussrampe auf der Südseite der P4 befand. Er musste an die drei Tierkreiszeichen auf dem kleinen Obelisken denken. Er erinnerte sich an die Pyramidentexte aus Gise, die beschrieben, wie der Sonnenkönig mit seiner ›Sonnenbarke‹ über die Milchstraße zur Urzeit fuhr. Für Astro-Archäologen wie Conrad war die ›Sonnenbarke‹ eine Metapher für die Sonne, insbesondere für ihre jährliche Bahn durch die zwölf Tierkreiszeichen. Aber was wäre, wenn es mehr als nur eine Metapher war? Das hier war die wirkliche Sonnenbarke, dachte Conrad, das Himmelsschiff, das denjenigen, der sich zum Sonnenkönig ernannte, durch das Firmament zur Urzeit führte. Eine euphorische Stimmung erfüllte ihn. Aber dann nahm ihm die nackte Realität wieder jegliche Hoffnung: Das Geheimnis der Urzeit lag am Ende der Reise mit der Sonnenbarke. Die Erdkrustenverschiebung jedoch war nur noch Stunden, ja vielleicht sogar nur noch Minuten entfernt. Es war nicht mehr möglich, die Sternenkammer in der P4 auf den Zeitpunkt der Urzeit einzustellen, ohne diese Reise vollendet zu haben. Die Entfernung, die die Sonnenbarke fahren musste, um ihr Ziel zu erreichen, hätte Conrad lediglich in Lichtjahren schätzen können, aber das überstieg seine Vorstellungskraft bei weitem. Das Funkgerät meldete sich knisternd. Conrad hob es auf und brüllte hinein: »Yeats, wo zum Teufel hast du gesteckt.« Es meldete sich Serenas Stimme. »Hallo, Conrad.« »Serena? Wo bist du?« »Schau aus dem Cockpitfenster.« Conrad blickte nach oben und sah die Umrisse der ägyptischen Soldaten, die sich um die Öffnung der Rampe herum aufgestellt hatten und ihre Gewehre und Granatwerfer auf ihn richteten. Was seine Aufmerksamkeit jedoch ganz besonders erregte, war Zawas, der Serena mit dem ausgestreckten Arm eine Waffe an den Kopf hielt. »Oberst Zawas lässt dir mitteilen, dass er mich umbringt, wenn du nicht innerhalb von zehn Minuten unten am Heiligtum bist und ihm das Zepter überreichst«, sagte Serena. »Ich habe ihm bereits gesagt, dass du dazu nicht bereit sein wirst. Ich wäre das auch nicht wert.« »Sag Zawas, dass ich komme«, rief Conrad in das Funkgerät. Tagesanbruch 32 minus 25 Minuten Conrad eilte durch das gigantische Raumschiff zum Rundbau am unteren Ende hinunter. Plötzlich ergab alles Sinn: Die Krypten waren so etwas wie Tiefkühlkammern, in denen man während der langen Reise durchs All schlief. Und die Lichtsäulen waren eine Art Antriebssystem. Conrad verließ die Sonnenbarke und sah, wie die ersten Strahlen des anbrechenden Tages die ganze Rampe in Licht tauchten. Er blickte nach oben. Die Kapsel hatte sich aufgetan. Er hielt sich die Hand vor die Augen und spürte einen heftigen Stoß im Rücken. »Los, weiter«, sagte hinter ihm jemand mit arabischem Akzent. Conrad, der in das grelle Licht blinzelte, reckte den Hals, um nach hinten zu sehen. Seine Neugier wurde durch einen Schlag an den Kopf mit dem Gewehrkolben einer Kalaschnikow belohnt. »Idiot!« Mit hämmerndem Schädel stolperte Conrad weiter. Er wurde von Serena und Zawas empfangen. Nachdem Zawas ihm das Zepter aus der Hand genommen hatte, sah Conrad zu Serena hinüber und musste kräftig schlucken. In ihren Augen lag Traurigkeit, aber sonst wirkte sie kalt wie Eis. »Was haben diese Scheißkerle mit dir gemacht?« »Nicht der Rede wert, wenn man bedenkt, was die Menschheit deinetwegen noch ertragen muss.« »Doktor Yeats.« Zawas sah ihn eindringlich an. »Sie haben Ihren Ruf wirklich verdient. Sie haben uns zum Heiligtum der Ursonne geführt.« »Das wird Ihnen kaum was nützen.« »Lassen Sie das mal meine Sorge sein.« Zawas hielt seinen Leuten das Zepter des Osiris wie ein Götzenbild hin, aber es gab deswegen keinen Tumult. Das sind Berufssoldaten, die Zawas da als Verstärkung mitgebracht hat, dachte Conrad, nicht irgendwelche Fanatiker. Für sie war der Obelisk nichts anderes als der Kopf eines toten Feindes oder eine brennende amerikanische Flagge oder ein Atomsprengkopf. In ihren Augen diente er lediglich als Symbol ihrer Macht. Zawas sah Conrad wieder an und sagte: »Und jetzt, Doktor Yeats, werden Sie mich in das Geheimnis der Urzeit einweihen.« »Ich kenne es selbst nicht. Da kann ich es auch nicht entschlüsseln. Kann sein, dass wir es niemals herausfinden.« Zawas kniff die Augen zusammen. »Und warum nicht?« »Das Heiligtum, wie Sie es nennen, ist in Wirklichkeit ein Raumschiff, das den Suchenden zum Ort der Urzeit führt – zur Ursonne. Jedenfalls sahen das die Erbauer von Atlantis so.« »Ein Raumschiff?«, wiederholte Zawas. »Genau. Und deshalb werden wir wahrscheinlich nie etwas vom Geheimnis der Urzeit erfahren.« Conrad blickte verstohlen zu Serena, deren traurige Augen verrieten, dass sie schon selbst ihre Schlüsse gezogen hatte. »Allein die Existenz der Sonnenbarke bedeutet, dass das Geheimnis nicht auf unserer Erde zu finden ist, sondern an einem Ort, der sich, wenn ich das richtig mitbekommen habe, irgendwo hinter dem Sternbild des Orion befindet.« Serenas Stimme war kaum lauter als ein Flüstern. »Es gibt also keine Möglichkeit, die Erdkrustenverschiebung zu verhindern.« Conrad schüttelte den Kopf und sah ihr fest in die Augen. »Jedenfalls gibt es nichts, was in meiner Macht steht.« Zawas trat an Conrad heran, bis ihre Gesichter dicht an dicht waren. »Sie behaupten also, dass es sich bei dem Heiligtum um ein Raumschiff handelt, Doktor Yeats. Sie sagen, dass es für die Welt keine Hoffnung mehr gibt. Warum sind Sie dann nicht damit weggeflogen?« Conrad blickte Serena über Zawas' Schulter hinweg an. Serena schüttelte den Kopf, weil sie es nicht glauben konnte. »Conrad, du bist wirklich der größte Dummkopf, den ich kenne.« »Endlich sind wir uns mal einig, Schwester«, sagte auf einmal jemand. Conrad fuhr herum. Yeats tauchte hinter einer der Säulen im Rundbau auf und wirkte unerbittlicher als je zuvor. »Zawas, geben Sie mir den Obelisken, Conrad und das Mädchen«, sagte Yeats. »Und wir sind weg.« Conrad starrte Yeats verblüfft an. »Weg wohin? Du willst einfach so in ein Raumschiff steigen und abfliegen?« »Genau das.« Conrad war sich bewusst, dass es Yeats mehr oder weniger egal war, wohin sie flogen, Hauptsache er flog. Irgendwie war er ganz versessen darauf, die Raumfahrtmission, auf die er in seiner Jugend hatte verzichten müssen, jetzt zu vollenden. »Hör mal zu, mein Sohn, wenn wir es nicht tun, gehen wir mit dem Rest der Welt unter«, sagte Yeats. »Du kannst es dir zurechtlegen, wie du willst, ich spiele da jedenfalls nicht mit.« Zawas umklammerte das Zepter fester und nickte seinen Leuten, die Yeats mit ihren Kalaschnikows im Anschlag eingekreist hatten, mit kühler Gelassenheit zu. »Sie haben fast mein ganzes Lager zerstört, was mich auch ein paar meiner besten Leute gekostet hat«, sagte Zawas. »Und jetzt wollen Sie mich auch noch für dumm verkaufen.« Conrad schaute abwechselnd zu Yeats und Zawas, die sich nun mit verbissenem Blick anstarrten. »Du wolltest nie wirklich irgendwelche Waffen finden oder außerirdische Bomben entschärfen, stimmt's, Yeats?« Conrad schnaubte vor Wut. »Und es hat dich auch nie interessiert, mir bei der Suche nach meiner Identität zu helfen. Du hast die ganzen Jahre über genau gewusst, was hier zu finden war.« »Ich habe es zumindest vermutet. Und jetzt wissen wir es ganz genau. Das ist das Happyend, auf das wir hinarbeiten, seit ich dich aufgefunden habe. Du kehrst jetzt heim, mein Sohn.« Heim? Conrad überlegte. Das erste Mal seit Jahren dachte er daran, dass er vielleicht irgendwo ein wirkliches Zuhause haben könnte – das womöglich nicht mal auf dieser Erde war. Zawas meldete sich zu Wort: »Sie glauben doch nicht etwa, dass ich Sie in dieser Sonnenbarke abheben lasse?« »Doch, genau das glaube ich«, sagte Yeats. Yeats ließ den linken Arm hochschnellen. Er hielt eine kleine Fernsteuerung in der Hand. Mit den kältesten blauen Augen, die Conrad jemals gesehen hatte, sah Yeats den Ägypter an. »Entweder Sie lassen mich abfliegen, oder wir gehen alle zusammen in die Luft«, sagte Yeats. »Ich habe hier genug Sprengstoff verteilt, um uns alle zur Urzeit zu befördern, auch ohne Raumschiff.« Zawas' Blick verdüsterte sich. »Sie bluffen.« »Ach wirklich?« Yeats betätigte eine der Tasten, und durch die Rampe schallte von überall her ein Piepen, mit dem im Dunkeln ein roter Lichtkreis zu blinken anfing. »Sie können sich das gern genauer ansehen.« Conrad beobachtete, wie Zawas zur nächsten blinkenden Stelle ging und sich darüberbeugte. Der Oberst erstarrte. Langsam richtete er sich wieder auf und ging zu seinen Leuten zurück. »Lasst Doktor Serghetti los.« »Und das Zepter, wenn ich bitten darf, Oberst. Geben Sie es ihr.« Zawas reichte Serena das Zepter des Osiris und schubste sie dann zu Yeats hin. »Tut mir Leid, meine Schöne«, sagte Zawas. Yeats zog sie sofort zum Rundbau am unteren Ende der Sonnenbarke. »Komm schon, Conrad.« Conrad bewegte sich jedoch nicht von der Stelle. Er sah Yeats und Serena an und sagte: »Ich habe, glaube ich, gerade herausgefunden, wie ich die Erdkrustenverschiebung aufhalten kann. Aber die Lösung ist nur in der Sternenkammer zu finden. Nicht hier.« Er deutete auf die Sonnenbarke. Yeats war völlig verblüfft. »Zu spät. Los jetzt.« »Nein. Ich bleibe.« Conrad sah Serena an. »Aber ich brauche Serena und das Zepter.« Yeats schüttelte den Kopf. »Tut mir Leid, mein Sohn. Das Zepter wird zum Starten gebraucht.« Conrad spürte, wie die Wut in ihm hochstieg. »Und warum um alles in der Welt willst du Serena mitnehmen?« »Als Anreiz, damit du es dir noch anders überlegst«, sagte Yeats und zog sie mit sich zur Sonnenbarke. »Wenn du sie willst, musst du sie dir schon holen.« Obwohl Conrad eigentlich zu ihr laufen wollte, sah er einfach nur zu, wie sie ihm einen flüchtigen, verunsicherten Blick zuwarf. Dann verschwand sie in dem riesigen Raumschiff. Kurz darauf waren die Vorbereitungen für den Countdown in vollem Gange, und der Boden fing an zu beben. Vor Wut und doch voller Bewunderung für seinen ehemaligen Lehrer konnte Zawas nur noch den Kopf schütteln, bevor er seinen Soldaten befahl, die Abschussrampe zu räumen. »Und Sie?«, rief Conrad dem ägyptischen Oberst zu. »Was haben Sie jetzt vor?« »Ich werde mich schleunigst hier irgendwo in Sicherheit bringen«, antwortete Zawas. »Wenn es stimmt, dass die Erde von einer großen Katastrophe heimgesucht werden wird, befinden wir uns hier am denkbar sichersten Ort. Wir werden Überlebende finden und eine neue Welt schaffen. Falls aber nichts dergleichen passiert, haben wir immerhin eine unerschöpfliche Energiequelle gefunden. Dann beherrschen wir die Welt ohnehin.« »Und was wird aus mir?«, sagte Conrad. »Der Teufel soll Sie holen, Doktor Yeats«, sagte Zawas. Zwei Ägypter fesselten Conrad an eine Säule in der Nähe der Sonnenbarke. »Entweder wird die Aussicht auf Ihren Tod Ihren Vater dazu bewegen, seine Pläne aufzugeben, oder Sie verschwinden, sobald die Sonnenbarke abhebt, mit Glanz und Gloria aus diesem Leben.« Conrad sah zu, wie Zawas seine Leute aus der Rampe hinausführte. Bald war er ganz allein. Er zerrte an den Handfesseln. Voller Verzweiflung merkte er, wie die Sonnenbarke mit Serena und dem Obelisken an Bord zum Leben erwachte. Der Start stand unmittelbar bevor. *** Im Inneren der Sonnenbarke befand sich Serena mit Yeats auf einer runden Plattform, die von vier wunderbar goldenen Lichtsäulen umgeben war. Jede dieser Säulen vibrierte vor Energie. Yeats, der immer noch die Fernbedienung für die Sprengstoffzünder in der Hand hielt, legte diese zusammen mit dem Zepter auf den Boden. Plötzlich stieg die Plattform in den kühlen Nebel auf. »Yeats, wenn wir die Sternenkammer nicht neu einstellen, wird sich die ganze Erde verschieben«, sagte Serena. Wut und Verzweiflung schwangen in ihrer Stimme mit. »Milliarden Menschen werden sterben. Sie können nicht einfach so losfliegen.« »Es gibt jetzt keinen Weg zurück mehr«, sagte Yeats abschätzig. Sein Blick war starr auf die Kammer über ihnen gerichtet. »Sie haben ja gehört, was Conrad gesagt hat. Was immer das Geheimnis der Urzeit ist, wir werden es todsicher nicht auf der Erde finden. Damit die Menschheit nicht untergeht, sind wir geradezu verpflichtet abzuheben.« Sie sah ihn an. Sein Gesichtsausdruck war der eines hochmütigen, selbstgefälligen Kriegers, der sich von niemandem aufhalten lassen würde. Fest entschlossen funkelten seine Augen im dämmerigen Licht der vier Säulen. Zorn stieg in ihr auf – diese völlige Missachtung der Menschen, die drauf und dran waren, ihr Leben zu verlieren. »Warum sind Sie sich überhaupt so sicher, dass wir starten können?« »Wir befinden uns hier in einer Art sonnenbetriebenem System«, sagte Yeats. »Diese gewaltigen Säulen sind ein Teil von vier unglaublich langen sonnenbetriebenen Rotorblättern. Wie die eines Helikopters, nur noch viel größer. Sobald wir auf der Flugbahn in den Weltraum sind und aus der Erdatmosphäre austreten, werden sie sich auffächern und das Sonnensegel ausrollen.« Auf eine verrückte Art und Weise schien das alles logisch zu sein. Sie war offenbar schon gänzlich in Yeats' Gedankenwelt eingedrungen. Egal, wie wahnsinnig der ehemalige Astronaut war, er befand sich jedenfalls auf sicherem Terrain, und sie war in diesem Fall die Außenstehende. »Wenn das Segel erst mal aufgezogen ist«, fuhr Yeats fort, »funktioniert es wie ein Spiegel mit hoher Reflexion. Wenn die Photonen auf die Oberfläche treffen, erzeugen sie durch Druck den Antrieb für das Segel. Je größer das Segel, umso größer die Kraft. Wir können den Spiegel in unterschiedliche Richtungen neigen, um die Antriebskraft auf diese Weise dorthin zu lenken, wo wir sie haben wollen.« »Sie wollen doch nicht etwa behaupten, dass Sie dieses Ding steuern können?« »Doch, und zwar wie Kolumbus seine Pinta«, erwiderte er. »Ich bin mir sicher, dass alle Daten – Laufbahnbestimmung, Stabilisierungswerte und Geschwindigkeitskontrolle – in dem Navigationssystem des Raumschiffs gespeichert sind.« Serena schwieg. Die Plattform rastete ein. Mit der Spitze des Obelisken schob Yeats sie einen langen Gang hinunter, der an einer Metalltür mit eigenartigen Inschriften endete. »Warum hätten sie das Schiff ausgerechnet so bauen sollen?«, hörte sie sich fragen. Sie musste ihn am Reden halten, sie musste Zeit gewinnen, damit sie sich überlegen konnte, wie sie ihn vom Starten abhalten konnte. »Das können Sie die selbst fragen, wenn wir erst mal da sind. Vermutlich wurde das Schiff als eine Art Rettungsboot gebaut, das mit minimaler Energie weite Entfernungen überbrücken sollte. Das ist ja gerade das Schöne an diesem Schmuckstück: geringe Schubkraft, aber unendliche Antriebskraft, weil es keinen Treibstoff braucht. Das Sonnensegel ist das perfekte Antriebssystem für Reisen durchs All.« »Abgesehen davon, dass es das Sonnenlicht braucht«, bemerkte Serena, »das uns aber nicht mehr zur Verfügung steht, sobald wir das Sonnensystem verlassen. Dann schunkeln wir in einem Segelboot aufwindstiller See.« Yeats blieb an der Tür stehen und sagte: »Dann kommt die Schwerkraft zum Zuge.« »Wie bitte?« »Ja, so werden wir ohne Licht vorankommen«, sagte er. Er sprach so ruhig und vernünftig, dass sie Angst bekam und gleichzeitig wütend wurde. »Wir fliegen ganz dicht um den Jupiter herum, sodass wir seine Schwerkraft nutzen können, um uns in eine schnellere Laufbahn in Richtung Sonne zu katapultieren. Dann werden wir um die Sonne geschleudert und legen beim Austritt aus dem Sonnensystem weiter an Geschwindigkeit zu. Auf jeden Fall bin ich mir ziemlich sicher, dass dieses Ding hier eine ganze Menge Maser- und Laserpotenzial in sich hat, dessen Mikrowellen wiederum eine gewaltige Beschleunigung und den Antrieb der Segel erzeugen.« »Sie scheinen ja tatsächlich selbst zu glauben, was Sie da sagen, Yeats. Wie lange werden wir denn unterwegs sein?« Yeats überlegte. »Bei normaler Geschwindigkeit ungefähr ein Jahr.« Ein Jahr?, dachte Serena. »Bei dieser Geschwindigkeit würden wir den nächsten Stern …« »… irgendwann in einem Zeitraum zwischen 250 und 6.600 Jahren erreichen.« Serena wollte gar nicht wissen, wie lange es dauern würde, bis sie im beabsichtigten Sonnensystem ankämen. Ganz zu schweigen davon, wer sie dort begrüßen würde. »Haben Sie sich schon überlegt, wie wir bis dahin am Leben bleiben?« »Ja.« Yeats steckte das Zepter in die Wand. Die Tür öffnete sich und gab den Blick in eine Kammer frei, in der kühler Nebel waberte. Serena starrte hinein und entdeckte in der hinteren Ecke so etwas wie einen offenen Sarg. Er hatte die Umrisse einer wohlgeformten Frau, die ungefähr Serenas Statur besaß. »Sieht so aus, als ob die Erbauer an alles gedacht hätten«, sagte Yeats. »Willkommen in Ihrer Eisgruft.« Bei Serena funkte es erst, als ihr klar wurde, dass Yeats von ihr erwartete, sich in diesen Kühlschrank hineinzulegen. Sie erstarrte und weigerte sich, in die Kammer einzutreten. Dann spürte sie eine feuchte Hand an ihrem Hals. Nicht um alles in der Welt würde sie dort hineingehen. »Sie zuerst«, sagte sie. Sie trat Yeats mit dem Absatz fest auf die Zehen und stieß ihm den Ellbogen in den Unterleib. Yeats stöhnte auf. Serena vollführte eine Drehung, trat mit dem Knie nach und versetzte ihm mit einer Doppelfaust einen heftigen Schlag auf den gekrümmten Rücken. Sie rappelte sich auf und rang nach Luft. Yeats ließ den Kopf hochschnellen und schlug gegen ihre Kinnlade, sodass ihr die Unterlippe platzte. Er richtete sich wieder auf. Serena taumelte rückwärts in die Kammer. Yeats hob den Kopf. In dem matten Licht kamen seine kalten, toten Augen zum Vorschein. Er hielt eine Pistole auf sie gerichtet. »Sie können Ihr Gutenachtgebet aufsagen, Schwester.« Mit ganzer Kraft quetschte Yeats sie in den Sarkophag, der sich wie Lehm um sie legte. Sie spürte, wie ein kaltes Kribbeln in ihr aufstieg. Es fing im Kreuz an, raste die Wirbelsäule hoch und breitete sich dann explosionsartig im ganzen Körper aus. Plötzlich wurde alles taub. Sie war jetzt ganz ruhig, fast leblos, spürte aber noch ihren Herzschlag. Bald wurde auch der immer schwächer. Yeats schlug die Tür zur Grabkammer zu, und dann spürte sie gar nichts mehr. Tagesanbruch 33 minus 20 Minuten Als die mächtigen Steuerraketen der Sonnenbarke zu summen anfingen, spürte Conrad – der immer noch an die Säule gefesselt war –, wie die Wände der Rampe vibrierten. Die ölige Luft im Schiff sickerte nach außen und legte sich über ihn. Er merkte, wie sich alles aufheizte. Die Dachöffnung des versunkenen Heiligtums gab den Blick auf den bedeckten Himmel frei. Dann wurde die Öffnung größer, und Geröll und Felsbrocken fielen herab. Conrad schloss die Augen, um sie vor dem herunterwirbelnden Staub zu schützen. Dann blickte er blinzelnd in den höhlenartigen Abschussschacht. Einen Moment lang konnte Conrad vor Rauch und Wirrwarr das Raumschiff nicht mehr sehen und fürchtete schon, dass es bereits abgehoben hatte. Dann teilte sich der Rauchvorhang, und sein Blick fiel auf das unwirkliche Bild der schimmernden Sonnenbarke. Auf dem Boden lag eine Kalaschnikow, die einer von Zawas' Soldaten bei ihrem panikartigen Rückzug offenbar hatte fallen lassen. Aber das Sturmgewehr lag mehr als zehn Meter weit entfernt und nutzte ihm deshalb in seiner momentanen Zwangslage rein gar nichts. Es roch nach Rauch. Seine Augen fingen an zu brennen, seine Nase kribbelte vom Ruß. Er versuchte vergebens, sich zu befreien, und hustete in der rauchigen Luft. Ob nun mit oder ohne das Geheimnis der Urzeit, sagte er sich, das Zepter des Osiris war seine einzige Chance, die Sternenkammer in der P4 neu einzustellen, um dadurch die Erdkrustenverschiebung zu verhindern. Aber das Zepter war im Raumschiff. Er musste sich irgendwie befreien, um es sich zurückzuholen, bevor die Sonnenbarke abhob und ihn bei lebendigem Leib verbrannte. Der Gedanke an Feuer erinnerte ihn an das Zippo-Feuerzeug, das Yeats ihm überlassen hatte. Es befand sich noch in seiner Brusttasche. Wenn er einen Weg fand, es herauszuholen, konnte er damit vielleicht die Fesseln durchbrennen. Conrad ließ sein Kinn auf die Brust fallen und zog mit den Zähnen seine Sonnenbrille heraus, die er in den Ausschnitt gehängt hatte. Dann führte er die Brille vorsichtig in seine Brusttasche, um damit das Feuerzeug herauszuheben. Nach kurzer Zeit gab er mit schmerzendem Genick auf. Die vibrierenden Maschinen in der Sonnenbarke brachten ihn jedoch dazu, es noch einmal zu versuchen. Diesmal klappte es. Es gelang ihm, das Feuerzeug herauszuschaufeln. Die Brille im Mund, balancierte er das Feuerzeug mit einer Kopfdrehung nach links und schob es unter den Jackenkragen. Wenn es nur bis zum Ärmel käme … Das Feuerzeug rutschte tatsächlich in den Ärmel und landete mit etwas Schütteln schließlich in seiner Hand. Mit einigem Geschick zündete er das Feuerzeug. Er fluchte, weil die Flamme seine Hand verbrannte. Fast hätte er das Feuerzeug wieder fallen lassen. Einen Augenblick lang rührte er sich nicht. Er suchte einen Weg, die Fesseln mit der Flamme zu lösen, ohne sich Verbrennungen dritten Grades zuzuziehen. Er kam zu dem Schluss, dass kein Weg an den Schmerzen vorbeiführte. Er atmete tief ein, biss die Zähne zusammen und zündete das Feuerzeug. Die Flamme stach in sein Handgelenk, während er sich an den Fesseln zu schaffen machte. Sein innerer Impuls war es, das Feuerzeug fallen zu lassen, aber er zwang sich, es fest zu umklammern. Bald strömten ihm die Tränen aus den Augen, aber er konzentrierte sich auf die Sonnenbarke und sein Ziel, das nun greifbar nahe lag. Der Geruch des eigenen verbrannten Fleisches – es roch wie verbrannter Gummi – erregte Übelkeit in ihm. Er konnte es nicht länger ertragen. Das Feuerzeug glitt ihm aus der Hand und fiel klirrend auf den Steinboden. Ihm wurde langsam bewusst, dass er seine letzte Chance, dem Ganzen zu entkommen, vertan hatte. Schlimmer noch, der Gummigeruch kam von seinem Uhrarmband, das er durchgeschmort hatte. Conrad stöhnte. Nun hatte er nichts mehr zu verlieren. Er zog seine Handgelenke auseinander. Der verkohlte Strick gab etwas nach und glitt schließlich über seine Hände. Er schrie vor Schmerz auf. Mit aller Kraft riss er ein letztes Mal die Hände auseinander. Die rauen Fesseln zerrten an den empfindlichen, versengten Handgelenken, bis die verkohlten Stränge endlich rissen und seine Hände freigaben. Conrad taumelte vorwärts und starrte auf die Ringe um seine zitternden Hände. Dann riss er zwei Stoffstreifen von der Uniform, die er trug, und verband sie damit. Er hob die Kalaschnikow auf und raste durch den Staub auf die Sonnenbarke zu. Er betrat den Rundbau und kam zur Außentür des Schiffs, die er zuvor mit Yeats entdeckt hatte. Sie war fest verschlossen, vibrierte aber von jener Energie, die den gesamten riesigen Obelisken erfasst hatte. Er legte die Hand auf das quadratische Feld. *** Kurz darauf fuhr Conrad mit der Plattform zu der Ebene hoch, wo sich die ›Kühlkammern‹ befanden. Direkt über sich sah er die Ausstiegsluke, die zur Kommandozentrale des Schiffs führte. Der Lichtkreis verriet ihm, dass sich dort Yeats mit dem Obelisken befand. Er blickte nach links den Gang hinunter, der zur Osiris-Kammer führte, und dann nach rechts zu dem Gang, der bei der Isis-Kammer endete. Er ging nach rechts. Am Ende des dunklen Tunnels schien ein unheimliches blaues Licht. Als Conrad sich der Tür der Eisgruft näherte, bemerkte er, dass sie geschlossen war und dass die Rillen, die in die Metalltür eingraviert waren, nun leuchteten. Er wusste augenblicklich, dass ›Isis‹ in der Kammer war. Yeats hatte Serena eingefroren. »Yeats, du verdammter Mistkerl«, knurrte er und schlug mit dem Lauf der Kalaschnikow an die Tür. Er prüfte das quadratische Feld neben der Tür. Er legte die Hand darauf und hörte einen hohen Summton. Das Licht in den Rillen wurde plötzlich heller und leuchtete mit einer solchen Intensität, dass er die Hand vor die Augen legen und in den Gang zurücktreten musste. Genauso schnell, wie sie aufgeleuchtet hatte, verblasste die Helligkeit wieder zu einem matten Schein, der dann noch einmal wie die letzte Glut eines ausgehenden Feuers aufflackerte, um schließlich ganz zu verlöschen. Mein Gott, dachte Conrad. Was habe ich da gemacht? Mit den Fäusten hämmerte er auf die eiskalte Tür ein. Vergeblich. Er wusste, dass es sinnlos war. Er gab auf und ließ sich an der Tür entlang auf den Boden sacken. Er merkte, wie sie vibrierte. Die Tür gab nach! Er sprang auf und sah, wie die Eisgruft aufbrach und ein eisiger Nebel in den Gang herausströmte. Er wartete nicht lange, bis der Nebel sich aufgelöst hatte, sondern tauchte ein, um Serena zu suchen. Sie befand sich in dem sarkophagähnlichen Gebilde. Ihre Haut war fast blau. Er packte sie und trug sie auf der Schulter in den Gang hinaus, wo er sie auf den Boden legte, um ihr Arme und Beine zu massieren. Sie atmete nur sehr schwach. Lieber Gott, betete er leise, lass sie nicht sterben. »Tapfer, Kleines«, wiederholte er immerzu. »Du schaffst es.« Langsam kehrte Farbe in ihr Gesicht zurück, und die Atmung wurde tiefer und regelmäßiger. Als sie die Augen öffnete, bekam Conrad einen Schreck, weil ihr Blick so leer und leblos wirkte. »Serena, ich bin's, Conrad. Weißt du, wo du bist?« Sie stöhnte. Er legte das Ohr an ihre Lippen. »Conrad? Dann muss ich wohl in der Hölle sein.« »Gott sei Dank.« Er atmete erleichtert auf. »Du bist wieder ganz die Alte.« Sie setzte sich mühsam auf und orientierte sich erst einmal. »Yeats?« »Oben in der Kapsel«, sagte Conrad. »Aber vor dem eigentlichen Start muss er noch runterkommen, um sich in die Osiris-Gruft zu legen. Da werde ich ihn abpassen.« »Und ich?« »Während ich mit ihm beschäftigt bin, gehst du in die Kapsel und holst das Zepter. Egal, was mit mir passiert, du musst verhindern, dass das Schiff abhebt. Dann gehst du zur P4 zurück. Klar?« Sie rieb sich die Schläfen. »Du glaubst also wirklich, dass wir die Verschiebung noch stoppen können?« »Keine Ahnung, aber wir müssen es versuchen«, sagte er. Auf einmal leuchtete der Lichtkreis über der Hauptplattform auf. »Er kommt runter«, sagte Conrad. »Ich muss jetzt in Stellung gehen. Du wartest, bis er am Ende des Gangs ist.« Serena nickte halbherzig. Conrad lief den Gang zur Eisgruft des Osiris entlang. Als er beim Mittelschacht war, kam gerade die Plattform mit Yeats an. Conrad rannte durch den Nebel in die offene Osiris-Gruft, um dort auf Yeats zu warten. Während er sich schnaufend an die Wand lehnte, spürte er etwas an seiner Schulter. Er drehte sich um und sah das fremdartige Gehäuse. Das Letzte, was er jetzt brauchen konnte, war, sich aus Versehen selbst für die halbe Ewigkeit in den Eissarg einzuschließen. Die Tür öffnete sich. Conrad blinzelte und sah Yeats' Gestalt im Dunst. Er hob die Kalaschnikow und trat vor. »Mission beendet, Yeats.« »Bist du das, mein Sohn? Ich bin beeindruckt. Ich wusste ja, dass du mitkommst.« »Lass Serena frei, und gib mir den Obelisken.« Conrad merkte, wie Yeats' Blick über den Verband an seinen Handgelenken streifte. Er merkte wohl, dass er die Kalaschnikow nicht richtig halten konnte. Wahrscheinlich glaubte er auch einfach nicht, dass Conrad tatsächlich ein Gewehr auf seinen Vater richten konnte. Selbst wenn Yeats gar nicht sein leiblicher Vater war, selbst wenn er ihn oft genug hasste, so war er doch der einzige Vater, den Conrad hatte. »Du wirst nicht abdrücken, mein Sohn.« »Ach wirklich?« »Wenn du mich tötest, vertust du damit deine letzte Chance, deine lebenslange Suche zu beenden«, sagte Yeats. »Nur wenn du mit diesem Obelisken – dem Raumschiff – abhebst und die vorgesehene Reise antrittst, wirst du deine wahre Herkunft entdecken.« »Und was passiert mit meinen Mitmenschen?« »Du bist kein Mensch, und es ist zu spät, die Welt noch zu retten. Die Menschheit hat sich als nicht würdig erwiesen, und das Geheimnis der Urzeit kann nur am Ende der Reise durchs All mit der Sonnenbarke enthüllt werden. Du bist genauso erpicht darauf wie ich. Verdammt, wahrscheinlich liegt es dir sogar in den Genen.« »Sei dir da mal nicht so sicher.« Conrad richtete die Kalaschnikow auf ihn. »Leg deine Waffe weg. Langsam. Mit zwei Fingern.« Yeats löste den Lederriemen am Gürtel und nahm vorsichtig die Glock aus ihrem Halfter. »Auf den Boden.« Yeats legte die Pistole auf den Boden und hob die Arme. »Zurück.« Yeats lächelte gezwungen, als Conrad die Glock mit dem Fuß wegstieß. »Wir sind uns ähnlicher, als du das zugeben willst.« »Du fantasierst, Yeats.« Conrad merkte, dass Yeats Zeit zu schinden versuchte, wohl in der Hoffnung, dass die Sonnenbarke von selbst in eine vorbestimmte Flugbahn schoss. Conrad selbst wartete auf Serena und hoffte, dass sie bald mit dem Zepter herunterkam. »Auch ich will alles Mögliche wissen«, sagte Yeats. »Nicht nur was den Ursprung der Menschheit angeht, sondern auch was das Universum an sich betrifft. Hast du dich schon mal gefragt, warum ich überhaupt auf den Mars wollte?« »Um dort deine Flagge zu hissen und um der Erste zu sein, der auf den Roten Planeten pinkelt.« »Vergleichende Planetenkunde, sagen die Wissenschaftler dazu.« Da Yeats nun meinte, abschätzen zu können, dass Conrad nicht abdrückte, wurde er sich seiner Sache wieder sicherer. »Die wollen die Geschichte des Sonnensystems und die Entwicklung der Planeten erforschen, indem sie Beweismaterial von Erde, Mond und Mars vergleichen. Wenn wir andere Welten entdecken, entdecken wir in Wahrheit uns selbst und erfahren dadurch genauer, wo wir einzuordnen sind.« Conrad sagte nichts dazu, beobachtete aber fasziniert, wie Yeats' müdes Gesicht sich mit fast spirituellem innerem Licht erhellte. »Jahrhundertelang wurden wir von den Gedanken des griechischen Astronomen Ptolemäus geleitet, der uns lehrte, dass die Erde der Mittelpunkt des Universums sei«, fuhr Yeats fort. »Dann belehrte uns Galileo Galilei eines Besseren, und wir erfuhren, dass die Sonne der Mittelpunkt ist, um den wir und andere Planeten kreisen. Aber innerlich hängen wir noch der ptolemäischen Sichtweise nach. Warum auch nicht? Solange wir auf der Erde bleiben, sind wir de facto das Zentrum des Geschehens. Man muss nicht mal auf den Mond gehen, um die Erde aus der Ferne zu betrachten. Das All hat nichts mit den technischen Errungenschaften zu tun, sondern mit dem menschlichen Geist und unserem Beitrag zum universellen Ziel. Das All ist eine Metapher für Expansion, offene Möglichkeiten und Freiheit.« Conrad richtete seine Waffe erneut auf Yeats' Brust. »Ich muss wohl das Pfadfindertreffen verpasst haben, bei dem du diese blödsinnige Rede das erste Mal gehalten hast.« Yeats sah ihn keineswegs entmutigt an. »Du brennst genau wie ich darauf zu erfahren, wie das alles endet.« Eine Stimme meldete sich hinter Yeats. »Es endet genau hier, General.« Yeats wirbelte herum und sah Serena, die das Zepter des Osiris in der Hand hielt. Yeats wurde ganz starr vor Wut. »Jetzt weißt du ja, wozu die Eisgruft gut ist, Yeats. Es macht dir also sicher nichts aus, einstweilen hier hineinzugehen.« Conrad deutete auf die Kammer des Osiris. »Ich finde, du solltest die Waffe fallen lassen, mein Sohn.« Conrad traute seinen Augen nicht. Yeats hatte nach hinten gegriffen und eine kleine Pistole hervorgezogen. Damit hatte Conrad nicht gerechnet. Serena auch nicht. Yeats lächelte. »Allzeit bereit, wie die Pfadfinder sagen.« »Schieß, Conrad!«, rief Serena. Conrad machte einen Schritt vor, aber Yeats hielt den Lauf der Waffe an Serenas Schläfe. »Bleib, wo du bist.« Conrad machte noch einen Schritt. Yeats zog kräftig an Serenas langem schwarzem Haar, bis sie vor Schmerzen aufschrie. »Jetzt oder nie, mein Sohn.« Conrad machte einen dritten Schritt. »Fallen lassen, habe ich gesagt!« Yeats zog noch fester an Serenas Haar. Conrad war klar, dass Yeats ihr ohne weiteres das Genick brechen konnte. »Hör nicht auf ihn, Conrad«, sagte Serena mit letzter Kraft. »Er wird dich umbringen.« Aber Conrad brauchte nur in ihre angsterfüllten Augen zu sehen, um sich davon zu überzeugen, dass er kein Risiko eingehen durfte. Er ließ die Waffe sinken. »So ist's brav«, sagte Yeats. »Jetzt lass sie fallen.« Conrad ließ die Kalaschnikow los. Sie fiel klirrend auf den Boden. Als sie sich ansahen, merkte Conrad, wie Serena die Tränen über das Gesicht liefen. »Du bist ein hoffnungsloser Fall, Conrad«, flüsterte sie. Tagesanbruch 34 minus 15 Minuten Yeats hob die Kalaschnikow vom Boden auf. Sie waren jetzt nur ein, zwei Meter voneinander entfernt, und Conrad bemerkte nun erst Yeats' wahnsinnigen Blick, der ihm von weitem entgangen war. Der Mann sah aus wie ein im Käfig gefangenes Tier, das verzweifelt kämpfte, um freizukommen. »Ich wusste, dass du mich nicht umbringen kannst.« Er hielt Serena fest, die vergebens versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien. »Und ich will dich ganz bestimmt auch nicht umbringen. Es sei denn, du zwingst mich dazu.« »Lass sie sofort los.« »Sobald du eingefroren bist und nichts mehr anstellen kannst, mein Sohn. Vielleicht kommst du ja wieder zu Verstand, wenn wir, wo auch immer, wieder aufgetaut sind.« »Bevor ich mich einfrieren lasse, wirst du mich töten müssen, Dad.« Conrad stürzte sich auf die Pistole. Ein Schuss ging los. Die Kugel grub sich in seine Schulter, und er sackte zu Boden. Benommen griff er an seine Schulter und sah, wie das Blut zwischen seinen Fingern durchrann. Als er aufblickte, kam Yeats auf ihn zu, um ihm den Rest zu geben. »Ich werde Osiris von dir grüßen.« Yeats wollte gerade mit dem Gewehrlauf zuschlagen, da rollte sich Conrad auf der anderen Schulter nach hinten und versetzte Yeats mit beiden Beinen einen Tritt vor die Brust. Yeats wurde zurückgeworfen und von der Spitze des Obelisken, den Serena in der Hand hielt, aufgespießt. Sie schrie laut auf. Yeats wurde mit solcher Wucht getroffen, dass er vor Todesschmerzen brüllte. Yeats ließ das Gewehr fallen und taumelte kurz, bevor Conrad ihn in die Eiskammer beförderte. Frostige Nebelschwaden drangen heraus. Conrad schlug die Tür zu. Plötzlich war alles ganz still, und außer dem leisen Summen der Energie, die durch Konsolen, Wände und Bodenflächen strömte, war nichts zu hören. Conrad hatte alle Mühe, sich in dem Lichtschacht aufrecht zu halten. Serena lief zu ihm und umarmte ihn. Dann spürte sie, wie warm seine Schulter war. »Du bist ja überall voll Blut.« »Du merkst aber auch alles.« Sie riss einen Streifen Stoff aus seinem Ärmel, wickelte ihn um seinen Oberarm und zog ihn fest. Sie merkte, dass Conrad sie anstarrte. »Jetzt hast du ja alles, was du wolltest. Vielleicht sollten wir beide wie im Film Händchen haltend dem Sonnenuntergang entgegengehen.« Conrad sah den blutverschmierten Obelisken auf dem Boden liegen. Er hob ihn auf. Irgendwie hatte sie Recht. Er brauchte nur noch sich und Serena in der Sonnenbarke zum vorbestimmten Ziel bringen zu lassen, und er würde endlich das Geheimnis der Urzeit erfahren. Er sah sie ungläubig an. »Ist dir klar, was du da sagst?« »Ich sage nur, dass wir nicht wissen, ob diese Erdkrustenverschiebung die Welt tatsächlich auslöschen wird. Vielleicht werden die Menschen überleben, vielleicht geht es ihnen wie den Dinosauriern. Aber die einzige Möglichkeit, das Überleben der Menschheit sicherzustellen, ist, auf unserem Kurs weiterzumachen.« Conrad blickte in ihre flehenden Augen. Sie war nicht auf seiner Seite, stellte er fest. Sie stand auf der Seite der Menschheit. Und sie war bereit, alles, was ihr lieb und teuer war, dafür aufzugeben. »Willst du, dass wir die Welt zur Hölle verdammen?« »Nein, Conrad. Wir könnten in einer anderen Welt ein neues Paradies erschaffen.« Als er über diese verrückte Idee nachdachte, fing das Schiff an zu rumpeln. Er wischte ihr eine Träne von der Wange. »Du weißt ganz genau, dass wir zurückmüssen.« Ja, sie wusste es und sträubte sich nicht, als sie schweigend die Plattform zum Rumpf der Sonnenbarke hinunterfuhren. Als sie schließlich einige hundert Meter von der Rampe entfernt an die Oberfläche traten, bebte der Boden stärker als je zuvor. Kaum hatte er Serena aus dem Tunnel gezogen, schoss eine Feuerfontäne in die Luft, versengte ihr Haar und schleuderte beide über den Boden. Er sah noch, wie ein Dutzend weitere Geysire rings um die Abschussrampe ausbrachen, als die Sonnenbarke aus dem Krater herausschoss und zum Himmel aufstieg. Conrad sah das Raumschiff mit seinem Vater an Bord, tot oder lebendig, im Universum verschwinden. »Ich bete zu Gott, dass du weißt, was du tust, Conrad.« Serena riss ein Stück Schnürsenkel von ihrem Stiefel und band damit die versengten Haarspitzen nach hinten. »Das war nämlich die letzte Maschine ins All.« Tagesanbruch 35 minus 2 Minuten Serena stand in der Sternenkammer der P4. Die Tränen flossen ihr über die Wangen, und sie sah zu, wie sich das Deckengewölbe drehte. Der Lärm, den die knirschende Kuppel verursachte, war ohrenbetäubend. Sie verstand nicht, was Conrad sagte. Er stand neben dem Altar und machte ihr Zeichen, zu ihm herüberzukommen. »Stell den Obelisken in den Sockel«, rief er ihr zu. Sie betrachtete das Zepter des Osiris in ihrer Hand und las noch einmal leise die Inschrift darauf: Nur derjenige, der sich würdig erweist, zur rechten Zeit und am rechten Ort vor den Leuchtenden zu stehen, kann das Zepter des Osiris entfernen, ohne Himmel und Erde auseinander zu reißen. Gab es so jemand Würdiges unter den Menschen überhaupt? Oder hatte der hebräische Prophet Jesaja Recht, als er sagte, dass die menschliche Gerechtigkeit angesichts der Heiligkeit Gottes nur ein ›unflätig Kleid‹ sei? »Yeats hatte Recht, Conrad«, sagte sie entmutigt. »Die Erbauer von Atlantis waren unserem Denken weit voraus. Wir haben keine Chance.« »Ich dachte, wir wären uns einig, dass die ägyptischen Götter schon einmal besiegt worden sind«, sagte Conrad. Er sprach jetzt schneller und lauter. »Also, wann war das?« Serena dachte nach. »Während des Exodus, als Moses die Israeliten aus Ägypten hinausführte.« »Genau. Ein kosmisches Ereignis, das die Kulturgeschichte genauso verändern kann wie der Aufprall eines Meteoriten die Naturgeschichte. Ohne Exodus hätte es auch keine göttliche Erscheinung auf dem Berg Sinai gegeben. Und ohne Sinai gäbe es auch keinen Moses, Jesus oder Mohammed. Osiris und Isis wären die absoluten Herrscher, und die Skyline Manhattans bestünde aus Pyramiden. Wir würden statt Café Latte gegorenen Getreidesaft trinken.« Serena spürte, wie sich ihr Puls beschleunigte. Conrad hatte mit dem, was er da sagte, nicht ganz Unrecht. »Die Frage ist nur«, fuhr Conrad mit glänzenden Augen fort, als stünde eine große Entdeckung bevor, »was hatte den Pharao dazu bewegt, es sich anders zu überlegen und die Israeliten ziehen zu lassen?« »Passah«, sagte Serena. »Als der Gott der Israeliten die Erstgeborenen aller Ägypter erschlug, aber die Häuser der israelitischen Sklaven, die ihre Pfosten mit dem Blut eines Lammes bedeckt hatten, verschonte.« »Genau«, sagte Conrad. »Ich wünschte, es gäbe eine Möglichkeit, dieses Passah allen Völkern zu ermöglichen.« Es gab eine, schoss es Serena plötzlich in den Kopf, und es platzte förmlich aus ihr heraus: »Das Lamm Gottes!« »Mein Gott, du hast Recht!« Sofort fing Conrad an, die Sterne im Gewölbe neu einzustellen, sodass sie den Sternenhimmel über Jerusalem darstellten. Im Nu schien sich der ganze Raum auf den Kopf zu stellen. Aber es war nur eine optische Täuschung, stellte Serena fest, weil die Gestirne der nördlichen und südlichen Hemisphäre ihre Position austauschten. »So weit, so gut. Jetzt haben wir den Ort«, sagte Conrad. »Wir brauchen noch einen Zeitpunkt.« Das war schon schwieriger, dachte Serena. »Laut Überlieferung starb Jesus im Alter von dreiunddreißig Jahren. Damit hätte die Kreuzigung zwischen den Jahren 30 und 33 unserer Zeitrechnung stattgefunden.« »Das ist nicht genau genug.« Conrad wurde ungeduldig. »Ich brauche die genaue Jahreszahl.« Serena kämpfte gegen die aufkommende Panik. Der christliche Kalender, von dem Mönch Dionysius Exiguus im 6. Jahrhundert erstellt, basierte auf falschen Zahlenangaben. Genauere Betrachtungen hatten ergeben, dass Dionysius die Geburt Christi einige Jahre zu spät angesetzt hatte. Heutzutage datierten die Kirchengelehrten die Geburt nicht später als das Jahr, in dem Herodes starb, also vier Jahre vor unserer Zeitrechnung. »Neunundzwanzig«, sagte sie schließlich. »Nimm neunundzwanzig.« Conrad stellte das Zepter auf dem Altar ein, und wieder drehte sich das Gewölbe. Wieder war das ohrenbetäubende Krachen zu hören. »Ich brauche jetzt noch den Tag«, rief er. »Und zwar sofort.« Serena nickte. Die katholische Kirche feiert Ostern jedes Frühjahr zu einem anderen Zeitpunkt. Aber die orthodoxe Kirche hielt mit astronomischer Genauigkeit an dem historischen Datum fest. Das Konzil von Nizäa im Jahre 325 hatte das Dekret erlassen, dass Ostern am ersten Sonntag nach dem Vollmond der Frühjahrs-Tagundnachtgleiche gefeiert werden musste, aber immer nach dem jüdischen Passahfest, um die biblische Reihenfolge der Kreuzigung und der Auferstehung einzuhalten. »Freitag nach dem ersten Vollmond der Frühjahrs-Tagundnachtgleiche.« »Freitag?«, fragte er zweifelnd. »Nicht Sonntag?« »Freitag«, beharrte sie. »Die Auferstehung war ein Zeichen des Triumphes über den Tod. Aber der größte Edelmut wurde bewiesen, als Jesus am Kreuz für die Sünden der Menschheit starb und seinen Feinden vergab.« »In Ordnung. Jetzt die genaue Stunde.« »In den Schriften steht, dass es die neunte Stunde war.« Er sah sie verdutzt an. »Hä?« »Drei Uhr.« Conrad nickte, machte die letzten Einstellungen und trat dann zurück. »Beten Sie, Schwester Serghetti.« Das Gewölbe drehte sich und rastete ein. Es stellte jetzt den Himmel über Jerusalem in der neunten Stunde des fünften Tages nach dem ersten Vollmond der Frühjahrs-Tagundnachtgleiche im Jahre 29 dar. »Jetzt zeigt sich die Gerechtigkeit aus dem Glauben, unabhängig von den Gesetzen«, betete sie leise und wiederholte die Worte, die der heilige Paulus zu den Römern gesprochen hatte. Ein heftiger Ruck ging durch die Kammer, und sie sprang nach hinten. Der Boden tat sich auf, und der Altar fiel mit dem Obelisken den Schacht hinunter und verschwand. Noch bevor sie über den Rand schauen konnte, schloss sich der Schacht wieder. An der Stelle war nun eine Kartusche zu sehen, die das Osiris-Symbol trug. Von unten kam Donnerrollen. Plötzlich war es unheimlich still. Serena hörte, wie jemand seufzte. Es klang wie das Seufzen eines jungen Mädchens. Sie spürte, wie ihr eine Träne über die Wange floss, und stellte fest, dass sie selbst das Mädchen war. Irgendwie fühlte sie sich innerlich auf einmal ganz rein, so als wären alle ihre Sorgen und Ängste und ihre Schuldgefühle weggespült worden. »Du hast es geschafft«, sagte sie und umarmte Conrad. »Gott sei Dank.« »Wie wär's, wenn wir jetzt hier rausgingen?«, sagte er. Von überall her erscholl ein tiefes, beunruhigendes Poltern. Plötzlich fielen die Türen der Kammer herab, und sie waren eingeschlossen. Serena stand reglos da. »Conrad, was ist da passiert?« »Ich glaube, wir sind jetzt zwei Meilen unter dem Eis lebendig begraben.« 36 Tagesanbruch Vom Vorsprung des Tempels des Wassermanns aus sahen Zawas und seine Leute zu, wie die Sonnenbarke im Himmel verschwand. Die erste Druckwelle erreichte ihr Lager. Zelte brachen zusammen, und Zawas geriet in Panik, als er sah, wie sein einziger noch flugfähiger Helikopter über den Landeplatz auf den Abgrund zuschlitterte. »Bringt den Hubschrauber in Sicherheit«, rief er, worauf fünf Ägypter losrasten, um ihn festzuzurren. Egal, was mit dem Rest der Welt geschah, sagte sich Zawas, egal, wie viele Küstenstädte vom Meer verschluckt wurden, es gab keinen sichereren Ort auf Erden als den, wo er sich gerade mit seiner Mannschaft befand. Gleichgültig, ob die Erdkrustenverschiebung nun einen Tag oder eine Woche dauerte: Hatte sie erst einmal ihren verheerenden Lauf genommen, wurde der Boden, auf dem sie standen, zum Zentrum der neuen Welt. So tröstete er sich immer wieder, wenn seine Gedanken zu seiner Großfamilie in Kairo schweiften, von der die meisten in unzulänglichen ›Luxus‹-Hochhäusern wohnten, die bei einem größeren Beben unweigerlich in sich zusammenfallen würden. Plötzlich fühlte sich die Luft ganz warm an, und die Beben wurden stärker. Irgendwann bekamen sie eine solche Kraft, dass er seine Strategie, nämlich im Tempel des Wassermanns zu lagern, erneut überdachte und sich fragte, ob es nicht klüger wär, auf offenem Gelände abzuwarten, also in einiger Entfernung von den Gebäuden und Heiligtümern. Zawas trat in die Kammer, nahm die Sonchis-Karte, die auf seinem Schreibtisch lag, und rollte sie zusammen mit den amerikanischen Plänen von der Sonnenbarke wieder in die grüne Thermosflasche der Nonne. Eine weitere Schockwelle schmiss Zawas fast vom Stuhl. Er hielt sich am Schreibtisch fest, der nun aber auch anfing, sich zu bewegen. Er schraubte die Ummantelung der Thermosflasche fest und warf sie in seinen Rucksack, bevor das Geschrei seiner Leute ihn nach draußen holte. Der Anblick, der sich ihm bot, ließ ihn mit Grauen zurückschrecken. Der Himmel schien einzustürzen. Zawas griff nach dem Fernglas und stellte es auf die Eisberge ein, die einen Ring um die Stadt bildeten. Und dann verstand er: Nicht der Himmel fiel herab, sondern die Eisklippen, die die Stadt umgaben. Eislawinen stürzten aus allen Richtungen heran und würden sie unter sich begraben. »Los, in den Hubschrauber!«, brüllte Zawas. Er winkte seine Leute zu sich, als er in den Eurocopter einstieg und in dem verzweifelten Versuch, sich vor den Lawinen in die Luft zu retten, den Motor anließ. Die Rotoren bewegten sich zunächst gleichmäßig, fingen dann aber zu stottern an. Er machte noch einen Anlauf, um die Rotoren in Bewegung zu setzen, während sich im Inneren der Maschine ein Dutzend Ägypter türmten. Als der Pilot das Steuer übernahm, versuchte Zawas mit dem Fernglas abzuschätzen, wie viel Zeit ihnen ungefähr noch blieb. Eine Eiswand rückte in den Brennpunkt. Sie war drauf und dran, den Hubschrauber zu zerschmettern und sie alle zu einem blutigen Brei aus Metall und Fleisch zu zermalmen. Zawas blieb das Herz stehen, als er sah, wie die schäumende Lawine unter den Tempel fegte und zum Vorsprung hochschoss. Dann hob sich der Hubschrauber in den Himmel. *** Serena war es in der Sternenkammer der P4 heiß. Sie kletterte an dem Seil, mit dem Conrad am Tag zuvor an die Oberfläche gestiegen war, um einen ersten Blick über die Stadt zu werfen, den Südschacht hoch. Sie schaute zurück und sah, dass Conrad immer noch weit unten war und sich mit einer Hand hochzuziehen versuchte. Die andere Hand im blutigen Druckverband war nicht zu gebrauchen. Wasser sprudelte um seine Füße. In Serena stieg Panik auf. »Conrad!«, rief sie. Sie stützte sich mit den Beinen an der Schachtwand ab und griff nach seinem rechten Arm. Ächzend zog sie ihn hoch, aber seine Hand rutschte weg, und sie hörte, wie es platschte. »Nimm das hier«, rief er ihr zu und wedelte mit einer langen roten Bandage. Es war sein Verband, den er abgewickelt hatte. Sie wand das eine Ende um ihr Handgelenk und streckte dann den Arm aus, sodass Conrad sich das andere Ende um die Hand binden konnte. Ihr schmerzte der Rücken beim Ziehen, und sie schrie vor Anstrengung, aber schließlich hatte sie ihn in den Schacht hochgehievt. »Danke.« Er atmete schwer. »Los, weiter.« Am Ende des Schachts war ein Stück blauer Himmel zu sehen. »Ob uns das alles überhaupt etwas bringt?«, sagte sie außer Atem. »Da draußen ist nichts. Kein Funk, nichts, um irgendwie Hilfe zu holen.« »Es ist unsere einzige Chance. Das geothermische System kommt allmählich zum Stillstand. Die Hitze wird wahrscheinlich alles um uns herum zum Schmelzen bringen und das Wasser durch die hydraulischen Leitungen pumpen. Aber dann wird es gefrieren. Alles wird zu Eis.« Nun begriff Serena. »Das Mädchen im Eis. So wird es uns auch gehen.« »Und genau das will ich verhindern. Hier, nimm.« Er gab ihr den blutigen Verband. »Das ist deine Signalflagge. Los jetzt! Ich bin direkt hinter dir.« Widerstrebend nahm sie den blutigen Fetzen und kletterte dann weiter den Schacht hoch. Conrad fiel weiter zurück. Gelegentlich rief sie nach ihm, und er antwortete, aber das Echo wurde immer schwächer. Schließlich erreichte sie den Ausstieg. Mit eiskalten Fingern klammerte sie sich an den Rand. Der Wind heulte, und die Temperatur fiel genauso plötzlich, wie sie gestiegen war. Sie zog sich nach oben. Draußen bot sich ihr ein phantastischer, atemberaubender Anblick. Die gesamte Eisschüssel um die Stadt herum fiel in sich zusammen. Das Eis taute und ergoss sich in einen riesigen See, der die tiefer liegende Stadt überflutete. Noch waren die Spitzen der größeren Tempel und Obelisken zu sehen. Es würde nur noch einige Minuten dauern, bis das Wasser auch sie erreichte. »Bitte nicht, lieber Gott.« Sie blickte zu Conrad hinunter. Aber er war nicht mehr da. »Conrad!«, schrie sie voller Panik. Keine Antwort. Sie starrte den dunklen Schacht hinunter und sah etwas flackern: Wasser, das zu ihr hochstieg. Aber keine Spur von Conrad. *** Conrad, der sich nicht mehr länger halten konnte, rutschte den Schacht zurück in die Sternenkammer der P4, die bis zur Decke mit Wasser gefüllt war. Verzweifelt nach Luft ringend, klammerte er sich im Dunkeln an die Steindecke, bis er wieder eine Schachtöffnung fand. Er spürte, wie das Wasser ihn umschloss. Ein gewaltiger Sog ergriff seine Beine und zog ihn den großen Gang der Pyramide hinab in eine Art Rohr. Er konnte die Luft nicht mehr länger anhalten, gab nach und spürte sofort, wie ihm das Wasser in die Lunge drang. Er war drauf und dran, ohnmächtig zu werden, als er gegen ein Steingitter schlug. Das Wasser spülte über ihn und floss in dem Rohr ab. Völlig durchweicht rang er nach Luft, klammerte sich am Gitter fest und zog sich nach oben. Er raste den Tunnel hinab und versuchte sich zu orientieren, wusste aber, dass es hoffnungslos war. Er war völlig durcheinander und machte sich schreckliche Sorgen um Serena. Ihm tat alles weh. Er schleppte sich durch das Wasser, das ihm bis zu den Knöcheln reichte und immer höher stieg. Dann hörte er, wie hinter ihm etwas rumorte. Er brauchte sich nicht erst umzudrehen, um zu wissen, was da auf ihn zukam. Er schlang die Arme fest um sich und atmete tief ein. Ein Wasserschwall erfasste ihn und schwemmte ihn einen kleineren Tunnel hinab. Beim Luftholen schluckte er ständig Wasser und fiel in der Strömung immer wieder hin. Conrad hielt sich, so gut er konnte, merkte aber, dass er kurz davor war, das Bewusstsein zu verlieren. Er konnte sich nirgends festhalten und gab schließlich alle Versuche auf. Die Dunkelheit überwältigte ihn, und er merkte gerade noch, wie er durch einen Tunnel rauschte. Plötzlich wurde er ans Tageslicht befördert. Beim Austritt aus der Röhre wurde er von der Wasserfontäne fast 15 Meter in die Luft geschleudert. Mit voller Wucht landete er auf dem bebenden Boden. Wasser und Wind zerrten an ihm. Unfähig, sich zu bewegen, wurde er von den Erschütterungen und dem ohrenbetäubenden Krachen der Eisberge, die auf die Stadt herabstürzten, erfasst. Er war völlig durchnässt, konnte aber nirgends Schutz finden, weder draußen noch drinnen: Alles, was nicht mindestens zwei Meilen aus der Ebene emporragte, wurde überschwemmt und war im Begriff, zu Eis zu werden. Mit Schrecken musste er an die Eisleichen denken, die er beim Abstieg in die P4 gesehen hatte. So wollte er auf keinen Fall enden. Irgendwie schaffte er es, auf alle viere zu kommen und durch das steigende Wasser zu kriechen. Er war noch nicht weit gekommen, da spürte er, wie die Temperatur bei dem peitschenden Wind sank. In der kalten, feuchten Luft zitterte er vor Kälte. Er bewegte sich langsamer und sah eine aufgedunsene, blau angelaufene Leiche auf sich zutreiben. Als sie an ihm vorbeikam, erkannte Conrad, dass es sich um Colonel O'Dell von der Eisstation Orion handelte. Der Schrecken im Gesicht des leblosen Körpers motivierte ihn, wieder schneller zu machen. Jetzt ging ihm das Wasser schon bis zu den Knien. Die Berge um die Stadt herum schoben sich unter dem ungeheueren Druck wie Blechdosen zusammen. Die Schulter tat immer mehr weh, bis die stechenden Schmerzen schier unerträglich wurden. Mit der heilen Hand stützte er sich ab und kam taumelnd auf die Beine. Im Wasser sah er etwas Farbiges. Es war ein zerstörter roter Hägglunds, ein Relikt der Eisstation Orion. Zum Fahren war er nicht mehr zu gebrauchen, aber vielleicht bot ihm das Führerhaus ja den zum Überleben notwendigen Schutz. Plötzlich neigte sich der Boden gefährlich, und Conrad schlug mit dem Kopf voraus längelang hin. Er blickte hoch und sah eine 15 Meter hohe Wasserwand auf sich zudonnern. Mit offenem Mund ergab er sich dem Schauspiel. Vor einer solchen Naturgewalt konnte man sich einfach nicht in Sicherheit bringen. Ihm wurde klar, dass es an der Zeit war, zu sterben. Er musste an Serena denken, und mit letzter Kraft streckte er den Arm nach der Tür des Hägglunds aus und drehte den schwarzen Griff, bis sich die Luke öffnete. Dann kam das Wasser. Zunächst waren es nur ein paar Rinnsale. Dann ein wahrer Sturzbach. Er hievte sich hinein und schaffte es gerade noch, den Sicherheitsgurt anzulegen und die Tür zu schließen, bevor die Wand auf den Hägglunds einstürzte und das Fahrzeug sich in einem Kessel voll strudelndem Eiswasser verlor. Tagesanbruch 37 plus 1 Stunde Serena befand sich an der Öffnung des südlichen Sternenschachts. Ihr Blick von der Spitze der P4 richtete sich auf den stürmischen Himmel. Ein Whiteout drohte. In der Ferne lagen dichte Schneewolken über der Eiswüste, und am fernen Horizont leuchteten Blitze auf. Über sich hörte sie ein bekanntes Surren. Sie konnte es nicht fassen, aber im stürmischen Himmel über ihr schwebte ein Black-Hawk-Hubschrauber des US-Militärs. Sie wedelte wild mit den Armen. Wie aus einem Traum kam eine Strickleiter herunter, und sie klammerte sich sofort daran fest. Sie blickte noch einmal den dunklen Schacht hinab und sah ein Schimmern. Sie stutzte und schaute genauer hin. Es war Wasser, das wie in einem Geysir nach oben drängte. Sie zerrte an der Strickleiter und wurde fortgetragen, da schoss auch schon ein Wasserstrahl in die Höhe und verfehlte den Hubschrauber nur knapp. Ein amerikanischer Soldat hievte sie in den Black Hawk hinein. An den Mienen erkannte sie, dass die Besatzung ziemlich verblüfft war, ›Mutter Erde‹ zu sehen. Fast so geschockt wie beim Anblick der Trümmer unter ihnen. Der Oberbefehlshaber stellte sich als Admiral Warren vor und rief dem Piloten gegen das Maschinengeheul und das tosende Wasser etwas zu. »Fliegen Sie hier raus!«, befahl Warren. »Nein«, sagte Serena mit klappernden Zähnen. »Wir müssen erst Conrad finden, Doktor Conrad Yeats. Er ist noch da unten.« Warren starrte sie an. »Meinen Sie etwa General Griffin Yeats?« »Nein, seinen Sohn.« Warren blickte zum Piloten hinüber, aber der schüttelte nur den Kopf. »Glauben Sie mir, jetzt ist niemand mehr da unten.« Der Black Hawk drehte ab. »Nein!« Serena versuchte nach vorn zu gelangen und das Steuer zu greifen, aber vier Soldaten hielten sie zurück und schoben sie zu dem Arzneikasten hin. Sie wollte wieder aufstehen, aber nun verließen sie ihre Kräfte. Der Arzt gab ihr eine Spritze in den Arm. »Beruhigen Sie sich, Schwester. Sie haben einiges mitgemacht«, sagte Warren und legte ihr eine Jacke um den zitternden Körper. Sie fühlte sich schwindelig und wie benommen. Sie strich sich nasse Haarsträhnen aus dem Gesicht und sah zum Fenster hinaus. Das strudelnde Wasser hatte die Stadt fast verschluckt. Nur die Spitze der P4 ragte noch aus der dunklen Tiefe empor. Als Kind hatte sie sich oft vorgestellt, wie es gewesen sein musste, als sich das Rote Meer für die Kinder Israels geteilt hatte, und wie es später wieder zusammenkam, um die Pferde und Wagen des Pharaos zu ertränken. Genau dieses Bild hatte sie jetzt vor Augen. Sie betete zu Gott, Conrad möge sich in Sicherheit befinden, obwohl sie wusste, dass dem nicht so war. In ihrem Delirium stellte sie sich vor, wie sie nach ihm suchte: Sie würden ihn entdecken, er würde durch die Eistrümmer stolpern, er hätte auf wundersame Weise überlebt. Er würde aus dem Nebel, weißer als Schnee, auftauchen, seine Augenbrauen und Haare wären ganz weiß, fast leuchtend, als käme er gerade aus dem glänzenden Schleier des Heiligsten aller Heiligtümer. Die Amerikaner müssten landen. Sie würde auf Conrad zulaufen und ihn umarmen. Er ginge mit ihr zum wartenden Hubschrauber zurück, seine Vergangenheit für immer hinter sich lassend. Sie würden sich ganz fest halten, und Schneeflocken fielen wie Sterne um sie herum. Aber Conrad war nicht da, stellte sie bitter fest. Und Gott erhörte ihre Gebete nicht immer so, wie sie es wollte. Als der Hubschrauber wegflog, sah sie hinab auf die flache Spitze der P4, die kaum noch aus dem Wasser ragte. Es war, als würden sie jetzt über die Südsee fliegen. Keine Spur von einer Stadt – oder von Conrad. Alles verschwunden, wie weggefegt, als wäre es niemals da gewesen. Warren rief wieder irgendetwas. Bei dem Krach der Rotoren und dem Heulen des Windes konnte sie nicht viel davon aufschnappen. Dann hing er plötzlich in der offenen Tür. Er deutete auf etwas. Der Black Hawk schwenkte in die angegebene Richtung ein. Serena sprang sofort hoch, hielt sich an Warren fest und blickte hinaus. Oben auf der P4 stand eine einsame Gestalt. Der Mann, der wie wild mit den Armen wedelte, trug eine UN-Uniform. »Das ist er!«, schrie sie, so laut sie konnte. »Runter!«, befahl Warren dem Piloten, der gegen den Sturm zu kämpfen hatte. Serena griff nach Warrens Fernglas. Der Hubschrauber sank, und als sie nur noch zehn Meter entfernt waren, blickte der Mann zu ihnen auf. Bestürzt stellte sie fest, dass es nicht Conrad war. Es war einer der Ägypter, der eine Maschinenpistole im Anschlag hatte. »Zurück, Admiral!«, rief sie. »Wir kriegen ihn, keine Sorge«, sagte Warren. Serena blickte sich um und sah zwei Scharfschützen, die ihre Gewehre auf den Mann richteten. »Ich will ihn lebendig.« Serena spürte einen Luftzug an ihrem Ohr und sah gleich darauf, wie der Ägypter von einer Kugel in die Schulter getroffen wurde und ins Wasser klatschte. Warren nickte zufrieden. »Dichter ran.« Als der Hubschrauber jedoch näher kam, richtete sich der Ägypter im Wasser wieder auf und fing an, wie wild um sich zu schießen. Eine Kugel erwischte Warren, der an der offenen Luke stand, im Genick, und er fiel auf Serena; er war tot. Nur mit Mühe konnte sie seinen schweren Körper wegstoßen. Sie rief um Hilfe, aber als sie über die Schulter blickte, sah sie einen der amerikanischen Soldaten umfallen. Auch er war getroffen worden. Gleichzeitig hatten die Schüsse aus dem Maschinengewehr das Cockpit durchlöchert. Serena hörte den Piloten aufschreien. Der Black Hawk machte einen Ruck nach vorn. Serena hielt sich an den Spanten fest. Dann gewann der Hubschrauber abrupt an Höhe, und sie wurde durch die offene Luke hinausbefördert. Sie spürte, wie sie ins Leere flog. Dann klatschte sie oben auf der P4 auf. Sie rollte sich auf den Rücken und sah hoch. In zehn Meter Höhe versuchte sich der Black Hawk zu fangen, drehte scharf nach links und explodierte dann in einem riesigen Feuerball. Brennende Trümmerteile stoben wie Granatsplitter durch die Luft und nahmen ihr jegliche Hoffnung auf Rettung. Bis auf die Knochen durchweicht, rappelte sie sich auf. Sie stand dem verletzten Ägypter gegenüber. Blut spritzte aus seiner Schulter. Er war der letzte Überlebende aus Zawas Armee. Die auf sie gerichtete Kalaschnikow in seiner Hand zitterte. Sie hob nicht einmal die Arme, als er mit einem verzweifelten Gesichtsausdruck auf sie zukam. Oder blickte er über ihre Schulter hinweg auf etwas anderes? Sie drehte sich um und sah einen anderen Hubschrauber auf sie einschwenken. Die Maschine wies die Zeichen der Vereinten Nationen auf. Schüsse aus schweren Maschinengewehren flogen durch die Luft, und die Kugeln peitschten das Wasser auf, sodass der Ägypter rückwärts über den Rand der P4 in die Wassermassen stürzte. Der Helikopter drehte eine Runde, dann wurde eine Leiter hinuntergelassen. Serena packte die erste Sprosse und kletterte hoch. Oben half ihr eine starke Hand hinein. Sie sah direkt in Oberst Zawas' Gesicht. In der rechten Hand hielt er eine Automatik, die er auf sie gerichtet hatte. Serena war ganz benommen von dem Schock, aber Zawas lächelte, während ihm der Wind die Kappe vom Kopf wehte. »Sie halten, was Sie versprechen, Schwester Serghetti.« Er hielt ihre grüne Thermosflasche hoch. »Jetzt, wo ich die Sonchis-Karte besitze, wird mich nichts mehr davon abhalten, eines Tages zurückzukommen, um mein Werk zu beenden. Wie ich schon erwähnte, wird die Geschichte von den Siegern geschrieben.« Und wenn schon, dachte sie. Mit einem Blick stellte sie fest, dass sich nur Zawas und der Pilot an Bord befanden. »Also, Oberst, haben Sie die Thermosflasche im Uhrzeigersinn oder entgegen zugeschraubt?« »Im Uhrzeigersinn.« Zawas sah sie misstrauisch an. »Warum?« Sie lächelte und sagte: »Ach, nichts.« Zawas war sichtlich verunsichert. Er senkte seine Pistole, um die Flasche aufzudrehen. Serena nutzte die Ablenkung, um ihm die Waffe aus der Hand zu treten. Sie verfehlte die Pistole, traf aber seinen Arm. Ein Schuss löste sich. Der Helikopter schwenkte hoch und warf Zawas aus dem Gleichgewicht. In der Absicht, sie zu töten, schoss Zawas noch zwei weitere Kugeln, die aber nur die Windschutzscheibe trafen. Serena sah zum Piloten hinüber und stellte fest, dass er getroffen worden war. Sie machte einen Satz nach vorn, schob den Mann zur Seite und übernahm das Steuer. Sie blickte nach hinten und sah gerade noch, wie sich der wütende Zawas wieder aufrichtete. »Oberst!«, rief sie. »Können Sie einen Hubschrauber fliegen?« Zawas runzelte die Stirn. »Natürlich.« »Ich auch.« Sie ging abrupt in die Querlage, und Zawas stürzte aus der Türöffnung. Er fiel wie ein Stein, wobei er wie wild mit den Armen fuchtelte, bis er auf das strudelnde Wasser auftraf, wo er sofort verschwand. Serena holte tief Luft und brachte den Hubschrauber wieder ins Gleichgewicht. Eine schnelle Überprüfung der Cockpitanzeigen sagte ihr, dass sie mit ein bisschen Glück genügend Treibstoff hatte, um in Funknähe zur Station McMurdo auf festem Eis zu landen. Allerdings wollte sie unbedingt noch einen letzten Blick nach unten werfen, bevor sie weiterflog. Sie suchte das Eis unter sich ab, während sie mit den Tränen kämpfte. Die Stadt war verschwunden, und ihr Treibstoffpegel sank stetig. Als sie im stürmischen Himmel über das gefrierende Wasser kreiste, betete sie für Conrad Yeats' Seele. Dann schwenkte sie in Richtung McMurdo, der Station auf dem Ross-Schelfeis, ein und flog los. 38 Der Tag danach Um sechs Uhr Weltzeit (UTC) führte Major General Lawrence Baylander, ein kampferprobter Neuseeländer, seinen Hägglunds-Konvoi mit den UNACOM-Waffeninspekteuren um eine Spalte im Eis herum ins Zielgebiet. Auf dem windgepeitschten Terrain würden sie keinerlei Spuren von amerikanischen Atomtests finden. Radioaktivität, unterirdische Anlagen und Ähnliches würde man nur durch Strahlungs- und Wärmemessungen und mittels seismischer Geräte erfassen können. Selbst dann würden sie im Eiskern Probebohrungen durchführen müssen, dachte er. Hätten sie doch nur mehr Zeit. Aber Baylander hatte seine Such- und Rettungsmannschaften längst zu weit vordringen lassen, stellte er fest, und Vorräte und Zeit wurden allmählich knapp. Er war schon zu dem Schluss gekommen, dass sie ihre Kettenfahrzeuge zurücklassen mussten, um dann zurückzufliegen, sobald die Unterstützung aus der Luft da war. So wie es um die Geldmittel in der internationalen Politik stand, war ihm klar, dass sie nie in dieses Ödland zurückkehren würden. Das Einzige, was er aus dieser Eishölle würde herausziehen können, war die bittere Genugtuung, dass die Amerikaner eine gehörige Tracht Prügel von den Vereinten Nationen einstecken würden. Er merkte, wie ihm die Gelegenheit, die Amerikaner dranzukriegen, zwischen den Fingern zerrann. Erschöpft und gereizt stand er schon kurz davor, ans Basislager zu funken, dass sein Team zur Umkehr bereit sei, als der Konvoi auf ein Hindernis stieß. Anscheinend war der rote Hägglunds, der da aus dem Eis ragte, mit blockierten Ketten in eine Spalte gerutscht. Der Transporter stand mit zerstörtem Führerhaus in leichter Schräglage da. Baylander fluchte und teilte den Konvoifahrzeugen über Funk mit, dass sie anhalten sollten. Während er sich seine maßgefertigten Plastikschneeschuhe anlegte, beschloss er, den Motor laufen zu lassen. Mit einem Ruck riss er dann die Kabinentür auf, sprang nach draußen und bahnte sich mit weit ausholenden Schritten einen Weg durch den hüfthohen Schnee. Mit grimmiger Miene lief er einmal um das Wrack herum und inspizierte es. Hinter der zersprungenen, beschlagenen Windschutzscheibe erregte etwas seine Aufmerksamkeit. Er beugte sich vor, um es genauer zu betrachten. Im Inneren befand sich eine wie im Mutterleib zusammengerollte Gestalt. Ein Erfrorener. Wenn es ein Amerikaner war, hätte er endlich den Beweis. Baylander richtete sich wieder auf und lief zum Führerhaus. Ihm war klar, dass der Türgriff nicht funktionieren konnte, aber er versuchte es trotzdem. Er war wie vermutet festgefroren. Mit seinem Metallstab schlug Baylander das Seitenfenster ein und kletterte dann vorsichtig hinein. Der Mann lag quer über den Ledersitzen. Baylander drehte ihn auf den Rücken. Das kreidebleiche Gesicht hatte einmal einem relativ jungen, gut aussehenden Mann gehört. Baylander starrte eine Weile auf die geisterhafte Erscheinung und beugte sich dann vor, um zu horchen, ob der Mann noch atmete. Er hörte nichts. Baylander knüpfte den Mantel der Leiche auf, worauf eine UNACOM-Uniform zum Vorschein kam. Verdammter Mist, dachte er. Das muss einer von uns sein, von der Mannschaft, die zuerst hier war. Er konnte allerdings nichts finden, was den Mann identifiziert hätte. Um den Todeszeitpunkt festzustellen, sah er sich den Toten genauer an. Lange konnte er noch nicht tot sein, stellte er fest, höchstens 24 Stunden, weil der Körper gerade erst anfing, sich blau zu färben. Erstaunlich, wenn man bedachte, dass er schon eine ganze Zeit lang hier liegen musste. Das Führerhaus hatte dem Inspekteur wohl ausreichend Schutz vor Wind und Wetter geboten. Jedenfalls hatte er weit länger, als Baylander angenommen hätte, überlebt. Er vermutete, dass die letzten Stunden des Mannes eine Mischung aus halber Bewusstlosigkeit, Delirium und dem langsamen Versagen der lebenswichtigen Organe gewesen war. Alles in allem musste es ein ziemlich unangenehmes Ende gewesen sein. Baylander zog seine dicken Handschuhe aus und legte zwei Finger auf die Halsschlagader des Mannes. Zu seiner Verwunderung spürte er einen ganz schwachen Pulsschlag. 39 2. Tag danach Am Nachmittag darauf erwachte Conrad Yeats in einem Einzelzimmer der Krankenstation von McMurdo. Lange Zeit lag er ruhig da und wurde sich erst nach und nach bewusst, dass seine Hände bandagiert waren und seine Schulter sich in einer Schlinge befand. Und in seinem Kopf dröhnte es wie von Paukenschlägen. Mit einer verbundenen Hand betätigte er den Klingelknopf, aber die Navy-Krankenschwester, die hereinkam, beschied ihm lediglich, er solle still liegen bleiben. Also blieb er liegen und rekonstruierte Stück für Stück die Geschehnisse des Tags zuvor bis zum Vormittag. Er nahm einen Stift in seine bandagierte Hand und fertigte eine Zeichnung an. Danach schlief er wieder ein. Als er erneut aufwachte, saß eine Frau an seinem Bett. Sie lächelte. Er sah sie eindringlich an. »Genau wie in den Krankenzimmern früher – ein Bett und eine Schwester«, sagte er und versuchte zu lächeln, was aber ziemliche Schmerzen verursachte. Seine Stimme war kaum lauter als ein Flüstern. »Wie lange sitzt du schon da?« »Erst seit ein paar Minuten«, sagte Serena mit einem warmen Lächeln. Conrad wusste, dass sie nicht die Wahrheit sagte. Als er mitten in der Nacht einmal aufgewacht war, hatte er gesehen, wie sie im Sessel schlief. Er hatte gedacht, es wäre ein Traum gewesen. »Du lebst.« Er hielt ihr die Hand hin, und sie berührte seinen Verband. »Und du auch, Conrad.« »Und was ist mit den anderen?« »Alles in Ordnung.« Eine Träne glänzte auf ihrer Wange. »Das haben wir dir zu verdanken.« »Was ist mit Yeats?« Sie schien sich anzuspannen. »Er dürfte schon am Pluto vorbei sein, könnte ich mir denken.« »Glaubst du, dass das, was er über mich gesagt hat, verrückt war?« Conrad suchte ihren Blick. »Auch nicht verrückter als eine verlassene Stadt unter dem Eis.« Conrad überlegte. »Heißt das, ja, es ist verrückt, oder heißt das, nein, es stimmt?« »Es gibt keine Stadt, Conrad«, sagte sie. »Die ganze Angelegenheit ist abgeschlossen. Ein für alle Mal. Vorbei. Klar?« »Nicht ganz«, sagte er. »Ich habe eine Wahnsinnsentdeckung gemacht, Serena. Schau dir das mal an.« Er zeigte ihr die grobe Skizze, die er von der Sonnenbarke angefertigt hatte. Serena runzelte die Stirn. Sie sah dabei wunderschön aus. »Sag mir jetzt bloß nicht, dass ich das erfunden habe, Serena.« »Nein, Conrad. Ich habe das schon einmal gesehen. Das Washington Monument sah auf der zweihundert Jahre alten Originalzeichnung genauso aus, einschließlich des Rundbaus unten. Der fehlt heutzutage allerdings.« Conrad starrte auf seine Skizze und stellte fest, dass Serena Recht hatte. Er beschloss, möglichst bald nach Washington zu gehen. Der Nachlass seines Vaters befand sich dort, und außerdem würde er ein paar Dinge klären können. Eines dieser ungeklärten Dinge war zum Beispiel die Sache mit den Pentagon-Akten von den DARPA-Behörden. In Conrads Kopf nahm schon eine neue Reise Gestalt an, aber Serena schien das gar nicht zu gefallen. »Conrad, hör mal gut zu«, sagte sie sanft, fast verführerisch. »Du bist ein großartiger Archäologe, aber in allem anderen bist du ein lausiger Amateur. Du wirst nichts veröffentlichen. Überhaupt nichts. Weil es ganz einfach nichts zu veröffentlichen gibt. Kein Zepter des Osiris. Nichts. Das einzige Andenken an unser Wahnsinnsunternehmen ist die Sonchis-Karte, und die werde ich nach Rom mitnehmen, wo sie auch hingehört.« Conrad blickte auf seinen Nachttisch. »Wo ist meine Kamera?« »Welche Kamera?« Er schwieg. »Was ist mit uns?« »Uns wird es nicht geben. Das ist unmöglich. Verstehst du das denn nicht?« Ein schmerzlicher Ausdruck lag in ihrem Gesicht. »Du wirst gar nichts berichten. Du hast keinerlei Beweise. Die Stadt ist verschwunden. Das Einzige, was bleibt, ist unser Wort. Wenn du unbedingt reden willst, wird dir niemand glauben, außer vielleicht ein paar Freunde von Zawas im Nahen Osten, und die werden dann auf dich Jagd machen. Du wärst das Opfer deines eigenen Größenwahns. Du kannst froh sein, dass du am Leben bist.« »Und was ist mit dir?« »Ich bin eine der Direktoren der Australian Antarctica Preservation Society und Beraterin bei der United Nations Antarctica Commission und untersuche die Verletzungen der Umweltvereinbarungen des internationalen Antarktisvertrags.« »Ist das alles?« »Mein Team hat dich im Eis gefunden«, fuhr sie fort. »Da du der einzige Augenzeuge der angeblichen Ereignisse bist, ist alles, woran du dich erinnerst, höchst willkommen. Ich werde es in meinem Bericht für die Generalversammlung aufnehmen.« »Du sollst also den Bericht schreiben?« Conrad konnte nur müde lächeln. Natürlich. Wer sonst hatte schon das internationale Ansehen oder Engagement bezüglich der Erhaltung dieses riesigen, unberührten weißen Kontinents? Serena erhob sich, um zu gehen. Sie blickte liebevoll auf ihn hinab, aber ihre Körperhaltung drückte Entschlossenheit aus. »Du Glückspilz.« Sie beugte sich über ihn und küsste ihn auf die Backe. »Du hast einen Schutzengel gehabt.« »Bitte, geh nicht weg.« Er meinte es wirklich. Er fürchtete, sie nie wiederzusehen. Sie hatte die Hand bereits an der Türklinke, drehte sich aber noch einmal um. »Lass dir von Mutter Erde einen guten Rat geben, Conrad«, sagte sie tapfer. Er merkte, dass sie mit den Tränen kämpfte. »Geh in die Staaten zurück, vögele mit ein paar von deinen Studentinnen und bleibe bei deinen Uni-Vorträgen und bei deinem billigen Touristenspuk. Vergiss alles, was du hier gesehen hast. Vergiss mich.« »Einen Teufel werde ich tun«, sagte er, als sie die Tür hinter sich schloss. Er blickte ins Leere. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor. Er dachte über Serena nach. Dann kam eine Schwester herein, und der Bann war gebrochen. »Ein Telefongespräch für Sie. Ach ja, der Arzt hat gesagt, dass sie ruhig Kaffee trinken können, wenn Sie wollen. Ich habe ewig gebraucht, bis ich Ihre Thermosflasche gefunden habe.« »Sie hat ausschließlich nostalgischen Wert«, sagte er, als die Schwester die grüne Flasche auf seinen Nachttisch stellte. »Nett, dass Doktor Serghetti sie für mich aufgehoben hat. Ich hoffe, Sie haben sie so wie besprochen ersetzt.« »Ja, ich habe ihr wieder genau so eine eingepackt und dazu das kleine Geschenk von Ihnen hineingesteckt«, sagte sie. »Ich komme gleich mit dem Kaffee zurück.« »Danke«, sagte er, als die Krankenschwester hinausging. Er sah die Thermosflasche nachdenklich an und nahm dann unbeholfen den Hörer zwischen seine verbundenen Hände. Mercedes, die Produzentin von ›Rätsel des Altertums‹ aus Los Angeles, lachte ins Telefon. Ihre letzte Begegnung in Nazca war vergessen und vergeben. »Ich habe gerade die Nachrichten im Internet gesehen«, sagte sie. »Was ist da unten passiert? Ist alles in Ordnung?« Conrad drückte den Hörer an seine unversehrte Schulter. Seltsamerweise war er irgendwie zufrieden. »Mir geht's gut, Mercedes.« »Super. Wann sind Sie wieder einsatzfähig?« Die Tür ging einen Spalt auf, und Conrad sah, dass draußen zwei Militärpolizisten der Navy Wache standen. »Lassen Sie mir noch ein paar Tage Zeit. Warum fragen Sie?« »Die Reißer im Fernsehen sind jetzt vorbei, und die Sender brauchen Lückenfüller. Wir haben uns eine Sondersendung direkt auf Ihrer Wellenlänge ausgedacht. ›Luxor‹ – wie hört sich das an?« Conrad seufzte. »Schon da gewesen, alles abgehakt.« »Stellen Sie sich doch mal vor, Sie stehen auf den Überresten einer Sklavenstadt«, sagte Mercedes. »Sie enthüllen der Welt, dass der Exodus tatsächlich stattgefunden hat. Als Beweis haben wir sogar eine Statuette von Ramses II. aus der 19. ägyptischen Dynastie. Sie kriegen das doppelte Honorar. Sie müssen nur die Sache mit den Ägyptern wieder ausbügeln. Wann können Sie anfangen?« Conrad überlegte. »Nächsten Monat«, antwortete er schließlich. »Ich muss erst mal nach Washington.« »Klasse. Übrigens, diese Antarktis-Geschichte. Kann man da was draus machen?« »Nein, Mercedes«, sagte Conrad langsam. »Nichts zu holen.« 3. Tag danach 40 Rom Bei Eintritt der Dunkelheit landete Serenas Maschine aus Sydney in Rom. Sie wurde von Benito mit der schwarzen Limousine abgeholt und zur Berichterstattung beim Papst in den Vatikan gebracht. Fast bis drei Uhr morgens sprachen sie unter vier Augen. Schließlich legte Seine Heiligkeit ihr die zitternden Hände auf die Stirn und sprach ein kurzes Gebet. »Gut gemacht«, sagte er einfach. »Die Stadt ist verschwunden, die Amerikaner kennen nur die halbe Wahrheit und werden sie für sich behalten. Und die Vereinten Nationen können ihre Kräfte jetzt für produktivere Dinge einsetzen. Da es Oberst Zawas nun nicht mehr gibt, ist das ganze Beweismaterial vernichtet.« Im Großen und Ganzen stimmte das, dachte Serena. Aber ihre Erinnerung war trotzdem noch da. Sie hatte ihre Zweifel, dass sie die jemals würde auslöschen können. Der Papst blickte ihr in die Augen. »Und was ist mit Doktor Yeats?« »Er wird nichts preisgeben. Und wenn, wird ihm niemand glauben. Ich habe seine Digitalkamera und die Sonchis-Karte.« Serena holte die grüne Thermosflasche aus ihrem Rucksack. Der Papst beugte sich erwartungsvoll nach vorn, als sie die Ummantelung umgriff. Aber sie runzelte auf einmal die Stirn. Es gab keine äußere Hülle. Es war eine andere Thermosflasche. »Stimmt etwas nicht?«, fragte der Papst. Serena dachte an ihren Besuch an Conrads Bett und an den Abschied mit Tränen in den Augen. »Er hat sie gestohlen!« Ein breites Grinsen legte sich über das kantige Gesicht des Papstes, und er fing laut an zu lachen. So hatte sie ihn noch nie lachen gehört. Er musste sogar husten, weshalb sie ihm behutsam auf den Rücken klopfte. Serena war unklar, was da so lustig sein sollte. »Ich verspreche, dass ich Mittel und Wege finden werde, um die Karte zurückzuholen.« Der Papst, der jetzt wieder normal atmete, winkte mit seiner knotigen Hand ab. »Genau das will er doch erreichen, Schwester Serghetti.« »Schwester?«, wiederholte sie. »Heiliger Vater, ich bin …« »… wieder aufgenommen, wenn Sie das möchten.« Serena überlegte. Das war ein unglaubliches Angebot, eine zweite Chance, wie sie sich in ihrem Leben nie wieder ergeben würde. »Aber warum, Heiliger Vater? Warum ausgerechnet jetzt?« »Ich lebe nicht mehr lange, Schwester Serghetti. Und ich weiß nicht, wer mein Nachfolger sein wird. Aber solange Gott mich auf Erden behält, werde ich Ihnen alle Privilegien einer solchen Wiedereinsetzung zukommen lassen, einschließlich des freien Zugangs zu den Archiven des Vatikans.« »Zu den Archiven?«, sagte sie erstaunt. Nur zwei oder drei Menschen – alles Männer – kamen in den Genuss dieses Privilegs. Der Papst war bereit, die in Ehren gehaltenen – und verfluchten – Geheimnisse mit ihr zu teilen. »Sie führen mich in Versuchung, Heiliger Vater. Sie locken mich mit Erkenntnis, genau wie die Schlange im Garten Eden.« »Ich versichere Ihnen, Schwester Serghetti, das ist keine Versuchung«, sagte der Papst. »Das ist ein Vertrauensbeweis. Ein Geschenk. Und wenn ich Sie wäre, würde ich es annehmen. Mein Nachfolger wird möglicherweise nicht so entgegenkommend sein wie ich.« Serena verstand, zögerte aber. Offiziell wieder Braut Christi zu sein würde sie für immer und ewig von Conrad fern halten, und die Möglichkeit, ihre Beziehung wieder aufzunehmen, wäre völlig ausgeschlossen. Der Papst schien ihren inneren Konflikt zu spüren. »Sie lieben Doktor Yeats«, sagte er. »Ja«, antwortete sie, ohne zu zögern, war aber selbst erschrocken, das Wort aus ihrem Mund zu hören. »Dann wissen Sie auch, dass er mehr als je zuvor in Gefahr ist.« Serena nickte. Sie hatte es die ganze Zeit, seit sie die Antarktis verlassen hatte, gespürt. »Sie werden alle Kräfte des Himmels und der Erde brauchen, um ihn zu beschützen«, sagte der Papst. »Conrad zu beschützen? Wovor?« »Alles zu seiner Zeit, Schwester Serghetti, alles zu seiner Zeit. Im Augenblick haben wir dringlichere Aufgaben.« Was konnte dringlicher sein?, fragte sie sich. Der Papst zeigte ihr die Titelseite der International Herald Tribune. »›Vier Nonnen wurden von Hindu-Nationalisten in Sri Lanka vergewaltigt und ermordet. Sie hatten Verbindung zur Regierung‹«, las er ihr vor. »Die Gewalttätigkeiten gegen die Moslems haben jetzt wieder auf Christen übergegriffen. Am Morgen werden Sie als Erstes dorthin fliegen und das tun, was Sie am besten können: unsere Sache vor der Weltöffentlichkeit verteidigen.« »Aber jetzt ist schon Morgen, Heiliger Vater.« »Ja, aber Sie sind sicher müde. Ruhen Sie sich noch ein paar Stunden aus.« Serena nickte. Die Belange der realen Welt waren allzu erschütternd. So erschütternd, dass sie selbst die Gedanken an eine vergangene Kultur unter dem Eis verdrängten. Es gab größere Schlachten, die es zu schlagen galt, stellte sie fest, Schlachten gegen Hass, Armut und Krankheit. »Ich werde Ihrem Wunsch entsprechen«, sagte sie und überlegte kurz. »Zunächst werde ich nach Sri Lanka fliegen, um die dortigen Gewalttätigkeiten zu dokumentieren. Dann gehe ich nach Washington, wo ich die Angelegenheit vor den amerikanischen Kongress bringen werde, bevor ich mich an die Vereinten Nationen wende.« »Ausgezeichnet.« Sie ließ sich von Benito in ihre Wohnung fahren, von wo aus sie über die Piazza del Popolo blicken konnte. Es war ein einfaches Zimmer mit nur einem Bett und einem Nachttisch. Sie fühlte sich in ihrer eigenen Welt, in der sie damals ihr Gelübde abgelegt hatte, wohler. Neben der Verandatür, die einen blassen Mond einrahmte, hing ein Kruzifix an der Wand. Im frühen Morgenlicht kniete sie sich vor das Kruzifix. Als sie zu der Christusfigur aufsah, gestand sie Gott all ihre Arroganz: dass sie geglaubt hatte, mehr über Leiden und Verlust zu wissen als Er, und sie dankte ihm, dass er durch Jesus die Sünden der Menschheit gesühnt hatte. Dann trat sie auf den Balkon hinaus und blickte über die Piazza auf den ägyptischen Obelisken, der vor 2.000 Jahren von Kaiser Augustus nach Rom gebracht worden war. Das Denkmal erinnerte sie an einen anderen Obelisken, an einen, der in der Antarktis in einer Pyramide zwei Meilen unter dem Eis verborgen war. Unwillkürlich fragte sie sich: War es wirklich die erlösende Kraft Jesu am Kreuz gewesen, die den Fluch der alten ›Gottessöhne‹ gebrochen und die Welt gerettet hatte? Oder war es der selbstlose Akt eines Gottlosen wie Conrad gewesen, der seinen eitlen Ehrgeiz aufgegeben und den Obelisken in die Sternenkammer zurückgebracht hatte? Sie gelangte schließlich zu dem Schluss, dass der letzte Schritt ohne den ersten nicht hätte geschehen können. Wie sie so dem fröhlichen Verkehrslärm der Stadt, die niemals zur Ruhe kam, lauschte, griff sie in ihre Hosentasche und zog eine Haarlocke heraus, die sie ihm abgeschnitten hatte. Irgendwann einmal, wenn sie sich davon trennen konnte, würde sie sie im Labor analysieren lassen. Einstweilen betete sie für die unsterbliche Seele von Conrad Yeats, wer auch immer er war, und dafür, dass ihr vergeben würde. Im Innersten ihres Herzens wusste sie nämlich, dass sie sich auf die eine oder andere Weise wiedersehen würden. Danksagungen Ich bin meinem Agenten Simon Lipskar, der von Anfang an an mich geglaubt hat, unendlich dankbar, dass er diesen Roman veröffentlicht und ihn mehr Lesern auf der ganzen Welt zugänglich gemacht hat, als es ein Erstlingsroman normalerweise verdient. Vielen Dank auch meiner Lektorin, Emily Bestier, die das alles erst ermöglicht hat. Mein Dank gilt auch dem Board of @lantis Interactive, Inc. und den vielen tausend Internet-Lesern aus allen sieben Kontinenten – einschließlich der Antarktis –, die dazu beigetragen haben, das ursprüngliche eBook ganz oben auf die Bestsellerliste bei Amazon zu setzen. Für das geduldige Zuhören und das ausgezeichnete Fachwissen auf dem Gebiet der Archäologie bin ich folgenden Personen zu großem Dank verpflichtet: dem bedeutenden Archäologen Thomas R. Pickering, ehemaliger Under Secretary of State for Political Affairs im U. S. State Department; Dr. Zahi Hawass, zuständiger Direktor für die Pyramiden in Gise bei der ägyptischen Altertümerverwaltung und weltweit führende Autorität für die Cheopspyramide; und Dr. Kent Weeks, Professor für Ägyptologie an der American University in Kairo und Leiter des Theban Mapping Project. Vielen Dank für Ihre Zeit und Ihre ermutigende Unterstützung. Alle Irrtümer und Ausschmückungen in diesem Roman gehen natürlich einzig und allein auf mein Konto. Mein Dank geht auch an das Bureau of Oceans and International Environmental and Scientific Affairs des State Department; das U. S. Center for Polar Archives, Washington, D. C; an die U. S. Naval Support Force, Antarctica; an die Besatzung des Flugzeugträgers U.S.S. Constellation; und an alle Mitarbeiter verschiedener Regierungsgeschäftsstellen, die mich gebeten haben, nicht namentlich als Quelle heikler Informationen genannt zu werden. Diese Institutionen und Personen haben mir wertvolle Einblicke in die Geopolitik der Antarktis verschafft. Ich schulde der wissenschaftlichen Arbeit von Caltech-Seismologen Egill Hauksson, Paul Richards vom Lamont-Doherty Earth Observatory der Columbia University und Geophysiker Raymond Jeanloz der UC Berkeley großen Dank. Sie alle haben mir geholfen, den wackligen Boden unter den Füßen nicht zu verlieren. Folgenden Autoren möchte ich meinen Dank für ihre einfallsreichen Beiträge über Atlantis, den verlorenen Kontinent, aussprechen und für die astronomischen Daten der Pyramide von Gise und der Tempel in Südamerika: Rand und Rose Flem-Ath, Colin Wilson, Graham Hancock und Robert Bauval. Ich danke William J. Fulco, S. J. Doktor an der Loyola Marymount University in Los Angeles, für die erhellenden Auskünfte über die internationalen und geistigen Zusammenhänge in der Archäologie. Mein persönlicher Dank gilt meinem Freund und Mentor James N. Frey, dem besten Literatur-Coach in Amerika, der mich ermutigt hat, einen verdammt guten Roman zu schreiben. Dass er genau so geworden ist, wie er ist, egal, wie schrecklich, verdanke ich meinem guten Freund, dem unermüdlichen Meinungsforscher George Barna von der Barna Research Group. Für die unzähligen Geschäftsessen danke ich Doug Lagerstrom. Schließlich möchte ich noch meiner Frau, Laura Greanias, danken, Chef-Nachrichtenredakteurin der Los Angeles Times und meine inoffizielle Lektorin. Auch wenn die Erde vergeht und die Berge ins Meer stürzen, werde ich dich immer lieben.